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JUCKREIZ
Pruritus im Alter
Ursachen und Therapiemöglichkeiten Von Elke Weisshaar
Chronischer Pruritus im Alter kann nicht nur Sym-
ptom einer Dermatose, sondern auch einer schwe-
ren systemischen Erkrankung sein. Somit erfordert er
eine sorgfältige Diagnostik. Das Symptom weist häu-
fig keinen synchronen Verlauf mit der Grunderkran-
kung auf, sondern kann dieser vorausgehen oder
auch nach Beseitigung der Ursache persistieren. Zur
symptomatischen Therapie stehen lokale Antiprurigi-
nosa und systemische Medikamente zur Verfügung.
Bei Letztgenannten ist zu berücksichtigen, dass diese
häufig ausserhalb der zugelassenen Indikationen
eingesetzt werden müssen (off label use).
Pruritus (Juckreiz) ist das häufigste Symptom in der Dermatologie und kann generalisiert oder lokalisiert (z.B. genitaler Pruritus) auftreten. Chronischer Pruritus ist definiert als Juckreiz, der mindestens 6 Wochen lang anhält (1). Dieser beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich und ist häufig von schweren Schlafstörungen, Unruhe und manchmal schwer zu beeinflussenden Kratzattacken begleitet. Über die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung fehlen genaue Studien. Eine deutsche Pilotstudie zeigte, dass 13,9 Prozent zum Zeitpunkt der Befragung an chronischem Pruritus litten, 16,5 Prozent der Befragten gaben an, in den vorausgegangenen
12 Monaten an chronischem Pruritus gelitten zu haben (2). Dies demonstriert, dass chronischer Pruritus wahrscheinlich häufiger als bisher angenommen in der Allgemeinbevölkerung vorkommt. Gemäss ausländischen Untersuchungen litten 11,5 Prozent der über 65-Jährigen und 19,5 Prozent der über 85-Jährigen an Pruritus im Rahmen dermatologischer Erkrankungen, wobei Xerosis cutis (trockene Haut) als besonders häufige Ursache identifiziert wurde (3, 4).
Klinische Manifestationen
Pruritus veranlasst die Patienten zum Kratzen, Scheuern, Reiben oder Drücken der Haut. Daher bilden sich oft neben den im Rahmen einer Dermatose bestehenden Effloreszenzen auch kratzbedingte Hauterscheinungen wie Exkorationen, Erosionen, Krusten, Verdickungen und Vergröberungen der Haut. Dabei kann sich auch eine Prurigo nodularis manifestieren, die durch starken Pruritus und sekundäre Ausbildung von exkoriierten Knötchen und Knoten charakterisiert ist (Abbildung). Der Dermatologe ist bei solchen Hautbefunden ganz besonders gefordert, die vorliegenden dermatologischen Befunde einzuordnen und weitere Untersuchungen und Therapien zu veranlassen. Pruritus stellt als interdisziplinäres Symptom auch eine Herausforderung in der täglichen Praxis für Ärzte in der inneren Medizin, Allgemeinmedizin, Neurologie, Gynäkologie, Psychosomatik und Psychiatrie dar.
Diagnostik
Die gründliche Anamnese sowie die dermatologische und allgemeine körperliche Untersuchung haben einen hohen Stellenwert. Beginn, zeitlicher Verlauf, Qualität, Schwere, Lokalisation und Provoka-
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phomen oder bei neu erworbenen Dermatosen wie
Ekzemen, Skabies oder Urtikaria auftreten (6).
Auch bei internistischen Erkrankungen kann Jucken
ein wichtiges Symptom sein (6, 7). Nieren- und
Lebererkrankungen können ebenso wie hämatolo-
gische, neurologische und endokrinologische Er-
krankungen mit Pruritus einhergehen. Eisenmangel
wird immer wieder als Triggerfaktor bei chroni-
schem Pruritus beobachtet. Dieser kann bei älteren
Männern mit generalisiertem Jucken Folge einer
malignen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen
Abbildung: Schwere Prurigo nodularis bei einem 75-jährigen Mann
Lebererkrankung sein. Gerade bei Menschen im höheren Alter hat der chro-
nische Pruritus häufig mehrere Ursachen: zum Bei-
tionsfaktoren (z.B. körperliche Aktivität, Wasserkon- spiel Xerosis cutis, Mangelerscheinungen oder en-
takt) des Juckempfindens und die eigene Theorie dokrinologische Erkrankungen. Medikamente ver-
der Patienten sollten abgefragt werden, da sich hier- ursachen in Form kutaner Arzneimittelreaktionen
durch bereits wichtige Differenzialdiagnosen erge- erheblichen akuten Pruritus (z.B. urtikarielle Arznei-
ben können.
