Transkript
FORTBILDUNG
Ichthyosen
Komplexe vererbte Verhornungsstörungen
Ichthyosen sind vererbte, monogene Erkrankun-
gen, die bereits bei der Geburt bestehen oder
früh im Leben auftreten und die Betroffenen le-
benslang begleiten. Verursacht durch verschie-
dene Verhornungsstörungen bilden Ichthyosen
eine klinisch und ätiologisch sehr heterogene
Gruppe von Erkrankungen. Einen Überblick
über das weite Feld der Ichthyosen gab Prof. Dr.
Daniel Hohl, Service de Dermatologie et Véné-
réologie, Hôpital de Beaumont, CHUV, Lau-
sanne, an den 2. Zürcher Dermatologischen
Fortbildungstagen.
Verantwortlich für die verschiedenen Ichthyosen sind fehlgeleitete Differenzierungsschritte in der Epidermis. Mutationen zahlreicher Gene können die komplexen Differenzierungsprozesse stören. Zu den von Genmutationen betroffenen Genprodukten gehören beispielsweise: Profilaggrin, Steridsulfatase, Keratin, Connexin, Loricrin, lamellar body transmembrane transporter, Transglutaminase, Cytochrome, epidermale Lipoxygenase, Fettsäurentransportprotein, Hydroxysteroid-Dehydrogenase, Serinprotease-Inhibitor. Entsprechend der Komplexität der Verhornungsprozesse ist das Spektrum der verschiedenen Ichthyosen sehr breit. In Harper’s Textbook of Pediatric Dermatology (herausgegeben von Alan D. Irvine) umfasst das Kapitel 121 über Ichthyosen, das von Daniel Hohl zusammen mit Mary Williams (University of California, San Francisco, USA) erarbeitet wurde, insgesamt 70 Seiten. Die Autoren stützen sich dabei auf die neue Klassifikation der Ichthyosen, die im Jahr 2009 an der ersten Ichthyosis-Konsensuskonferenz in Sorèze festgelegt wurde (1). Um Ichthyosen in der Praxis richtig einzuordnen, sollten folgende Fragen beantwortet werden: ● Handelt es sich um eine isolierte Ichthyose oder um
eine syndromale Ichthyose mit Zeichen und Symptomen auch ausserhalb der Haut? ● Handelt es sich um eine kongenitale Ichthyose, die bereits bei der Geburt besteht, oder um eine Ichthyose mit späterem Beginn (in den ersten Lebensmonaten)? ● Wie präsentierte sich die Ichthyose zu Beginn? ● Um welchen Vererbungsmodus handelt es sich?
Autosomal semidominant vererbte vulgäre Ichthyose
Die Ichthyosis vulgaris ist die häufigste Ichthyose. Sie ist bei der Geburt noch nicht vorhanden und betrifft nur die Haut. Die Ichthyosis vulgaris kommt in einer klassischen, biallelen Form und einer Einzelallelform (heterozygote Ichthyosis vulgaris) vor. Lange Zeit galt die vulgäre Ichthyose als autosomal dominant vererbte Hautkrankheit. Erst im 21. Jahrhundert wurde der Vererbungsmodus korrekt erkannt: autosomal semidominante (kodominante) Vererbung. Das klinische Bild der vulgären Ichthyose kann aufgrund der semidominanten Vererbung stark variieren und von leichten heterozygoten Formen (palmoplantar und an den Extensorflächen der Beine lokalisiert) bis hin zu kompletten biallelen Formen (mit mehr generalisierter Expression) reichen. Verantwortlich für die Ichthyosis vulgaris ist ein Mangel an Profilaggrin (durch das FLG-Gen kodiertes VorläuferProtein von Filaggrin). Etwa 10 Prozent der Bevölkerung Europas weisen eine heterozygote ProfilaggrinDefizienz auf, und bei etwa 1 von 700 Personen ist mit einer homozygoten vulgären Ichthyose mit 2 Profilaggrin-Gen-Nullallelen und komplettem Verlust der Profilaggrin-Expression in der Haut zu rechnen. Die heterozygote vulgäre Ichthyose stellt den Hauptrisikofaktor für eine Erkrankung an atopischer Dermatitis dar. Die vulgäre Ichthyose macht sich im Laufe des ersten Lebensjahres bemerkbar. Typischerweise sind die Beugen von der feinen, oberflächlichen Schuppung ausgespart. In warmer, feuchter Umgebung bessert sich die Schuppung oft. Ein wichtiges Zeichen, an dem man Betroffene häufig auf den ersten Blick erkennen kann, ist die Hyperlinearität: sehr tiefe Linien an den Handflächen, den Fusssohlen und Lippen. Häufig ist eine Keratosis pilaris zu finden. Die Biopsie sollte vorzugsweise dort entnommen werden, wo die Haut am meisten befallen ist, typischerweise am Unterschenkel. In der Histologie ist das Stratum granulosum weniger dick als normal (heterozygote Form) oder gar nicht vorhanden (biallele Form).
