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FORTBILDUNG
Chronische Urtikaria
Ursachen und Verschlimmerungsfaktoren
Chronische Urtikaria betrifft schätzungsweise jede hundertste Person für einige Zeit während des Lebens. Die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten. Die Prävalenz ist bei Frauen höher als bei Männern. Der Schweregrad ist extrem unterschiedlich und reicht von Fällen mit sporadischem Auftreten weniger Quaddeln bis hin zu Fällen mit schwerem Juckreiz, Quaddeln und Angioödemen in verschiedenen Arealen während mehrerer Stunden jeden Tag. Bei der Urtikaria muss zwischen Ursachen, Verschlimmerungsfaktoren und Triggerfaktoren unterschieden werden. Darüber sprachen Experten am Kongress 2012 der European Academy of Allergy and Clinical Immunology (EAACI) in Genf.
Kasten 1:
Klinisches Krankheitsbild der Urtikaria
Plötzlich auftretende Quaddeln und/oder Angioödeme. Typische Merkmale von Quaddeln sind: • oberflächliche Schwellung der Haut, in der Regel von
einem Erythem umgeben • Juckreiz oder selten auch Brennen • Erscheinungsbild der Haut normalisiert sich innerhalb
von 1 bis 24 Stunden wieder.
Typische Merkmale von Angioödemen sind:
• plötzlich auftretende, ausgeprägte Schwellung der
tieferen Dermis und Subkutis
• manchmal Schmerzen, selten Juckreiz
• häufig Beteiligung der Schleimhäute
• Rückbildung dauert mit bis zu 72 Stunden länger als
bei Quaddeln
(nach Zuberbier T et al., Referenz [1])
Urtikaria bedeutet nicht lediglich ein klinisches Zeichen, sondern wird als Erkrankung definiert, die sich mit Quaddeln (oberflächlichen Hautschwellungen) und/oder Angioödemen (tiefen muko-kutanen Schwellungen) äussert. Die häufigste Urtikariaform ist die spontane Urtikaria, bei der keine externen, auslösenden Stimuli fassbar sind. Meist handelt es sich um eine akute, weniger als sechs Wochen dauernde oder um eine akut-intermittierende spontane Urtikaria. In etwa 20 Prozent der Fälle ist die spontane Urtikaria chronisch mit einer Dauer von mehr als sechs Wochen und fast täglichen Symptomen, berichtete Dr. Clive Grattan, Norfolk and Norwich University Hospital, UK.
Abbildung 1: Urtikaria
Ursachen von spontaner Urtikaria
Für die spontane Urtikaria kommen folgende Ursachen in Betracht: ● Allergien können Ursache einer akuten spontanen
Urtikaria sein, aber praktisch nie einer chronischen Urtikaria. Selten kann das verantwortliche Allergen (z.B. Nahrungsmittel, Arzneimittel, Insektenstich) identifiziert werden. ● Autoantikörper können zu chronischer Urtikaria führen. Funktionelle, gegen IgE oder den hochaffinen IgE-Rezeptor gerichtete IgG-Autoantikörper können Histamin und andere Mediatoren aus Mastzellen und Basophilen freisetzen. Rund 30 Prozent der Patienten mit chronischer spontaner Urtikaria weisen funktionelle Autoantikörper auf. ● Medikamente (z.B. nichtsteroidale Entzündungshemmer) können für akute Urtikariaepisoden verantwortlich sein. ● Bei Nahrungsmittelpseudoallergenen handelt es sich nur selten um die Urtikariaursache, sondern eher um Verschlimmerungsfaktoren. ● Noch nicht einig sind sich die Experten, wie häufig Infektionen die Ursache der Urtikaria bilden. Bezüglich der Kausalität kann man sich bisher nicht auf
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Chronische Urtikaria
Kasten 2:
5 wichtige Fragen an Urtikariapatienten
• Haben Sie einen juckenden Hautausschlag bemerkt, der kommt und geht, ohne Spuren zu hinterlassen?
• Treten Quaddeln oder tiefe Hautschwellungen oder beides auf?
• Wie lange haben Sie diese Hautveränderung schon? (akut oder chronisch)
• Wie lange bleiben einzelne Quaddeln auf der Haut sichtbar? (bei induzierbarer Urtikaria weniger als 1 Stunde, bei spontaner Urtikaria weniger als 24 Stunden, bei Urtikariavaskulitis mehr als 2 Tage)
• Kommt Urtikaria in der Familie vor?
(nach Dr. Clive Grattan)
starke Evidenz stützen. Chronisch-persistierende Infektionen mit Bakterien (z.B. Helicobacter pylori, Streptokokken, Staphylokokken, Yersinien), Protozoen und Parasiten (z.B. Amöben, Blastocystis, Anisakis-Fadenwurm) oder Viren (z.B. Hepatitisviren B und C, Norovirus, Parvovirus B19) sowie Zahn- und ORLInfektionen kommen als Ursachen von chronischer oder akut rezidivierender spontaner Urtikaria in Betracht.
