Transkript
FORTBILDUNG
Update Nahrungsmittelallergien
Neuigkeiten zur Pathophysiologie, Prävention und Therapie
Primäre Nahrungsmittelallergien kommen durch direkte Sensibilisierung auf klassische, verdauungsresistente Nahrungsmittelallergene über den Gastrointestinaltrakt zustande. In Zentraleuropa tritt aber eine zweite Form von Nahrungsmittelallergien häufiger auf: Nahrungsmittelallergien aufgrund von Kreuzreaktionen mit inhalativen Allergenen. Kreuzreaktionen erklären auch das Phänomen, dass bereits bei der ersten Einnahme eines bestimmten Nahrungsmittels eine allergische Reaktion auftreten kann. Bisherige Studien zur spezifischen Immuntherapie (SIT) von birkenpollenassoziierten Nahrungsmittelallergien ergaben uneinheitliche Resultate. Möglicherweise müssen für gute Erfolge der SIT bei Nahrungsmittelallergien höher dosierte Extrakte des kreuzreagierenden Pollenallergens eingesetzt werden im Vergleich zu den Extrakten, die zur Besserung von Atemwegsallergien üblich sind. Über Pathophysiologie, Prävention und Therapie von Nahrungsmittelallergien sprachen Experten an der Tagung DDG KOMPAKT 2012 in Berlin.
Sowohl die Essgewohnheiten als auch die Exposition gegenüber bestimmten Pollen beeinflussen die regionale Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien. Im Erwachsenenalter sind allergische Reaktionen überwiegend gegen pflanzliche Nahrungsmittel gerichtet, seltener gegen tierische. Wahrscheinlich aufgrund der Essgewohnheiten ist beispielsweise in Griechenland Sesam der Hauptauslöser von Nahrungsmittelallergien, in der Schweiz dagegen der Sellerie, der geradezu als helvetisches Nationalallergen bezeichnet werden kann, wie Prof. Dr. Barbara Ballmer-Weber, Allergiestation der Dermatologischen Klinik, Universitätsspital Zürich, berichtete.
Haselnussallergie in Europa an der Spitze
Im epidemiologischen Teil des EuroPrevall-Projektes (The Prevalence, Cost and Basis of Food Allergy across Europe) konnten folgende Nahrungsmittel als Hauptauslöser von Allergien bei Erwachsenen eruiert werden: Haselnuss, Apfel, Pfirsich, Kiwi, Karotte. Haselnuss ist das häufigste allergene Nahrungsmittel Europas. Die Birkenpollenexposition beeinflusst die Prävalenz von Nahrungsmittelallergien stark, zudem spielt die Kreuzreaktivität zwischen dem Birkenpollenprotein Bet v 1 und dem homologen Protein der Haselnuss (Cor a 1) für die Prävalenz klinischer Manifestationen eine wichtige Rolle. Die Haselnuss enthält neben den pollenabhängigen Allergenen Cor a 1 und Cor a 2 (Profilin) auch pollenunabhängige, verdauungsresistente Proteine wie das Lipidtransferprotein (LTP) Cor a 8 sowie verschiedene Speicherproteine (z.B. Cor a 9, Cor a 11). Eine Haselnussallergie kann als Kreuzreaktion zwischen Bet v 1 und dem homologen Haselnussprotein Cor a 1 erworben werden. Es kann sich aber auch um eine primäre Sensibilisierung gegen Cor a 8, Cor a 9 oder Cor a 11 handeln mit tendenziell schwereren allergischen Reaktionen (Systemreaktionen). Während in Nord- und Zentraleuropa die allergische Erkennung von Cor a 1 im Vordergrund steht, richtet sich die Sensibilisierung in Südeuropa vor allem gegen das LTP. Wahrscheinlich bewirke in Südeuropa das Pfirsich-LTP Pru p 3 die initiale Sensibilisierung gegen das Haselnuss-LTP Cor a 8, berichtete Barbara Ballmer-Weber. Profiline sind kleine, Aktin-bindende Proteine, die im Zytoplasma bei der Funktion intrazellulärer Fibrillen eine Rolle spielen. Bei vielen Nahrungsmittelallergien sind im Blut von Südeuropäern mehr IgE-Antikörper gegen Nahrungsmittelprofiline zu finden als bei Nordeuropäern. Die Gräserpollen haben sich als die potentesten Initiatoren von Profilinsensibilisierungen erwiesen. In Südeuropa sei die Gräserpollenexposition viel höher als in Nordeuropa, sagte die Referentin.
