Transkript
FORTBILDUNG
Update zur Medikamentenallergie
Schwere Hautreaktionen und ihre besonders verdächtigen Auslöser
Genetische Marker können neuerdings zur Prä-
vention schwerer Hautreaktionen auf Arznei-
mittel herangezogen werden. Bei der Beurteilung
der verschiedenen schweren Hautreaktionen mit
Blasenbildung, Pustelbildung oder systemischer
Organbeteiligung sind fundierte Kenntnisse der
am meisten verdächtigen Auslöser und der übli-
cherweise beobachteten Latenzzeiten gefragt. In
gewissen Situationen kann eine Desensibilisie-
rung bei Medikamentenallergie erwogen wer-
den. Darüber sprachen Experten an der Tagung
DDG KOMPAKT 2012 in Berlin.
Prof. Dr. Hans Merk, Universitäts-Hautklinik, RWTH, Aachen, ging auf neue Entwicklungen ein, die in Richtung einer personalisierten Medizin verlaufen. Aufgrund genetischer Marker ist es möglich geworden, die medikamentöse Therapie so zu wählen, dass schwere bullöse Hautreaktionen vermieden werden. Als wesentliche genetische Marker für das Risiko schwerer bullöser Arzneimittelreaktionen wurden in den letzten Jahren HLA-Assoziationen nachgewiesen. Bei bestimmten ethnischen Gruppen sind diese genetischen Marker mit dem Auftreten der schweren allergischen Hautreaktionen assoziiert. Bei Kaukasiern, die mit Abacavir behandelt werden, kommen schwere bullöse Hautreaktionen fast ausschliesslich bei Patienten mit dem HLA-Allel B*5701 vor. Deshalb ist eine entsprechende HLA-Bestimmung vor dem Einsatz von Abacavir erforderlich. Bei Kaukasiern, die Carbamazepin erhielten, wurde eine Assoziation von bullösen Hautreaktionen und von Hypersensitivitätssyndrom mit dem HLA-Allel A*3101 festgestellt (1). Die Prävalenz dieses Allels beträgt in Nordeuropa 2 bis 6 Prozent. Bei vorhandenem HLA-Allel A*3101 nahm das Risiko von Carbamazepin-Hypersensitivitätssyndrom in einer Studie von 5 auf 26 Prozent zu (1). Carbamazepin wird als Antiepileptikum und zur Behandlung der Trigeminusneuralgie und bei bipolarer Störung eingesetzt. Aktuell werde diskutiert, ob vor dem Einsatz von Carbamazepin eine HLA-Bestimmung nötig ist, sagte der Referent. Zu den allergischen Reaktionen kommt es, weil Medikamente wie Abacavir oder Carba-
mazepin sich in besonders günstiger Weise an die entsprechenden HLA-Proteine binden, um dann T-Lymphozyten zu aktivieren.
Welche Medikamente lösen häufig schwere Hautreaktionen aus?
