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IM FOKUS
Chronische Wunden und Mangelernährung
Verhängnisvolle Abwärtsspirale
Mangelernährung beeinträchtigt die Abheilung von Wunden und begünstigt die Entstehung neuer Wunden. Weil chronische Wunden den Energie- und Nährstoffbedarf erhöhen, kommt es zu einer verhängnisvollen Abwärtsspirale. Die adäquate Ernährung ist ein wichtiger Aspekt des Wundmanagements, auch wenn nicht durch randomisierte Studien hieb- und stichfest nachgewiesen wurde, dass sie die Wundheilung verbessert und das Auftreten neuer Wunden verhindert. Über die Bedeutung der Ernährung beim Management chronischer Wunden sprach Dr. Sarah Sigrist, Oberärztin Ernährungsmedizin, Kantonsspital St. Gallen, am 3. St. Galler Wound-Care-Symposium.
Zu den Voraussetzungen für eine gute Wundheilung gehören ausreichende Energiezufuhr und ausreichende Versorgung mit Proteinen, Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Bei chronischen Wunden besteht ein Hypermetabolismus, weil vermehrt Energie verbraucht wird und der Nährstoffbedarf erhöht ist. Zudem gehen bei stark sezernierenden Wunden Nährstoffe in beträchtlichen Mengen verloren. Normalerweise werden die Kohlenhydrate und Fette zur Energieproduktion herangezogen und die Nahrungseiweisse fast ausschliesslich (zu 95%) für die Proteinsynthese im Körper reserviert. Wenn jedoch bei einer grösseren chronischen Wunde die Energiereserven des Fettgewebes nicht ausreichen, muss immer mehr Energie aus Proteinen gewonnen werden. Weil bei diesem «Stressmetabolismus» weniger Proteine für die Synthese zur Verfügung stehen, nimmt die Muskelmasse ab, und die Wundheilung wird beeinträchtigt.
Warnsignale drohender Mangelernährung beachten
Wenn der erhöhte Nährstoffbedarf nicht durch erhöhte Zufuhr ausgeglichen wird, nimmt die Lean Body Mass (LBM) ab. Die LBM macht normalerweise bis 75 Pro-
Makronährstoffe haben wichtige Funktionen bei der Wundheilung
Proteine Kohlenhydrate Fette
Energiegewinnung aus dem Proteinspeicher (Stressantwort) Substrat für die Wundheilung
Bestandteile verschiedener Glykoproteine und Kofaktoren von Enzymen Immunologische Funktionen
Aufbau von Zellmembranen Zellproliferation Inflammatorische Prozesse
(nach Dr. Sarah Sigrist)
zent des gesamten Körpergewichts aus und setzt sich aus den Proteinspeichern und dem Körperwasser zusammen. Je stärker die LBM abnimmt, desto mehr muss mit Komplikationen gerechnet werden, denn die Immunität wird beeinträchtigt, die Infektionsrate nimmt zu, die Wundheilung wird schlechter, die Haut wird dünner und verletzlicher. Bei einem Verlust von 30 Prozent der LBM können spontan Wunden auftreten und nicht mehr heilen. Ein Verlust von 40 Prozent der LBM ist lebensbedrohlich (Gefahr tödlicher Pneumonien). Eine drohende Mangelernährung bleibt oft unentdeckt. Dabei genügen in der Praxis drei einfache Screeningfragen zur Erkennung (Tabelle 1). Unabsichtlicher Gewichtsverlust von mehr als 5 Prozent des Körpergewichts in einem Monat oder von mehr als 10 Prozent in den vergangenen 6 Monaten ist als Mangelernährung zu werten (1). Die Anamnese sollte über folgende Punkte Aufschluss geben: ● Gewichtsverlauf, ungewollter Gewichtsverlust; ● Appetit, Ernährungsgewohnheiten, Zahnprobleme,
Kau- und Schluckstörungen; ● Obstipation, Diarrhö, Malabsorption; ● Einschränkungen der Mobilität, Aktionsradius (Ein-
kaufen), Funktionseinschränkungen von Händen und Armen (Rüsten und Kochen); ● Unterstützung im Haushalt sowie beim Einkaufen und Kochen, Depression, Demenz, Vereinsamung.
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Chronische Wunden und Mangelernährung
Tabelle 1:
Drei Screeningfragen bei Verdacht auf Mangelernährung
Frage 1: Haben Sie unabsichtlich Gewicht verloren?
Antwort: Nein
Score: 0
Unsicher oder Ja
2
Frage 2: Falls Sie Gewicht verloren haben,
wie viele Kilogramm?
