Transkript
Juckreiz Kratzen
JUCKREIZ
Pruritus – Teil 2: Therapie
von Paul Bigliardi
Die Therapie von akutem und chronischem
Juckreiz ist sehr verschieden, denn wie der
chronische Schmerz kann der chronische
Juckreiz das periphere Nervensystem grund-
legend verändern. Therapieoptionen werden
aufgezeigt und am Beispiel der atopischen
Dermatitis genauer betrachtet.
N icht nur auf molekularer, sondern auch auf klinischer Ebene sind die Ursachen von Pruritus sehr vielfältig. Die Austrocknung der Haut spielt pathogenetisch sowohl beim Alterspruritus als auch bei der atopischen Dermatitis eine überragende Rolle. Doch kommen vor allem im Alter noch zusätzliche Faktoren dazu, wie zum Beispiel Diabetes mellitus, Leber-, Nieren- und Schilddrüsenerkrankungen, Medikamente und Malignome. Deshalb benötigt die Abklärung von Juckreiz einen interdisziplinären Ansatz. Ebenso ist die Therapie des Juckreizes eine Kombinationstherapie, welche sich vor allem auf die Ursache des Juckreizes konzentriert.
Rückfettende Pflegetherapie als Basis Prinzipiell richtet sich die Juckreiztherapie nach der Grunderkrankung. Deshalb ist es so wichtig, dass mit der symptomatischen Therapie auch eine genaue diagnostische
Abklärung einhergeht. Die wichtigste und primäre Massnahme gegen Pruritus ist eine konsequente rückfettende Pflegetherapie mit einer möglichst neutralen Grundlage. Ich möchte ganz klar von einer Pflegetherapie sprechen, da eigene Erfahrungen mit einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie gezeigt haben, dass eine rückfettende Grundlage per se den Juckreiz stark reduziert. Diese Grundlage sollte so wenig Zusatzstoffe (vor allem Duftstoffe, Konservierungsmittel) wie möglich enthalten, welche Hautirritationen oder Allergien auslösen und damit den Juckreiz noch verstärken können. Die rückfettende Pflegetherapie sollte mehrmals täglich, angepasst an die klinische Austrocknung der Haut, angewendet werden (z.B. Prurimed®, Excipial®, Eucerin® usw.). Zusätzlich sollten entfettende und aggressive Hautwaschmittel sowie austrocknende Externa auf Alkohol- oder Gelbasis vermieden werden. Die rückfettende Pflege ist somit eine Therapie und sollte meiner Ansicht nach bei Patienten mit trockener Haut und Pruritus von den Versicherern übernommen werden!
Behandlungsmöglichkeiten bei akutem und chronischem Juckreiz Die Antihistaminika spielen bei Juckreiz in Zusammenhang mit dermatologischen Erkrankungen immer noch die grösste Rolle. Es muss jedoch betont werden, dass diese Juckreizbehandlung bei chronischer atopischer Dermatitis, Lichen simplex chronicus und Prurigo simplex subakuta, aber auch bei kutanen Lymphomen nur unzureichend ist und oft nur mangels Therapiealternativen verwendet wird. Es gibt keine überzeugenden Studien, welche beweisen, dass Antihistaminika bei diesen Juckreizformen überhaupt wirken. Oft haben nur ältere Antihistaminika mit sedativen Effekten eine gewisse Wirkung. Die antipruriginöse Wir-
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Atopische Dermatitis: Therapieschema
q rückfettende Pflegetherapie q Kombination von sedativen und
nichtsedativen Antihistaminika
Stufe 1
q UV-Therapie (PUVA, TL01) q topische Immunmodulation
(Steroide, Calcineurin-Inhibitoren)
Stufe 2
q Capsaicin topisch q Doxepin (10–50 mg) q Naltrexon systemisch
Stufe 3
Abbildung
kung neuerer, nichtsedativer Antihistaminika ist fraglich von korrekt durchgeführten doppelblinden, plazebokon-
und bedarf noch konrtrollierter, gross angelegter Studien, trollierten Studien nachgewiesen wurde. Somit kann nie
die deren Wirksamkeit bestätigen.
mit Sicherheit der antipruriginöse Effekt der meist rückfet-
Systemische Steroide haben einen antiinflammatori- tenden Grundlage ausgeschlossen werden.
schen Effekt und reduzieren dadurch auch kurzfristig den
Juckreiz. Doch nach Absetzen dieser Theapie rezidiviert Beispiel atopische Dermatits
der Pruritus ohne flankierende Zusatzbehandlungen meist Chronischer und akuter Pruritus in Kombination mit trocke-
wieder. Dasselbe gilt für andere entzündungshemmende ner, rissiger Haut ist das Hauptproblem bei atopischer Der-
Substanzen wie zum Beispiel Cyclosporin A.