Prof. Dr. Maja Mockenhaupt, Dokumentationszentrum schwerer Hautreaktionen, Universitäts-Hautklinik, Universitäts-Klinikum, Freiburg i. Br., berichtete über häufige Auslöser von schweren, lebensbedrohlichen Arzneimittelreaktionen, die einen stationären Klinikaufenthalt erforderlich machen. In der Regel treten diese Reaktionen im ersten Behandlungszyklus auf, allerdings nicht bereits nach der ersten Tablette. Es können 3 Gruppen von schweren Reaktionen unterschieden werden: ● Blasenbildende Reaktionen: Stevens-Johnson-Syndrom
(SJS), Toxisch epidermale Nekrolyse (TEN), Generalisiertes bullöses fixes Arzneiexanthem (GBFDE = generalized bullous fixed drug eruption) ● Pustelbildende Reaktionen: Akute generalisierte exanthematöse Pustulose (AGEP) ● Systemische Reaktionen: Hypersensitivitätssyndrom, heute als DRESS bezeichnet (drug reaction with eosinophilia and systemic symptoms)
SJS und TEN haben die gleiche Ätiologie und Pathogenese und unterscheiden sich nur durch die unterschiedlich starke Ausprägung. Auf einem konfluierenden, fleckigen Exanthem entstehen Blasen, die ebenfalls konfluieren. Die grossflächige Hautablösung, die sich bildet, beträgt bei SJS weniger als 10 Prozent der Körperoberfläche, bei TEN mehr als 30 Prozent. Zusätzliche hämorrhagisch-erosive Schleimhautveränderungen können sehr schmerzhaft sein und zu Verklebungen und Verwachsungen führen. Besonders problematisch ist eine Beteiligung der Augen, die manchmal langwierige Folgeschäden hervorruft. Es steht kein spezifischer Laborparameter zur Verfügung, der bei der Sicherung der Diagnose helfen könnte. Die Hautbiopsie zeigt histologisch eine subepidermale Spaltbildung und eine Nekrose des Blasendaches. Dasselbe histologische Bild ist auch bei GBFDE vorhanden. Dabei handelt es sich um eine ausgedehnte multilokuläre Form des fixen Arzneiexanthems. Die Reaktion, die meist bei alten Patienten vorkommt, ist weniger schwer, und die Prognose ist deutlich besser als bei SJS/TEN. Die Auslöser von SJS/TEN und GBFDE sind
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teilweise unterschiedlich. In Deutschland ist Cotrimoxazol der häufigste Auslöser von GBFDE. Die Expositionszeit bis zu den ersten Symptomen beträgt oft nur Stunden bis wenige Tage. Aufgrund von epidemiologischen Studien wurde für eine Reihe von Medikamenten ein hohes Risiko hinsichtlich der Auslösung von SJS/TEN errechnet (Tabelle 1).
SJS/TEN – Arzneimittel mit hohem Risiko (hochverdächtige Auslöser)
• Nevirapin • Lamotrigin • Phenytoin • Allopurinol • Sulfasalazin
• Phenobarbital • Carbamazepin • Oxicam-NSAID • Sulfamethoxazol • andere antibakterielle Sulfonamide
(nach Prof. Dr. Maja Mockenhaupt)
Tabelle 1: Besonders verdächtige Medikamente bei SJS oder TEN.
Ein deutlich weniger stark erhöhtes Risiko besteht bei verschiedenen Antibiotika und bei nichtsteroidalen Antirheumatika vom Phenylessigsäure-Typ (z.B. Diclofenac). Kein erhöhtes Risiko wurde bei einer langen Liste häufig eingesetzter Medikamente festgestellt (z.B. Betablocker, ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten, Diuretika, orale Antidiabetika, Insulin, nichtsteroidale Antirheumatika vom Propionsäure-Typ wie Ibuprofen). In der multinationalen Fall-Kontroll-Studie EuroSCAR, die das Risiko verschiedener Medikamente in Europa untersuchte, betrug die Latenz zwischen dem Start der Medikamenteneinnahme und dem Beginn der Reaktion 4 bis 28 Tage. Weil oft alte Patienten betroffen sind, die gleichzeitig viele verschiedene Medikamente einnehmen, ist es manchmal trotz detaillierter Medikamentenanamnese schwierig, das verantwortliche Medikament zu identifizieren. Bei der AGEP treten – begleitet von Fieber – akut zahlreiche sterile, nicht-follikuläre Pusteln auf, die konfluieren können. Nach wenigen Tagen kommt es zur Desquamation. Oft wird der Zusammenhang mit Arzneimitteln nicht erkannt. Die Letalität beträgt etwa 4 Prozent. Im Labor ist eine Leukozytose mit Neutrophilie feststellbar. Zur Bestätigung der Diagnose werden Pustelausstrich und Hautbiopsie herangezogen. Die Hauptauslöser von AGEP (Tabelle 2) sind fast durchwegs andere Medikamente als die Hauptauslöser von SJS/ TEN. Einzig die antibakteriellen Sulfonamide sind sowohl bei AGEP als auch bei SJS/TEN Hauptauslöser. Es gibt zwei unterschiedliche Zeitfenster bis zur AGEP-Reaktion. Sie tritt bereits kurze Zeit nach dem Einsatz von Antibiotika
AGEP – Arzneimittel mit hohem Risiko (hochverdächtige Auslöser)
• Aminopenicilline
• Diltiazem
• Pristinamycin
• Terbinafin
• Chinolone
• (Hydroxi-)Chloroquin
• antibakterielle Sulfonamide
(nach Prof. Dr. Maja Mockenhaupt)
Tabelle 2: Besonders verdächtige Medikamente bei AGEP.