Neue Regeln zur Prävention von Nahrungsmittelallergien
Auf dem Gebiet der Prävention von Nahrungsmittelallergien fand in letzter Zeit ein Umdenken statt, berichtete Dr. Torsten Schäfer, Dermatologische Praxis, Immenstadt im Allgäu. Noch vor wenigen Jahren wurden Verzögerung und Restriktion propagiert – Verzögerung der Beikosteinführung und Restriktion bei potenten
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Nahrungsmittelallergien
Nahrungsmittelallergie: neue Präventionsaspekte
• Für die Mütter gibt es bei der Nahrungsmittelauswahl in Schwangerschaft und Stillzeit keine Restriktionen mehr.
• Es wird empfohlen, Säuglinge während 4 Monaten ausschliesslich zu stillen.
• Wenn Stillen nicht möglich ist, wird bei Risikokindern mit familiärer Vorbelastung in den ersten 4 Lebensmonaten Hydrolysatnahrung zur Prävention des atopischen Ekzems empfohlen.
• Verzögerung der Einführung von Beikost über den 4. Lebensmonat hinaus ergibt keinen präventiven Zusatznutzen.
• Probiotika haben nach bisherigem Kenntnisstand keinen präventiven Effekt auf Nahrungsmittelallergien.
• Sojabasierte Säuglingsnahrung ist ungeeignet zur Prävention.
• Wahrscheinlich erhöht medikamentöse Magensäurehemmung das Allergierisiko gegenüber gewissen Nahrungsmittelallergenen (z.B. Fischprotein).
(nach Dr. Torsten Schäfer)
Nahrungsmittelallergenen im Essen der Mütter während Schwangerschaft und Stillzeit. Das Dogma der verzögerten Beikosteinführung sei heute nicht mehr haltbar, so der Referent. Zwei deutsche Kohortenstudien (LISA und GINI) ergaben keine Hinweise darauf, dass eine Verzögerung der Beikosteinführung über den 4. Lebensmonat hinaus von zusätzlichem Nutzen ist gegenüber der derzeit gültigen Empfehlung, mit Beikost nach dem vollendeten 4. Lebensmonat zu beginnen. Neue Untersuchungen legen sogar die Schlussfolgerung nahe, dass die frühere Einführung sinnvoll sein kann. In einer israelischen Fall-Kontroll-Studie wurde der Zeitpunkt der ersten Einführung von Kuhmilch analysiert (1). Es zeigte sich eine umso geringere Prävalenz von Kuhmilchallergie, je früher die Kuhmilch eingeführt wurde. In Tierversuchen konnte durch frühe Allergenexposition Toleranz induziert werden. Derzeit wird in England der präventive Nutzen einer frühzeitigen Einführung von Erdnüssen in den Speiseplan von Risikokindern untersucht. Im Rahmen der prospektiven, randomisierten LEAP-Studie erhalten Risikokinder bereits im 1. Lebensjahr definierte Mengen Erdnuss zu essen. Studienendpunkt sind Erdnussallergien im Alter von 5 Jahren. Die Studienresultate, die voraussichtlich im Jahr 2013 vorliegen werden, sollen die Frage beantworten, ob die frühe Einführung von Erdnüssen wirklich Toleranz induziert.
Erhöht medikamentöse Magensäurehemmung das Allergierisiko?