mittelexantheme), führen aber auch bei 5 Prozent
Es gibt keine Laboruntersuchungen, die als allge- der medikamenteninduzierten kutanen Nebenwir-
meingültiges Screening für das Leitsymptom «Pruri- kungen zu chronischem Pruritus ohne Hauterschei-
tus» eingesetzt werden könnten. Blutuntersuchun- nungen. Dabei ist der hydroxyethylstärke-(HES-)in-
gen, bakteriologische und mykologische Abstriche, duzierte Pruritus zu beachten, der bei bis zu
Hautbiopsien und weitere Untersuchungen wie 50 Prozent der mit HES Behandelten (z.B. wegen
zum Beispiel Röntgen und Sonografie sind in Ab- Tinnitus, Hörsturz) auftreten kann. Bei etwa 8 Pro-
hängigkeit von der Anamnese, der körperlichen Un- zent der Prurituspatienten bleibt die Ursache des
tersuchungsbefunde und der Verdachtsdiagnose chronischen Pruritus trotz intensiver Diagnostik un-
durchzuführen (5).
geklärt.
Der behandelnde Arzt sollte die psychischen
Aspekte des Pruritus nicht unterschätzen, diese in der Anamnese gezielt abfragen und auf die indivi-
Therapeutische Möglichkeiten
duellen Bedürfnisse des Patienten eingehen. Bei Ver- Topische Therapien
dacht auf eine psychiatrische Erkrankung oder wenn Zu den allgemeinen symptomatischen Massnahmen
keine somatische Ursache des Pruritus zu finden ist, der Pruritustherapie zählen hautpflegende topische
sollte nur durch eine entsprechende fachärztlich- Massnahmen und eine spezifische Lokaltherapie in
psychiatrische Untersuchung die Diagnose «somato- Abhängigkeit vom individuellen Hautzustand. Die
former Pruritus oder psychogener Pruritus» gestellt pflegend-hydratisierende Rückfettung der Haut hat
und dann gegebenenfalls fachärztlich therapiert einen hohen Stellenwert, insbesondere bei trocke-
werden.
ner Haut. Eine zusätzliche Austrocknung durch Wa-
Die Erfassung der Pruritusstärke ist schwierig und schen, Baden und Duschen lässt sich durch die Ver-
stellt bis heute eine Herausforderung dar. Das Juck- wendung von rückfettenden Waschsyndets, Dusch-
empfinden ist subjektiv und zeigt neben interindivi- und Badeölen und durch kurzes Duschen vermei-
duellen Unterschieden auch intraindividuelle den. Anschliessend sollte die Haut sofort eingecremt
Schwankungen, zum Beispiel infolge Müdigkeit, werden. Insbesondere harnstoffhaltige Externa in
Angst, Stress und Depressionen. Die Befragung per einer Konzentration von 5 oder 10 Prozent sind gut
Fragebogen kann hilfreich sein und dem Arzt die Zu- einsetzbar und können den Juckreiz mindern, soll-
ordnung und Interpretation des Beschwerdebilds er- ten aber wegen möglichen Brennens nicht auf
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leichtern.
offene Hautstellen aufgetragen werden.
Weitere symptomatische antipruriginöse Therapien
Häufige Ursachen des chronischen Pruritus
sind Menthol (z.B. Coldcreme), Kampfer, Polidocanol (als Lotion, Creme oder Fettcreme, z.B. in Antidry® calm Lotion, Optiderm®, Prurimed®) und Gerb-
Generalisierter Pruritus kann bei einer grossen Pa- stoffe (als Creme, z.B. Tanno-Hermal Creme).
lette von Dermatosen wie zum Beispiel atopischer Je nach klinischem Bild und Diagnose müssen anti-
18 Dermatitis (AD), Psoriasis vulgaris, kutanen Lym- mikrobielle Substanzen, Antimykotika und antipa-
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rasitäre Externa eingesetzt werden. Topischen Antihistaminika sind zunehmend häufiger Cremes und Salben zur Juckreizlinderung zugesetzt, allerdings ist ihre Wirksamkeit nicht nachgewiesen. Bufexamac (Parfenac®) ist ein nichtsteroidales Antiphlogistikum, das zur Therapie von Ekzemen und Dermatitiden verschiedener Genese eingesetzt werden kann, aber aufgrund der häufigen Auslösung allergischer Kontaktekzeme nicht empfohlen wird. Leichte bis mittelstarke Glukokortikosteroide wie zum Beispiel Hydrocortison, Prednicarbat, Mometasonfuroat und Methylprednisolon können bei entzündlichen Dermatosen eingesetzt werden. Stark wirksame Glukokortikosteroide wie zum Beispiel Clobetasolpropionat, Triamcinolonacetonid und Betamethasonvalerat sollten nur mit Zurückhaltung und nicht an Arealen wie Gesicht und Genitalbereich zur Anwendung kommen. Topische Immunmodulatoren wie Tacrolimus-0,03-Prozent- oder -0,1Prozent-Salbe (Protopic®) und Pimecrolimus1-Prozent-Creme (Elidel®) sind für die Therapie der atopischen Dermatitis zugelassen, werden aber zunehmend auch bei anderen Juckreizformen wie zum Beispiel dem genitalen Juckreiz eingesetzt. Teerhaltige Externa wie zum Beispiel Liquor carbonis detergens 5 Prozent oder 10 Prozent wirken bei Ekzemerkrankungen und Psoriasis antipruriginös. Capsaicin hat zum Beispiel bei Prurigo nodularis, Lichen simplex, HES-induziertem Juckreiz und Notalgia paraesthetica gute juckreizstillende Wirkung. Diese Therapie sollte nur nach sorgfältiger Aufklärung erfolgen, denn die topische Capsaicintherapie muss 5-mal täglich angewendet werden und kann in den ersten Behandlungstagen mit Brennen einhergehen. Ausserdem wird das magistral rezeptierte Capsaicin in steigender Konzentration von 0,025 bis 0,5 Prozent angewandt.
