Transkript
ALLERGIE
«Das wächst sich aus!»
Mythen und Realitäten des kindlichen Asthma bronchiale Von Hans-Joachim Mansfeld
Asthmaerkrankungen nehmen vor allem bei den unter 20-Jährigen weltweit zu. Sie führen oft zu dauerhaft beeinträchtigter körperlicher Leistungsfähigkeit, massiv eingeschränkten schulischen und beruflichen Qualifikationschancen sowie verminderter Lebensqualität bis zu vorzeitiger Invalidisierung. Nur 30 Prozent der Betroffenen haben Aussicht auf einen günstigen Spontanverlauf. Umso wichtiger sind neben der Frühdiagnostik jugendspezifische geeignete Formen von Behandlung und Schulung der aktuellen ganzheitlichen Therapiekonzepte, die sich in den letzten Jahren eindrücklich verbessert haben.
Epidemiologie
Allergische Erkrankungen der Atemwege und der Haut zählen heute zu den grossen Volkskrankheiten und stellen gerade im Kindes- und Jugendalter besonders wichtige und seit einigen Jahrzehnten in deutlicher Zunahme begriffene chronische Erkrankungen dar. Asthma bronchiale sowie Allergien der oberen Atemwege wie allergische Rhinitis haben dementsprechend in der Kinder- und Jugendlichenmedizin einen hohen Stellenwert, da sie sich in diesen Altersstufen nahezu doppelt so häufig wie bei Erwachsenen manifestieren: ● 8 bis 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen lei-
den je nach Region und Alter unter einem temporären oder persistierenden Asthma bronchiale ● 10 bis 15 Prozent weisen Allergien der oberen Atemwege auf, welche in 30 bis 50 Prozent als der Vorläufer eines Asthma bronchiale angesehen werden müssen.
Definition
Asthma bronchiale wird definiert als «eine zu chronischem Verlauf neigende entzündliche Erkrankung der Atemwege mit bronchialer Hyperreagibilität und variabler Atemwegsobstruktion – typische Symptome sind Husten und Atemnot, welche anfallsartig oder persistierend auftreten und sich spontan oder unter Therapie zurückbilden können». Auch während subjektiv beschwerdefreier Intervalle besteht häufig eine ganzjährig nachweisbare bronchiale Hyperreagibilität, auf deren Basis unterschiedliche Auslöser wie Allergene, Infekte, Schadstoffbelastun-
21
medicos 2/2009
ALLERGIE
«Jugendliche benötigen eigene Formen der Schulung im Umgang mit Allergien und Asthma.»
gen, körperliche Anstrengung sowie psychische Faktoren jederzeit erneut zu Ruhe- oder Belastungsbeschwerden führen können. Die weltweite Zunahme der Asthmaerkrankungen ist vor allem bei unter 20-Jährigen eindrücklich: Asthmaerkrankungen verursachen ein Drittel aller krankheitsbedingten Schulabsenzen und führen im späteren Krankheitsverlauf häufig zu dauerhaft beeinträchtigter körperlicher Leistungsfähigkeit, massiv eingeschränkten schulischen und beruflichen Qualifikationschancen sowie verminderter Lebensqualität und – nicht selten – vorzeitiger Invalidisierung. Asthma bronchiale und allergische Rhinitis gehören zu den «atopischen» Erkrankungen, welche aufgrund genetischer Disposition eine deutliche familiäre Häufung aufweisen. Die Anfänge chronischobstruktiver Erkrankungen bei Erwachsenen können in der Regel bis in das Kindes-, meist sogar Kleinkindesalter zurückverfolgt werden. Bereits während der ersten Lebensjahre eines Kindes wird der spätere Krankheitsverlauf durch individuelle Rahmenbedingungen entscheidend geprägt. Durch Frühdiagnostik, rechtzeitig einsetzende, suffiziente und konsequente Therapie können mit den heute zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten schwere progrediente Verläufe vermieden und optimale Bedingungen für eine dauerhafte, unter Umständen lebenslange Symptomfreiheit geschaffen werden.
stellung «Asthma bronchiale» ist die individuelle Krankheitsprognose in jedem Fall unsicher, denn nur etwa 30 Prozent der Betroffenen haben Aussicht auf einen günstigen Spontanverlauf mit bis zur Adoleszenz tendenziell abnehmender Symptomatik und längeren beschwerdefreien Intervallen.