Weitere mögliche Urtikariaursachen: ● Maligne Erkrankungen: Bisher ist keine Evidenz
vorhanden, dass zwischen Neoplasien und Urtikaria Korrelationen bestehen (1). Allerdings wies kürzlich eine retrospektive Kohortenstudie aus Taiwan auf mögliche Assoziationen zwischen chronischer Urtikaria und malignen hämatologischen Erkrankungen, insbesondere Non-Hodgkin-Lymphomen, hin (2). ● Endokrine Ursachen: Möglicherweise liegt bei Frauen gelegentlich eine progesteroninduzierte Urtikaria vor. Es kann sich auch um eine hormonell bedingte Verschlimmerung handeln (prämenstruelle Verstärkung der Urtikariasymptome). ● Metabolische Störungen (z.B. Vitamin-D-Mangel) kommen als Ursache der Urtikaria in Betracht.
Abbildung 2: Lichturtikaria
(Quelle: www.hautstadt.de/.../lichturtikaria.php)
Kasten 3:
Differenzialdiagnosen von Urtikariaerkrankungen
• Urticaria pigmentosa (Mastozytose) • Urtikariavaskulitis • familiäre Kälteurtikaria (Vaskulitis) • nicht histaminerge Angioödeme
(hereditäres Angioödem, erworbenes Angioödem mit C1-Esterase-INH-Defizienz)
(nach Zuberbier T et al., Referenz 1)
● Stress: Oft vermuten Patienten die Ursache ihrer Erkrankung beim Stress. Es gibt aber praktisch keine Evidenz für die Stressätiologie der Urtikaria.
● Genetische Prädisposition: Es gibt bisher keine Studien, die eine genetische Prädisposition für die akute und die chronische Urtikaria belegen könnten.
Gemäss der eigenen Erfahrung von Dr. Grattan ist die Ursache bei akuter spontaner Urtikaria in der Hälfte der Fälle auffindbar, bei chronischer spontaner Urtikaria in 25 bis 50 Prozent und bei der Kontakturtikaria in praktisch 100 Prozent, in der Regel bereits aufgrund der Anamnese.
Verschlimmerungsfaktoren und Triggerfaktoren
Das Modell der multifaktoriellen Pathogenese der spontanen Urtikaria geht davon aus, dass bei den Betroffenen die Schwelle für die Freisetzung von Histamin und anderen Mediatoren aus Hautmastzellen erniedrigt ist. Wenn die Schwelle erreicht ist, verstärken zusätzliche Verschlimmerungfaktoren (z.B. Stress, eine Infektion, ein nichtsteroidaler Entzündungshemmer im Rahmen der symptomatischen Infektbehandlung) den Effekt und tragen zum vollen Krankheitsbild bei. Gemäss den Ausführungen von Dr. Grattan gehören zu den Verschlimmerungsfaktoren bei der Urtikaria: ● enge Kleider, Hitze ● heisse Bäder, heisses Duschen: Dadurch kommt es
zur Vasodilatation und zu erhöhter vaskulärer Permeabilität, sodass zirkulierende histaminfreisetzende Faktoren leichter die Mastzellen erreichen und die Degranulation stimulieren können. Betroffene Patienten berichten, dass sie mit ganz roter, juckender Haut aus der heissen Badewanne oder Dusche kommen und dass diese Exazerbation etwa 10 bis 15 Minuten dauert. ● Medikamente wie nichtsteroidale Entzündungshemmer, die weit häufiger als Verschlimmerungsfaktoren und weit seltener als Ursache in Betracht kommen. Weil COX-2-Hemmer in der Regel gut vertragen werden, kommt der Verschlimmerungseffekt wahrscheinlich durch Hemmung des COX-1-Enzyms zustande. ● Pseudoallergien (z.B. Nahrungsmittel, die häufiger als Verschlimmerungsfaktoren und seltener als Ursache in Betracht kommen) ● Infektionen ● Stress
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Chronische Urtikaria
Als Triggerfaktoren (auslösende Faktoren) wirken bei induzierbaren Urtikariaformen (1): ● Kälte (kalte Gegenstände, kalte Luft, kalte Flüssig-
keiten, kalter Wind) bei Kältekontakturtikaria ● lokale Wärme bei Wärmekontakturtikaria ● statischer Druck bei verzögerter Druckurtikaria ● Scherkräfte bei Urticaria factitia/symptomatischem
urtikariellem Dermografismus ● Vibrationen bei vibratorischer Urtikaria/Angioödem ● Sonne, UV-Licht, sichtbares Licht bei Lichturtikaria ● Wasser bei aquagener Urtikaria ● Erhöhung der Körperkerntemperatur (z.B. durch
körperliche Anstrengung oder scharfe Speisen) bei cholinergischer Urtikaria ● Kontakt mit urtikariogenen Substanzen (z.B. Kosmetika, Pflanzen, Tiere) bei Kontakturtikaria ● körperliche Anstrengung bei anstrengungsinduzierter Urtikaria.