Es ist nicht belegt, dass Diätrestriktionen während Schwangerschaft und Stillzeit zur Prävention von Atopiemanifestationen beim Kind taugen und die kindliche Sensibilisierung gegen Kuhmilch und Hühnerei reduzieren. Während bei Fisch als potentem Nahrungsmittelallergen früher Restriktionen empfohlen wurden, haben aktuelle Kohortenstudien gezeigt, dass sowohl der Fischkonsum der Mutter als auch Fisch im Kinderessen im ersten Lebensjahr das Risiko der allergischen Sensibilisierung signifikant senkt. Deshalb wird derzeit Fisch in Schwangerschaft und Stillzeit sowie bei Kindern im Rahmen der Beikost empfohlen, wie Torsten Schäfer sagte. Hydrolysatnahrung kann bei Risikokindern das atopische Ekzem verhindern. Bezüglich der Prävention von Nahrungsmittelallergien zeigten sich aber in der GINI-Studie keine Effekte. Die Resultate von 2 älteren Studien sind widersprüchlich. Die Hypothese, dass Probiotika vor der Entwicklung von Nahrungsmittelallergien schützen könnten, ist nicht durch Daten untermauert. Beim atopischen Ekzem konnte dagegen für Probiotika in einer Zusammenfassung mehrerer skandinavischer Studien eine 20-prozentige Risikoreduktion gezeigt werden. Mit sojabasierter Säuglingsnahrung gelingt es nicht, Nahrungsmittelallergien, das atopische Ekzem, Heuschnupfen oder Asthma zu verhindern. Auch Medikamente können die Entwicklung von Allergien beeinflussen. Medikamentöse Magensäurehemmung bewirkt im Magen eine Verschiebung des pH-Wertes. Es gibt Nahrungsmittelantigene, die im Magen unabhängig von pH-Änderungen immer sehr labil, und andere, die immer sehr stabil sind. Gewisse Nahrungsmittelantigene wie Fischproteine reagieren dagegen auf pH-Änderungen im Magen und bleiben bei einer pH-Erhöhung länger stabil. Dadurch könnten Sensibilisierungen begünstigt werden. Bei erhöhtem pH wird die Verdauung gewisser Nahrungsmittelproteine (z.B. Parvalbumin von Fisch) gehemmt, weil Pepsin ungenügend aktiviert wird (2). Persistierendes Protein kann dann eine Sensibilisierung und allergische Symptome auslösen. Epidemiologische und tierexperimentelle Resultate sprechen dafür, dass die medikamentöse Magensäurehemmung zur Entwicklung von Nahrungsmittelallergien beiträgt. In der Schwangerschaft wird dadurch möglicherweise auch das Allergierisiko des Kindes erhöht. Weitere Untersuchungen zur medikamentösen Magensäurehemmung als Risikofaktor für Nahrungsmittelallergien seien erforderlich, sagte der Referent.
Nützt SIT bei pollenassoziierter Nahrungsmittelallergie?
Bei vielen Patienten mit Birkenpollenallergie besteht auch eine pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie, die sich besonders beim Konsum von Äpfeln, Haselnüssen oder proteinreichen Sojaprodukten (z.B. Sojadrinks) bemerkbar macht. In 6 Studien wurde untersucht, ob
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Nahrungsmittelallergien
die bei Birkenpollenallergikern vorhandene pollen-
assoziierte Nahrungsmittelallergie mit spezifischer
Immuntherapie (subkutan oder sublingual) erfolgreich
behandelt werden kann. Alle 6 Studien kontrollierten
das Therapieresultat mittels oraler Nahrungsmittelpro-
vokationstestung. In 3 Studien waren Therapieerfolge
zu verzeichnen, in den übrigen 3 Studien dagegen
nicht. Lediglich 2 der 6 Studien verwendeten den Gold-
standard, nämlich die doppelt verblindete, plazebo-
kontrollierte Nahrungsmittelprovokationstestung mit
Schwellenwertbestimmung. Eine dieser beiden Studien
kam zu positiven, die andere zu negativen Resultaten,
berichtete PD Dr. Regina Treudler, Klinik für Dermato-
logie, Venerologie und Allergologie, Universitätsklini-
kum, Leipzig.