Mythos: Geduld, Abwarten und Beobachten – bis zur Pubertät «wächst sich alles aus»! Die immer noch verbreitete Ansicht, die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen verliere ihr Asthma im Rahmen von Pubertät und Adoleszenz, wird durch Langzeitstudien nicht bestätigt. Mit günstigem Spontanverlauf und zumindest temporären Remissionen darf nur in zirka 30 bis 40 Prozent der Fälle gerechnet werden. Schwere Asthmaformen mit frühzeitig imponierenden, partiell irreversiblen Lungenfunktionsverlusten sowie perennialer schwergradiger bronchialer Hyperreagibilität, instabilem Verlauf und hohem Therapiebedarf persistieren bis ins Erwachsenenalter oder weisen einen chronischprogredienten Verlauf mit zunehmendem Umbau der Bronchialschleimhaut (Remodeling) und bleibender Einschränkung wichtiger Lungenfunktionsparameter auf. Somit ist in der Realität das kindliche Asthma bronchiale in 60 bis 70 Prozent der Beginn eines progredienten und sich zunehmend chronifizierenden obstruktiven Atemwegsleidens des Erwachsenen mit zunehmend begrenzter therapeutischer Beeinflussbarkeit.
medicos 2/2009
Verlauf und Prognose
Ganzheitliche Therapiekonzepte
Etwa 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind Moderne Erkenntnisse über Ursachen, Auslöser
heute manifest erkrankte oder aber hochgradig und Krankheitsabläufe des Asthma bronchiale 22 gefährdete Atopiker. Zum Zeitpunkt der Diagnose- sowie effiziente Behandlungsmöglichkeiten haben
ALLERGIE
in den letzten Jahren die Behandlungsprognose gerade des kindlichen und jugendlichen Asthma bronchiale in eindrücklicher Weise verbessert. Bei frühzeitiger Diagnose, subtiler Ursachenabklärung sowie vor allem konsequent durchgeführter Therapie kann zumindest die Entwicklung eines progredienten schweren Atemwegsleidens verhindert und eine weitgehend ungestörte körperliche und psychosoziale Entwicklung gesichert werden. Häufig kann auch eine weitgehende oder komplette Beschwerdefreiheit und in nicht wenigen Fällen eine dauerhafte Ausheilung erreicht werden. Aufgrund des chronischen Charakters der Krankheit ist Asthmabehandlung in der Regel ein über Jahre gehender Prozess, in dessen Verlauf regelmässige Kontrollen von Lungenfunktion, allergologischen Verhältnissen, medikamentöser Therapie sowie sich daraus häufig ergebender Notwendigkeit von Behandlungskorrekturen angezeigt sind. Die Behandlungsintensität kann umso niedriger gehalten werden, je frühzeitiger die Krankheit erkannt wird, je jünger das Kind ist und je weniger lange sich Inflammationsprozesse mit drohendem Remodeling in den Atemwegen etabliert haben.
Kernaussagen
● Asthma bronchiale ist die häufigste chronische Erkrankung des Kindesalters und häufig der Beginn eines chronischen Atemwegsleidens.
● Asthma bronchiale behindert die körperliche, seelische und psychosoziale Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen, begrenzt soziale Kontakte, beeinträchtigt Schulbesuche und Berufsausbildung.
● Asthma muss in frühen Krankheitsstadien erkannt, diagnostiziert und konsequent behandelt werden – eine ungewöhnlich verantwortungsvolle ärztliche und erzieherische Aufgabe, die das weitere Leben von Kindern und Jugendlichen grundsätzlich und entscheidend prägen wird.
● «Hoffen auf die Pubertät», in der sich das Asthma «auswächst», ist in aller Regel sinnlos und vergeudet wertvollste Jahre aussichtsreicher und hocheffizienter Therapie.
Jugendliche Asthmatiker – Risiken und Chancen
daher bestimmte Aspekte berücksichtigten: Jugendliche und junge Erwachsene brauchen neben der fa-
Gerade im Jugendalter nehmen akute und vital be- miliären Unterstützung eigene Formen von Behand-
drohende Gefährdungen jugendlicher Patienten lung und Schulung:
durch fehlerhafte Selbsteinschätzung und man-
gelnde Behandlung deutlich zu. In diesem Alter wer- ● Zentrale Instanz in der Sozialisation sowie im
den im Rahmen tiefgreifender körperlicher, seeli-
Gesundheitsverhalten ist die Familie
scher und sozialer Umstellungsprozesse besondere ● In hohem Mass wird das Verhalten durch die
Ansprüche an die Kenntnisse der Krankheitsursa-
eigene Altersgruppe geprägt
chen und Auslöser sowie der Einsicht in therapeu- ● Medien, TV und Internet stehen an der Spitze der
tische Notwendigkeiten gestellt. Da die Affinität zu
Freizeitaktivitäten der Jugendlichen. 50 Prozent
«Weisskitteln» in diesem Alter als denkbar gering
orientieren sich an Vorbildern und Idolen aus die-
eingeschätzt werden muss, sollte der erwähnten Pro-
sen Bereichen.