1 bis 5 kg
1
6 bis 10 kg
2
11 bis 15 kg
3
Über 15 kg
4
Unsicher
2
Frage 3: Haben Sie wegen reduzierten Appetits wenig gegessen?
Nein 0 Ja 1
Auswertung: Eine Risikosituation für Mangelernährung liegt vor, wenn die totale Punktezahl 2 oder mehr beträgt.
(nach Dr. Reinhard Imoberdorf, Kantonsspital Winterthur, Referenz 1)
Bedeutung der Mangelernährung nicht unterschätzen
• Mangelernährung kommt häufig vor (bei 20 bis 40 Prozent der hospitalisierten Patienten).
• Mangelernährung ist zeitraubend (verlängert die Hospitalisationsdauer).
• Mangelernährung ist tödlich (erhöht das Sterberisiko bis auf mehr als das Dreifache).
• Mangelernährung ist stark kostentreibend (erhöht die Behandlungskosten).
(nach Dr. Sarah Sigrist)
Zur klinischen Untersuchung gehören die Bestimmung von Gewicht und Grösse sowie die Berechnung des BMI. Ein BMI unter 18,5 deutet auf Mangelernährung hin. Zusätzlich muss immer auch der Gewichtsverlust berücksichtigt werden, da es sich um eine Person mit habituell tiefem BMI handeln könnte. Muskelatrophien und fehlendes subkutanes Fettgewebe sind leicht feststellbar. An den Lippen und in der Mundhöhle macht sich der Nährstoffmangel besonders früh bemerkbar: Schmerzhafte Rötung und Schwellung der Lippen mit Rhagadenbildung (Cheilosis); schwammiges, blutendes Zahnfleisch; rote, wunde und zerklüftete Zunge (Glossitis) (1). Anamnese und klinische Untersuchung spielen diagnostisch eine viel bedeutendere Rolle als Laborbefunde. Das CRP ist zwar häufig bei Mangelernährung erhöht, doch können auch viele andere Ursachen für die CRP-Erhöhung verantwortlich sein.
Tabelle 2:
Mikronährstoffe werden für die Wundheilung benötigt
Vitamin A Stimuliert die Wundheilung (Epithelialisierung, Fibroblastenfunktion) und die Immunfunktion
Vitamin C Wichtig für die Kollagensynthese, die Neutrophilenfunktion und die Angiogenese
Vitamin-B-Komplex Beteiligt an der Kollagensynthese
Zink Kofaktor für die Synthese von Kollagen und anderen Wundproteinen, Kofaktor für Antioxidanzien, wichtig für die Immunfunktion
Kupfer Kofaktor für die Produktion von Bindegewebe, fördert das Kollagen-Crosslinking
Mangan Beteiligt an der Synthese von Kollagen und Grundsubstanz
Selen Kofaktor im Fettstoffwechsel, wirkt als Antioxidans
(nach Dr. Sarah Sigrist)
Wunden brauchen Mikronährstoffe
Mikronährstoffe (Vitamine und Spurenelemente) sind sehr wichtig für die Funktion von Bindegewebs- und Immunzellen, die an der Wundheilung massgeblich beteiligt sind (Tabelle 2). Arginin und Glutamin sind bedingt essenzielle Aminosäuren. In Situationen mit erhöhtem Bedarf reicht die endogene Synthese nicht aus. Wenn die Zufuhr nicht erhöht wird, gerät der Körper in einen Mangelzustand. Beide Aminosäuren sind Energiequellen für rasch proliferierende Zellen, beide wirken antioxidativ. Arginin spielt zudem als Vorläufer von Prolin eine Rolle bei der Kollagensynthese.
Ernährungsempfehlungen bei chronischen Wunden und Wundheilungsstörungen
Ernährungsempfehlungen zielen darauf ab, die Wundheilung zu ermöglichen und zu unterstützen sowie die Entstehung weiterer Wunden zu verhindern. Die Grundregeln lauten: ● Die Ernährung muss den erhöhten Bedarf an Kalo-
rien, Proteinen, Flüssigkeit, Vitaminen und Spurenelementen decken; ● Muskelmasse und LBM müssen erhalten werden; ● Mangelernährung und ihre Komplikationen (z.B. Immobilisierung, Infektanfälligkeit) müssen verhindert oder behoben werden.
