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PREVENTION SUMMIT
Wer entwickelt Adipositas?
Umweltfaktoren und Gene beeinflussen das Gewicht
Bei der Entwicklung der Adipositas sind zwar genetische Mutationen beteiligt. Aber nicht nur. Ob jemand adipös wird, hängt von seiner genetischen Prädisposition und seinem Lebensstil ab. Selbst ein genetisch bedingt hohes Risiko kann durch einen gesunden Lebensstil aufgefangen werden. Wie das zusammenhängt, erklärte PD Dr. Eleonora Seelig, Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Universitätsspital Basel, am Prevention Summit in Bern.
Die Adipositasprävalenz nimmt seit den letzten 50 Jahren enorm zu. Weltweit sind zurzeit > 600 Millionen Erwachsene adipös (Body-Mass-Index [BMI] > 30 kg/m2) sowie etwa 100 Millionen Kinder. Eine der Folgen der Adipositas ist die verkürzte Lebenszeit. Bei einem BMI von 35 kg/m2 ist das Mortalitätsrisiko doppelt so hoch wie bei einem normalen Gewicht, mit einem BMI von 45 kg/m2 ist es fast 4-fach erhöht (1). Weil sich diese Entwicklung erst in jüngerer Zeit so dramatisch beschleunigt hat, lasse sich eine genetische Ursache ausschliessen, so Dr. Seelig. Vielmehr ist diese Adipositasepidemie einer evolutionär aussergewöhnlichen Situation mit einer im Überfluss vorhandenen und sehr energiedichten Nahrung geschuldet. Die körperliche Aktivität hat dabei nicht in gleichem Ausmass zugenommen wie die Menge zugeführter Energie. Während ein Jäger und Sammler früher 9–15 km pro Tag (15 000–20 000 Schritte) mit weniger energiedichter Nahrung zurückgelegt hat, gehen Menschen heutzutage durchschnittlich 3 km pro Tag (4000–7000 Schritte). Aus diesem Grund hat der Körperfettgehalt im Vergleich zu unseren Vorfahren deutlich zugenommen (1).
Sind die Gene schuld? Die Genetik spielt eine Rolle beim Essverhalten, wie aus Zwillingsstudien bekannt ist. Bei eineiigen Zwillingen liegt die Übereinstimmung beim Gewicht zwischen 70 und 90%, bei zweieiigen Zwillingen zwischen 30 und 50%. Dies unabhängig davon, ob die Zwillinge im gleichen Haushalt aufwachsen, wie Dr. Seelig berichtete. Erblich sind die Stärke des Appetits, die Geschwindigkeit, mit der die Sättigung einsetzt, die Energieverbrennung in Ruhe und in Bewegung. Der Anteil der Vererbung des Gewichts werde auf etwa 40% geschätzt, so die Expertin. Eine wichtige Rolle bei der Nahrungsaufnahme spielt das Peptidhormon Leptin. Es wird hauptsächlich von Fettzellen produziert und reguliert das Hunger- und Sättigungsgefühl. Verringert sich der Fettgehalt in den Adipozyten, sinkt der Leptinspiegel im Blut. Eine tiefe Leptinkonzentration wirkt appetitanregend. Ist der Fettgehalt hoch, wird in der Folge mehr Leptin gebildet, was den Appetit verringert. Leptin wirkt somit unmittelbar auf die Nahrungsmenge, die ein Mensch aufnimmt, und schützt ihn vor dem Verhungern (2).
Bei Kindern mit Leptinmangel und permanentem Hungergefühl kann mit einem Melanocortin-4-Rezeptoragonist (Setmelanotid) das Gewicht reduziert werden, so Dr. Seelig. Bei adipösen Patienten ohne diese Mutation (3) scheint diese Therapie jedoch nichts zu bringen. Bei Patienten mit morbider Adipositas seit Kindheit (Beginn < 5 Jahren) und Hyperphagie und/oder einer Familienanamnese für morbide Adipositas ist ein genetisches Screening demzufolge sinnvoll. Eine monogenetische Adipositas steht mit einem frühen Beginn und einer schweren Erkrankung in Zusammenhang, während die viel häufigeren polygenetischen Mutationen einer «gewöhnlichen» Adipositas Vorschub leisten. Das Adipositasrisiko mit polygenetischen Mutationen kann eher durch den Lebensstil moduliert werden (4). Wie viel Einfluss der Lebensstil auf eine polygenetische Adipositas letztlich hat, wurde in einer englischen Studie mit Daten aus der UK Biobank untersucht. Dazu wurde ein polygenetischer Score für den BMI berechnet, um die ererbte Anfälligkeit für Adipositas bei 338 645 Teilnehmern zu quantifizieren. Ein zusammengesetzter Lebensstil-Score wurde aus fünf adipogenen Faktoren abgeleitet wie körperliche Aktivität, Ernährung, sitzendes Verhalten, Alkoholkonsum und Schlafdauer. Dabei zeigte sich, dass das Adipositasrisiko bei geringem genetischen Risiko mit einem gesunden Lebensstil praktisch inexistent ist, bei nachlässigem Lebensstil aber um den Faktor (Hazard Ratio [HR]) 1,87 ansteigt. Bei Personen mit mittlerem genetischen Risiko ist das Adipositasrisiko bereits bei gesundem Lebensstil erhöht (HR: 1,93) und steigt mit nachlässigem Lebensstil auf mehr als das Doppelte (HR: 2,63). Mit einem hohen genetischen Risiko liegt das Adipositasrisiko mit einem gesunden Lebensstil bei 2,16 und steigt bei nachlässiger Lebensführung auf mehr als das Dreifache (HR: 3,54) (5). Die gute Nachricht ist aber, dass selbst Personen mit einem hohen genetischen Risiko das Adipositasrisiko mit ihrer Lebensführung beeinflussen können, wie Dr. Seelig abschliessend erklärte. Valérie Herzog Quelle: «Adipositas – neurobiologische und genetische Ursachen». Prevention Summit, 24. Oktober 2024, Bern congressselection adipositas | März 2025 7 PREVENTION SUMMIT Referenzen: 1. Valenzuela PL et al.: Obesity and the risk of cardiometabolic diseases. Nat Rev Cardiol. 2023 Jul;20(7):475-494. doi: 10.1038/s41569-02300847-5. 2. Farooqi IS et al.: Clinical spectrum of obesity and mutations in the melanocortin 4 receptor gene. N Engl J Med. 2003 Mar 20; 348(12):1085-95. doi: 10.1056/NEJMoa022050. 3. Clément K et al.: Efficacy and safety of setmelanotide, an MC4R agonist, in individuals with severe obesity due to LEPR or POMC deficiency: single-arm, open-label, multicentre, phase 3 trials. Lancet Diabetes Endocrinol. 2020;8(12):960-970. doi:10.1016/S2213-8587(20)30364-8 4. Loos RJF et al.: The genetics of obesity: from discovery to biology. Nat Rev Genet. 2022;23(2):120-133. doi:10.1038/s41576-021-00414-z 5. Kim MS et al.: Association of genetic risk, lifestyle, and their interaction with obesity and obesity-related morbidities. Cell Metab. 2024;36(7):1494-1503.e3. doi:10.1016/j.cmet.2024.06.004 8 congressselection adipositas | März 2025