Systemische Therapien H1-Antihistaminika werden bei juckenden Erkrankungen wie zum Beispiel Urtikaria und allergischen Erkrankungen, die über Histaminfreisetzung vermittelt werden, eingesetzt. Antihistaminika haben jedoch bei chronischem Pruritus im Alter, der nicht hauptsächlich über Histamin vermittelt ist, meist nur eine eingeschränkte Wirksamkeit (8, 9). Der kurzfristige Einsatz systemischer Glukokortikosteroide kann zur Behandlung schwerer oder exazerbierter juckender Erkrankungen – zum Beispiel atopische Dermatitis oder bullöses Pemphigoid – notwendig sein. Hier sollte auf nicht methylierte Glukokortikosteroide wie zum Beispiel Prednisolon
in einer Anfangsdosis von 0,5 bis 2 mg/kg KG/Tag
und als Erhaltungsdosis 0,1 bis 0,5 mg/kg KG/Tag zu-
rückgegriffen werden.
Die UV-Fototherapie (z.B. UV-B-Bestrahlung) hat in
der Behandlung von juckenden Dermatosen, urämi-
schem Pruritus, Polycythaemia vera, M. Hodgkin
und HIV-assoziiertem Pruritus einen hohen Stellen-
wert (5). Sie sollte aber nur nach sorgfältiger Auf-
klärung der Patienten durchgeführt werden (z.B.
fototoxische Wirkung) und kann nur bei mobilen
Patienten realisiert werden.
Opioidrezeptorantagonisten wie Naltrexon (Naltre-
xin®) können oral in einer Dosierung von 50 bis
150 mg täglich bei asteatotischem Ekzem, Prurigo
nodularis, Lichen simplex, cholestatischem Pruritus
oder Pruritus unklarer Ätiologie eingesetzt werden,
bei urämischem Pruritus ist die Datenlage wider-
sprüchlich (5). Es ist auf gastrointestinale Nebenwir-
kungen, insbesondere auf die bei älteren Menschen
relevanten Nebenwirkungen wie Schwindel und
Müdigkeit, zu achten. Gabapentin (Neurontin® oder
Generika) ist ein Antikonvulsivum, das bei urämi-
schem Pruritus in einer Dosierung von 3-mal 100 mg
pro Woche und bei neuropathischem Pruritus und
HES-induziertem Pruritus in einer Dosierung von
3-mal 300 mg bis 3-mal 600 mg täglich eingesetzt
werden kann. Serotoninwiederaufnahme-Hemmer
(SSRI) wie Paroxetin (Deroxat® oder Generika)
10 bis 40 mg täglich können bei Polycythaemia vera,
somatoformem, paraneoplastischem, unklarem Pru-
ritus und auch bei Pruritus im Alter eingesetzt wer-
den. Cyclosporin A zeigte in einer offenen unkon-
trollierten Studie bei 10 Patienten mit chronischem
Pruritus im Alter einen guten antipruriginösen Ef-
fekt (10). Hier sind engmaschige Blutdruckkontrol-
len erforderlich.
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Korrespondenzadresse: apl. Prof. Dr. med. Elke Weisshaar Abteilung Klinische Sozialmedizin Schwerpunkt: Berufs- und Umweltdermatologie Universitätsklinikum Heidelberg D-691151 Heidelberg
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 17/2009. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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Literatur:
1. Ständer S, Weisshaar E, Mettang T, Streit M, Darsow U, Schneider G, Metze D, Schmelz M (2006) Klinische Klassifikation von chronischem Pruritus: Ein Interdisziplinärer Konsensusvorschlag für einen diagnostischen Algorithmus. Hautarzt; 57: 390–394.
2. Matterne U, Strassner T, Apfelbacher C, Diepgen TL, Weisshaar E (2009) Measuring the prevalence of itch in the general population: a pilot study. Acta Derm Venereol; 89: 250–256.
3. Yalcin B, Tamer E, Toy GG, Oztas P, Hayran M, Alli N (2006) The prevalence of skin diseases in the elderly: analysis of 4099 geriatric patients. Int J Dermatol; 45: 672-6.
4. Thaipisuttikul Y (1998) Pruritic skin diseases in the elderly. J Dermatol; 25: 153–7.
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