blematik im Rahmen auf jugendliche Ansprüche
und Bedürfnisse speziell zugeschnittener therapeu- Somit sollten jugendspezifische geeignete Formen
tischer Programme begegnet werden.
von Behandlung und Schulung folgende Vorausset-
Somit besteht im Jugendalter einerseits bei der zungen erfüllen:
Mehrzahl der jugendlichen Patienten die Notwen- ● Ärzte sind gefragt mit Ausdauer und Bereitschaft,
digkeit einer regelmässigen medikamentösen The-
auch inkonsequente und wechselhafte Entschei-
rapie, welcher andererseits ein dramatischer Rück-
dungen der Jugendlichen im Umgang mit der
gang der in regelmässiger medizinischer Betreuung
Erkrankung emotional zu ertragen. Jugendliche
medicos 2/2009
stehenden Jugendlichen gegenübersteht. Die Arzt-
wollen sich ernst genommen sehen und erwarten
kontakte beschränken sich meist auf sporadische
Grenzen, Richtlinien und Vorbildfunktionen.
Interventionen bei akuten Krisen.
● Für Jugendliche können in unterschiedlichen
Im Jugend- und Adoleszentenalter zwischen 12 und
Entwicklungsphasen ambulante oder auch sta-
25 Jahren entwickeln sich wesentliche Anteile im
tionäre Rehabilitationsmassnahmen äusserst sinn-
Selbstmanagement einer chronischen Erkrankung
voll und effizient sein, wenn sie sich spezifischer
wie Asthma bronchiale oder Neurodermitis. Eine
und altersbezogener Angebote bedienen – zum
24
sinnvolle Unterstützung der Jugendlichen muss
Beispiel «Jugendliche schulen Jugendliche». Die
ALLERGIE
Motivation muss durch ein altersentsprechendes Umfeld, «trendige» Themen und Aktivitäten gefördert werden. Positive Erfahrungen und Bewältigungsmuster können zum Beispiel im Rahmen von Jugendcamps oder anderen Events für Jugendliche etabliert werden. ● Klimaunterstützte Behandlungsmassnahmen in spezialisierten Kliniken unter allergenarmen Verhältnissen, wie sie zum Beispiel im Hochgebirge bestehen, können häufig bei unter wohnortnahen klimatischen Bedingungen nicht ausreichend gut beeinflussbaren Asthmaformen eine entscheidende Stabilisierung bewirken und die Voraussetzungen für weitergehende Heilungsprozesse schaffen. Neben subtiler allergologischer und lungenfunktioneller Diagnostik sowie individueller medikamentöser Therapieeinstellung muss das Therapiekonzept Besonderheiten wie Verhaltens-, Gesprächs- und Spieltherapie, Familien- und Erziehungsberatung, Stressbewältigung, Entspannungstherapie und autogenes Training ermöglichen.
● Jugendliche benötigen eigene Formen der Schulung im Umgang mit Allergien und Asthma – einerseits persönlichkeitsbezogene Themen und Ziele (Selbstmanagement), andererseits Vorstellungen und Erfahrungen der eigenen Altersgruppe, in deren Rahmen zum Beispiel selbst betroffene, erfahrene und gut geschulte Jugendliche Ansprechpartnerfunktion übernehmen können (Peergroup).
● «Gib Asthma ein Gesicht» – die starke Orientierung Jugendlicher an Vorbildern und Idolen, vor allem der Medien, kann in Kampagnen münden, in denen Schauspieler, Musiker, Sportler mit hohem Bekanntheitsgrad mit Asthma oder anderen Allergien ihre Erfahrungen und ihr «Gesicht» zur Verfügung stellen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Hans-Joachim Mansfeld Co-Chefarzt Allergieklinik – Zentrum für Kinder und Jugendliche an der Hochgebirgsklinik Davos, 7265 Davos-Wolfgang E-Mail: hansjoachim.mansfeld@hgk.ch
Interessenkonflikte: keine
medicos 2/2009
26