X-chromosomal rezessiv vererbte Ichthyose
Auch diese Ichthyose ist bei der Geburt noch nicht vorhanden. In den ersten Lebenswochen macht sie sich durch gesteigerte Desquamation bemerkbar. Die in den folgenden Monaten auftretenden charakteristischen Schuppen sind von dreckig-bräunlicher bis schwarzer
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Ichthyosen
Tabelle:
Die beiden häufigsten Ichthyoseformen
Ichthyosis vulgaris
Betroffenes Gen Betroffenes Genprodukt Vererbungsmodus Alter bei Erkrankungsbeginn Schuppen
FLG Profilaggrin Autosomal semidominant 3–6 Monate Klein, weiss bis grau, oberflächlich
Charakteristische Verteilung
Extremitäten: leicht bis mässig betroffen
Handflächen, Fusssohlen, Lippen: sehr tiefe Linien
Beugen: alle ausgespart
Rumpf: leicht betroffen Nacken: ausgespart Gesicht: meist ausgespart
X-chromosomal rezessiv vererbte Ichthyose ARSC1 (STS) Steroid-Sulfatase X-chromosomal rezessiv Geburt bis 3 Wochen Klein bis gross, bräunlich, polygonal, fest adhärent Extremitäten: mässig betroffen Handflächen, Fussohlen, Lippen: ausgespart Beugen: Ellenbeugen und Kniekehlen ausgespart, Achselhöhlen betroffen Rumpf: mässig betroffen Nacken: leicht bis mässig betroffen Gesicht: präaurikulär betroffen
(nach Prof. Dr. Daniel Hohl)
Farbe, eher gross und sehr adhärierend. Aufgrund der dunklen Schuppen wird die Erkrankung auch als «Ichthyosis nigricans» oder im französischen Sprachraum als «Ichthyose noire» bezeichnet. Tiefe Handlinien oder follikuläre Keratosen kommen bei dieser Ichthyose nicht vor. Die Hautveränderungen sind symmetrisch über den Rumpf und die Extremitäten verteilt und an den Streckseiten (speziell der Beine) besonders ausgeprägt. Die lateralen Halsflächen und der Nacken sind oft von den dunklen Schuppen bedeckt. Eine charakteristische Lokalisation ist zudem die präaurikuläre Region unter Aussparung der restlichen Gesichtshaut. Keine palmoplantare Hyperlinearität, keine follikulären Hyperkeratosen und keine Atopie (kein atopisches Ekzem, kein Asthma) sprechen für die X-chromosomal rezessiv vererbte vulgäre Ichthyose. In der Regel bessert sich auch diese Ichthyose-Form in den wärmeren und feuchteren Sommermonaten. Typischerweise sind Knaben betroffen (1 von 2000 Knaben), Mädchen nur ausnahmsweise (homozygote Mädchen). Der zugrunde liegende Gendefekt betrifft das auf dem X-Chromosom liegende STS-Gen. Normalerweise sorgt das Gen für die Bereitstellung des im Körper weit verbreiteten Enzyms Steroid-Sulfatase, das die Sulfatgruppe an Sterolen (hauptsächlich Cholesterolsulfat) und Steroiden (hauptsächlich Dihydroepiandrosteronsulfat) hydrolytisch abspaltet. Für die Erkrankung ist zumeist eine komplette Deletion des Gens verantwortlich.