matitis. Die Therapie ist nicht einfach und sollte den Bedürf-
Eine interessante Substanz gegen Juckreiz ist das alte nissen des Patienten laufend angepasst werden. Allein
Antidepressivum Doxepin (Sinquan®). Dieses Medikament durch antiinflammatorische Massnahmen lässt sich nur der
hat systemisch über zentrale Mechanismen einen Effekt auf entzündliche Teil behandeln, und der antipruriginöse Effekt
verschiedene Juckreizformen. Es gibt Hinweise, dass ist meistens nur kurzfristig. Die Abbildung zeigt ein mögli-
Doxepin auch topisch die peripheren Nervenendigungen ches Therapieschema des chronischen Juckreizes bei ato-
beeinflussen kann. Der Wirkstoff kann alleine oder in Kom- pischer Dermatitis. Die erste und wichtigste Massnahme ist
bination mit Capsaicin angewendet werden (McCleane, die rückfettende Pflegetherapie. Je nach Schweregrad der
2000). Capsaicin, das aus der Pfefferschote gewonnen Symptomatik können Antihistaminika dazu kombiniert wer-
wird, hat einen direkten Einfluss auf die peripheren Ner- den (nichtsedierende Antihistaminika morgens, sedierende
venendigungen und entleert sämtliche Reservoirs für die Antihistaminika abends). Falls diese Massnahmen nicht
Substanz P in der Haut. Die brennenden Schmerzen limi- ausreichen, kann UV-Lichttherapie beigefügt werden. Spä-
tieren die Anwendung von Capsaicin. Als Alternative wird ter kann der Einsatz von systemischem Doxepin oder
auch topisch Polidocanol verwendet, dessen antipruriginöse Nemexin diskutiert werden. Es ist wichtig, dass bei chro-
Wirksamkeit jedoch bisher noch in keiner doppelblinden, nischem Juckreiz die antipruriginöse Therapie über
plazebokontrollierten Studie nachgewiesen wurde.
Monate konsequent aufrechterhalten wird. Das Auftreten
Topische Steroide wirken antiinflammatorisch und von Rezidiven lässt sich dadurch vermindern.
haben deshalb nur für diese Indikation eine Anwendungs-
berechtigung. Der antipruriginöse Effekt von lokalen Stero- Ausblick
iden ist meistens nur sehr kurz. Wegen der Nebenwirkun- Jede Juckreiztherapie ist eine massgeschneiderte Therapie.
gen sollten diese Medikamente nur gezielt und limitiert in Ihre Komplexität und das Fehlen neuer, innovativer Strate-
der Juckreizbehandlung eingesetzt werden.
gien zeigt aber auch, dass die Grundlagenforschung
Interessant könnte die Anwendung der neuen Kalzi- sowie die klinische Forschung auf dem Gebiete des Pruri-
neurininhibitoren (Tacrolimus, Pimecrolimus) sein (Aguilar- tus noch viel zu tun haben. Es sind aber auch die Firmen
Bernier et al., 2005). Es gibt Hinweise, dass diese Medi- gefordert, den Mut aufzubringen, in neue Therapiekon-
kamente nicht nur über eine Entzündungshemmung einen zepte zu investieren. Die genaue Indikation und Anwen-
antipruriginösen Effekt entfalten, sondern auch direkt die dungsart von neuen, potenziell wirksamen Substanzen wie
Funktion der kutanen Nervenendigungen beeinflussen kön- Cannabinoiden, Lokalanästhetika oder auch Opiat-Rezep-
nen (Stander and Luger, 2003). Praktisch alle diese tor-Agonisten und -Antagonisten muss in plazebokontrol-
topisch applizierten, potenziell antipruriginösen Wirkstoffe lierten Studien untersucht werden. An der Dermatolo-
30 haben das Problem, dass ihre Wirksamkeit nicht anhand gischen Universitätsklinik in Lausanne werden aktuell die
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Erfahrungen aus der Grundlagenforschung, der klinischen
Forschung und der Klinik kombiniert. Unser Forschungsla-
bor beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Neuroder-
matologie. Uns interessiert vor allem der Einfluss des kuta-
nen Opiat-Rezeptor-Systems auf das kutane Nervensystem
und den Pruritus (Bigliardi et al., 2004; Bigliardi-Qi et al.,
2005). Basierend auf den Ergebnissen der Grundlagen-
forschung wurden auch erste klinische Studien mit Erfolg
abgeschlossen. Um wertvolle Erfahrungen in der Behand-
lung therapieresistenter Juckreizformen zu sammeln, haben
wir uns entschlossen, analog zur Schmerzsprechstunde,
eine Juckreizsprechstunde ins Leben zu rufen. Diese
Bemühungen liegen international im Trend, mit der Zielset-
zung, dass die Problematik des Juckreizes ernst genommen
wird und auf verschiedenen Ebenen Lösungsansätze zum
Wohle des Patienten gesucht werden.
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Anschrift des Verfassers: PD Dr. Paul Bigliardi
Hôpital Beaumont CHUV Dermatologie 1011 Lausanne E-Mail: paul.bigliardi@chuv.ch
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