Weltweit liegen bisher noch keine Resultate von Studien
vor, die sowohl die Intervention (SIT) als auch die Nah-
rungsmittelprovokationstestung doppelt verblindet,
plazebokontrolliert durchgeführt haben. Aufgrund der
bisher vorliegenden Studienresultate bleibt es unklar,
ob eine SIT bei pollenassoziierter Nahrungsmittelaller-
gie hilfreich ist. Es wird spekuliert, dass die bisher im
Rahmen der SIT applizierte Birkenallergendosis mög-
licherweise nicht genügend hoch war, um klinisch rele-
vante immunologische Effekte auf das Kreuzallergen
von Apfel oder Haselnuss zu erzielen. Wenn der Thera-
pieerfolg eine Frage der Dosis ist, müssten für eine
erfolgreiche SIT bei pollenassoziierter Nahrungsmittel-
allergie höhere Allergendosen gewählt werden als die
üblicherweise zur Besserung allergischer, pollenindu-
zierter Atemwegsbeschwerden eingesetzten Dosen. In
Untersuchungen zur Wirkung der SIT auf birkenpol-
lenassoziierte Nahrungsmittelallergien wurden bisher
Allergenextrakte mit 12,5 bis 25 Mikrogramm Haupt-
allergen verwendet.
Zur Klärung der Dosisfrage wird derzeit eine multizen-
trische, randomisierte, plazebokontrollierte, doppel-
blinde Therapiestudie durchgeführt, an der sich neben
bis jetzt 13 deutschen Zentren auch die Allergiestation
der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals
Zürich beteiligt. Die BASALIT-Studie (birkenassoziierte
Sojaallergie und Immuntherapie) untersucht am Bei-
spiel der birkenassoziierten Sojaallergie, ob ein hoch-
dosierter Extrakt mit 80 Mikrogramm der gefalteten
Variante (FV) des rekombinanten Bet v 1 den Erfolg der
SIT verbessert. Die subkutane SIT wird während eines
Jahres durchgeführt. Zuvor und danach erfolgt eine
doppelt verblindete, plazebokontrollierte Nahrungs-
mittelprovokationstestung mit Schwellenwertbestim-
mung unter Verwendung einer zentral hergestellten
Provokationsmahlzeit mit kontrolliertem Allergen-
gehalt (Gly m 4) im Sojamehl.
●
Alfred Lienhard
Redaktioneller Bericht ohne Sponsoring.
Referenzen:
1. Katz Y et al. Early exposure to cow’s milk protein is protective against IgEmediated cow’s milk protein allergy. J Allergy Clin Immunol 2010; 126: 77–82.
2. Pali-Schöll I et al. Anti-acid medication as a risk factor for food allergy. Allergy 2011; 66: 469–477.
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Dermatologie-Kongress-Stadt Berlin
Franz Werfel in der Baumhaut
Was hat es mit den eigenartigen Baumstämmen auf
sich, die an einer Strassenkreuzung in Prenzlauer Berg,
Berlin, eng zusammenstehen? Da herrscht eifriges
Kommen und Gehen. Aufmerksam werden die Haut-
veränderungen der Baumstämme mit leicht seitlich geneig-
tem Kopf inspiziert. Dann folgen die Palpation
und ein rascher Griff ins Innere. Hinter einer transparenten
Plastikklappe kommen zwei Bände Weltliteratur zum
Vorschein: «Die vierzig Tage des Musa Dagh» von Franz
Werfel, 1933 erstmals erschienen. Das Thema des Werkes,
der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich
von 1915 bis 1917, ist bis heute ein wichtiger Streitpunkt
in der internationalen Politik geblieben. Die beiden
Taschenbücher aus dem Berliner «Bücherwald» riechen
zudem nach deutscher Geschichte. Sie wurden 1978 in der
DDR im Aufbau-Verlag als Ausgabe für die sozialistischen
Länder herausgegeben und nach der Wende in den
Kreislauf des Büchertauschens, des Bookcrossing, ein-
geschleust. In der Baumhaut an der Kreuzung Sredzki-
strasse/Kollwitzstrasse in Prenzlauer Berg steht kostenlos
auch ganz andere Lektüre für jeden Geschmack und jede
Lebensphase bereit.
AL
Referenz:
Lucia Jay von Seldeneck et al. 111 Orte in Berlin, die man gesehen haben muss. Emons-Verlag 2011. ISBN 978-3-89705-853-8.
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