Der Gesamtenergiebedarf setzt sich zusammen aus dem Grundumsatz (bei Gesunden 25 bis 30 kcal pro kg Körpergewicht; bei grösseren Wunden 30 bis 35 kcal pro kg KG; bei Wundheilungsstörungen in Kombination mit
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Multimorbidität sogar 40 bis 50 kcal pro kg KG) sowie einem Krankheitsfaktor (wenn hospitalisiert plus 10 Prozent des Grundumsatzes; bei Sepsis, Fieber oder Tumor plus 20 Prozent des Grundumsatzes) und schliesslich einem Aktivitätsfaktor (wenn bettlägerig plus 10 Prozent des Grundumsatzes; wenn mobil plus 20 Prozent des Grundumsatzes). Der Proteinbedarf, der bei Gesunden 0,8 bis 1 g pro kg KG (60–70 g pro Tag) beträgt, steigt bei chronischen Wunden mit Stressstoffwechsel erheblich an (1,2–1,5 g pro kg KG). Eine Mangelversorgung mit Fetten kommt nur sehr selten vor (z.B. bei schwerer Fettmalabsorption). Exzessive Supplementation von Omega-3-Fettsäuren kann die Wundheilung beeinträchtigen (verringerte inflammatorische Reaktion und verminderte Festigkeit der Wunde). Ausreichende Flüssigkeitsversorgung ist wichtig für einen normalen Hautturgor und für eine gute Durchblutung, die den Nährstofftransport zur Wunde sicherstellt. Ausgehend vom Richtwert (30–35 ml pro kg KG und Tag, mindestens 1500 ml) sollte die Flüssigkeitszufuhr individuell angepasst werden unter Berücksichtigung etwa der kardialen Situation, von Fisteln und von Wundsekretion. Bei chronischen Wunden und Wundheilungsstörungen wird für die meisten Mikronährstoffe die normale Tagesdosis empfohlen. Ausnahmen sind Vitamin C (zusätzlich 500 mg täglich zur normalen Tagesdosisempfehlung von 100 mg hinzu) und Zink (zusätzlich 30 mg täglich zur normalen Tagesdosis von 10 mg bei Männern und 7 mg bei Frauen hinzu).
Praktische Tipps zur Optimierung der Nahrungsaufnahme
Die Medikamente der Patienten sollten überprüft werden, und diejenigen, die Übelkeit auslösen können, sollten nach Möglichkeit abgesetzt werden. Manchmal helfen Antiemetika weiter. Es gilt abzuklären, ob ein Mahlzeitendienst, eine Hilfsperson beim Essen, eine Ernährungsberatung oder Hilfsmittel nötig sind. Durch einfache Anpassungen kann die orale Nahrungszufuhr verbessert werden:
● Anpassung der Portionengrösse nach dem Motto: kleinere Portionen häufiger einnehmen;
● Einbau von Zwischenmahlzeiten; ● Berücksichtigung von individuellen Vorlieben und
Abneigungen nach dem Motto: Essen, was schmeckt; ● Reduktion der Zufuhr von Nahrungsmitteln mit ge-
ringer Kaloriendichte und geringem Proteingehalt (z.B. Bouillon, Salate, Gemüse); ● Anpassung der Kostform bei Kau- und Schluckstörungen (z.B. geschnitten, weich, püriert); ● Anreicherung der üblichen Kost mit Butter, Rahm, Käse oder Öl (1 Esslöffel Butter oder Öl entspricht 100 kcal; 2 Esslöffel Reibkäse entsprechen 80 kcal); ● Berücksichtigung energiehaltiger Getränke (z.B. Fruchtsäfte, Milchdrink mit Schokolade, Frappé mit Milch und Speiseeis).
Aus dem grossen Angebot von Trinknahrungssupple-
menten sollten proteinreiche Produkte ausgewählt
werden. Abound® ist eine Trinklösung, die speziell bei
chronischen Wunden propagiert wird. Darin enthalten
sind Arginin, Glutamin und Hydroxy-Methylbutyrat, ein
Metabolit der essentiellen Aminosäure Leucin, der die
Proteinsynthese unterstützt.
Dr. Sarah Sigrist erachtet es als sinnvoll, Patienten mit
chronischen Wunden Multivitaminpräparate zu ver-
schreiben (z.B. Burgerstein Geriatrikum®, das auch
Zink, Kupfer und Selen enthält). Um speziell Selen zu-
zuführen, können Selenase® Trinkampullen verwendet
werden. Für die Zufuhr von Zink eignet sich Zinkglu-
konat Burgerstein® oder Zink Verla®, für die Glutamin-
zufuhr das Präparat Glutamine Plus®.
●
Alfred Lienhard
Redaktioneller Bericht ohne Sponsoring.
Referenz:
1. Imoberdorf R et al. Mangelernährung – Unterernährung. Schweiz Med Forum 2011; 11: 782–786.
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