und antibakteriellen Sulfonamiden auf (Latenz nur 1 bis 2 Tage). Bei den übrigen hochverdächtigen Auslösern (Diltiazem, Terbinafin, Chloroquin) betrug die Latenz dagegen 11 Tage (EuroSCAR-Studie). Nach 2 bis 6 Monaten ist der Epikutantest häufig positiv. Die DRESS-Reaktion beginnt meist mit einem Exanthem (morbilliform, papulös, purpuriform, urtikariell, ekzematös, vesikulös). Typischerweise ist das Gesicht Betroffener geschwollen, die Haut ist gerötet, ödematös, entzündlich infiltriert und juckt manchmal stark. Es ist aber nicht die Haut, die das eigentliche Problem ausmacht, sondern die Organbeteiligung (Hepatitis, interstitielle Pneumonitis, Herzentzündung, Muskelentzündungen). Es kommt auch zu Blutbildveränderungen (Eosinophilie, atypische Lymphozyten) und zu Schwellungen mehrerer Lymphknotenstationen. Pathophysiologisch spielen bei DRESS auch Virusreaktivierungen – besonders der HerpesvirusGruppe – eine wichtige Rolle. Die Histologie ist bei DRESS diagnostisch nicht eindeutig und dient mehr dem Ausschluss anderer Erkrankungen. Aufgrund der europäischen RegiSCAR-Studie ist die Letalität von DRESS glücklicherweise niedrig (2 Prozent). Manche der Auslöser von DRESS sind bereits bei SJS/TEN in der Liste der hochverdächtigen Medikamente anzutreffen, z.B. Carbamazepin und Allopurinol, die zusammen bei 120 DRESS-Patienten 38 Prozent der Reaktionen auslösten. Bei der Auslösung von DRESS ist – z.B. nach Therapiebeginn mit Carbamazepin – im Vergleich zu SJS/TEN eine noch längere Latenz von 2 bis 6 Wochen feststellbar.
Desensibilisierung bei Medikamentenallergien
Dr. Kathrin Scherer, Klinik für Dermatologie, Abteilung Allergologie, Universitätsspital Basel, wies auf die Möglichkeit hin, bei einem unersetzbaren oder, verglichen mit Alternativen, wesentlich effektiveren Medikament eine Toleranz zu induzieren. Kontrainduziert ist die Toleranzinduktion aber bei schweren Hypersensitivitätsreaktionen vom verzögerten Typ, z.B. SJS/TEN, AGEP oder DRESS. Die Desensibilisierung bei Medikamentenallergien kommt als risikoreiche, empirische Therapieoption in Betracht bei: ● Anaphylaxie ● Unkomplizierte, leichte bis mittelschwere Reaktionen
vom verzögerten Typ (makulo-papulöses Exanthem, fixes Arzneimittelexanthem)
Durch schrittweise Wiedereinführung des medikamen-
tösen Antigens in kleinen Dosen zu festgelegten Zeit-
punkten wird eine Toleranz erreicht, welche die Verab-
reichung der vollen therapeutischen Dosen ermöglicht.
Die Toleranz bleibt aber nur vorübergehend bestehen,
nur solange der Patient kontinuierlich mit dem Medi-
kament behandelt wird. Weil die Toleranz bei Thera-
pieunterbrüchen wieder verloren geht, muss z.B. bei
wiederholten Chemotherapiezyklen jeweils erneut Tole-
ranz induziert werden.
●
Alfred Lienhard
Redaktioneller Bericht ohne Sponsoring
Referenzen: 1. McCormack M et al. HLA-A*3101 and carbamazepine-induced hypersensitivity
reactions in Europeans. New England Journal of Medicine 2011; 364: 1134–1143.
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