Autoreaktive Urtikaria und Autoimmunurtikaria
Bei etwa 50 bis 60 Prozent aller Patienten mit chronischer spontaner Urtikaria ist der ASST (Autologer Serumtest mit intradermaler Injektion von autologem Serum, Autologous-Serum-Skin-Test) positiv, berichtete Dr. Riccardo Asero, Ambulatorio di Allergologia, Clinica San Carlo, Paderno Dugnano, Italien. Der ASST weist histaminfreisetzende Serumfaktoren nach und besitzt als Marker von Autoreaktivität einen hohen negativen Vorhersagewert. Der Test eignet sich also hauptsächlich zum Ausschluss einer autoreaktiven chronischen Urtikaria, wenn er ein negatives Resultat ergibt. Ein positiver ASST ist aber nicht diagnostisch für eine chronische Autoimmunurtikaria aufgrund von histaminfreisetzenden Autoantikörpern. Zur Bestätigung dieser Diagnose sind spezielle Tests für den Nachweis funktioneller Autoantikörper erforderlich. Patienten mit spezifischen Autoantikörpern, die gegen IgE oder den hochaffinen IgE-Rezeptor gerichtet sind, weisen ein schwereres Krankheitsbild auf als Patienten mit chronischer idiopathischer Urtikaria, sagte Dr. Asero.
Aktivierte Blutgerinnung bei chronischer Urtikaria
Chronische Urtikaria ist assoziiert mit einer Aktivierung der Gerinnungskaskade und der Thrombinbildung. Je schwerer die Urtikaria ist, desto stärker ist die Gerin-
nung aktiviert. Diese Aktivierung kann so ausgeprägt
sein, dass sich Fibrin bildet. Dies kann indirekt durch
Messung des D-Dimer-Plasmaspiegels erfasst werden.
Ob die Aktivierung der Gerinnungskaskade bei chroni-
scher Urtikaria ein primärer pathogener Prozess oder
das Resultat von verstärkter Entzündungsaktivität ist,
konnte bisher noch nicht geklärt werden. Aus experi-
mentellen Studien ist bekannt, dass Thrombin durch
direkte Einwirkung auf Endothelzellen und auch indi-
rekt durch Stimulierung der Mastzelldegranulation die
vaskuläre Permeabilität erhöht.
Mit Antikoagulation (Vitamin-K-Antagonisten oder
Heparin) konnten bei chronischer Urtikaria Remissio-
nen erzielt werden, berichtete Dr. Asero. Er selbst führte
eine Pilotstudie durch, in der Patienten mit therapie-
resistenter, schwerer chronischer Urtikaria gerinnungs-
hemmend und fibrinolysehemmend behandelt wurden
(3). Die chronische Urtikaria ist bei Patienten mit
erhöhten D-Dimer-Plasmaspiegeln oft schwerer und
spricht weniger gut auf Antihistaminika an. In der
Studie hatten 8 Patienten nicht ausreichend auf ein
Antihistaminikum in erhöhter Dosierung (Cetirizin 30 mg
pro Tag) und systemische Steroide angesprochen, und
sie wiesen erhöhte D-Dimer-Plasmaspiegel auf (3). Wäh-
rend zweier Wochen erhielten diese acht Patienten nie-
dermolekulares Heparin (Nadroparin) und antifibrino-
lytisch wirksame Tranexamsäure (hemmt die Umwand-
lung von Plasminogen in Plasmin, welches Fibrin
spaltet). Durch diese Behandlung konnte bei fünf der
acht Patienten eine deutliche Besserung der Urtikaria-
symptome erreicht werden. Die Gerinnungsaktivierung
kann offenbar als Verschlimmerungsfaktor bei chroni-
scher Urtikaria eine Rolle spielen, so Dr. Asero.
●
Alfred Lienhard
Redaktioneller Bericht ohne Sponsoring.
Referenzen:
1. Zuberbier T et al. S3-Leitlinie Urtikaria, Teil 1: Klassifikation und Diagnostik der Urtikaria – deutschsprachige Version der internationalen S3-Leitlinie. Allergo J 2011; 20: 249–258.
2. Chen YJ et al. Cancer risk in patients with chronic urticaria: a population-based cohort study. Arch Dermatol 2012; 148: 103–108.
3. Asero R et al. Heparin and tranexamic acid therapy may be effective in treatment-resistant chronic urticaria with elevated d-dimer: a pilot study. Int Arch Allergy Immunol 2010; 152: 384–389.
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