Die durch die Gendeletion verursachte Akkumulation von Cholesterolsulfat in der Epidermis senkt im Stratum corneum den pH, wodurch die Proteasen gehemmt werden, die für die Degradation der Corneodesmosomen sorgen sollten. Auch eine direkte Proteasenhemmung durch Cholesterolsulfat konnte nachgewiesen werden. Wenn die Corneodesmosomen nicht geordnet abgebaut werden, ist die Abschilferung der Corneozyten gestört, und es resultiert eine Retentionshyperkeratose mit Schuppenbildung. Obschon die X-chromosomal rezessiv vererbte Ichthyose als isolierte, nicht syndromale Ichthyose gilt, kann sie als systemische Erkrankung mit extrakutanen Störungen assoziiert sein. Zu diesen zusätzlichen Symptomen gehören beispielsweise: ● Kryptorchismus in 5 Prozent der betroffenen Knaben
(Grundfrequenz: ca. 1 Prozent der Knaben) ● ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-
Syndrom) ● Asperger-Syndrom (Autismusform)
Collodion Baby
Die ARCI-Gruppe (autosomal rezessiv vererbte kongenitale Ichthyosen) umfasst wesentlich seltenere (1:100 000) Ichthyose-Formen, von denen sowohl Knaben als auch Mädchen betroffen sein können. Bislang sind 7 Gene bekannt, deren Defekte für diese Ichthyosen verantwortlich sind. Es kommen 2 klinische Formen vor: ● Lamelläre kongenitale Ichthyose ● Erythematische kongenitale Ichthyose (rote Form)
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Ichthyosen
Als «Collodion-Babies» werden Neugeborene bezeichnet, die von einer transparenten, straff gespannten Membran umhüllt sind. Für die Collodion-Membran, die sich nach etwa 2 Wochen auflöst, können verschiedene kongenitale Ichthyosen verantwortlich sein. Häufigste Ursache von «Collodion-Babies» sind die autosomal rezessiv vererbten kongenitalen Ichthyosen. Seit «Collodion-Babies» in Zentrumskliniken mit Neonatologieabteilung behandelt werden, ist das Sterberisiko, das zuvor bei gewöhnlicher Spitalbehandlung 33 Prozent betrug, deutlich gesunken (auf 11 Prozent). Stark erhöhter Wasserverlust und Elektrolytstörungen machen die betroffenen Neugeborenen hämodynamisch labil und setzen sie der Gefahr von Austrocknung aus. Wenn die Collodion-Membran austrocknet und Risse bekommt, können tiefe Fissuren entstehen, die Eintrittspforten für Infektionen bilden und die Sepsisgefahr erhöhen. Prof. Hohl betonte, dass diese Neugeborenen sofort auf eine neonatologische Intensivstation verlegt werden müssen, wo sie korrekt hydriert werden können. Sie müssen in einem Inkubator mit Befeuchtung gepflegt werden. Dadurch kann der transepidermale Wasserverlust verringert und die Fissurenbildung beim Eintrocknen der Collodion-Membran verhindert werden.
Behandlung der Ichthyosen
Im Zentrum der Behandlung steht der Abbau der Hyperkeratosen, nicht nur auf der Hautoberfläche, sondern auch im äusseren Gehörgang. Bei lamellärer Ichthyose kommt es häufig zur Verstopfung der Ohren mit nicht selten falsch diagnostizierter Schwerhörigkeit. Zur Entfernung des Ohrpfropfs eignen sich Mittel wie Cerumenex® oder regelmässige Ohrspülungen. Sehr
wichtig ist auch die soziale Eingliederung betroffener
Kinder, besonders wenn sie schwere Ichthyose-Formen
aufweisen. Prof. Hohl hat die Erfahrung gemacht, dass
die meisten Erwachsenen mit schweren Ichthyosen im
Alkoholismus landen, wenn sie nicht eine stabile Bezie-
hung aufbauen können.
Zur topischen Behandlung eignen sich Emollienzien
(z.B. Locobase® Fettcreme) und keratolytische Wirk-
stoffe (z.B. Laktat, Salizylsäure [nicht bei Kindern],
Urea, Propylenglycol, verschiedene Retinoide). Bei
schweren Ichthyosen setzt Prof. Hohl als Standardbe-
handlung die Formulierung von 5 Prozent Laktat mit
20 Prozent Propylenglycol ein. Ölbäder sind empfeh-
lenswert. Auch kann dem Badewasser Meersalz oder
Bikarbonat beigefügt werden. Innerhalb von 5 Minuten
nach dem Bad sollten Emollienzien aufgetragen wer-
den. Bei sehr schweren Ichthyose-Formen kann das sys-
temische Retinoid Acitretin (Neotigason®) eingesetzt
werden.
●
Alfred Lienhard
Redaktioneller Bericht ohne Sponsoring.
Referenzen:
1. Oji V et al. Revised nomenclature and classification of inherited ichthyoses: Results of the First Ichthyosis Consensus Conference in Sorèze 2009. J Am Acad Dermatol 2010; 63: 607–641.
Zwei Testfragen: 1. Welche Ichthyose wird als «Ichthyose noire» bezeichnet? 2. Worauf weist diese Bezeichnung hin? Antworten: 1. Die X-chromosomal rezessiv vererbte Ichthyose. 2. Auf das klinische Erscheinungsbild mit bräunlichen bis schwarzen Schuppen.
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