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Interview mit PD Dr. Simon Stämpfli
ESC-Kongress: Was war wichtig für die Grundversorger?
Am diesjährigen Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) in London wurden 4 neue Guidelines, 12 Hotline Sessions, 38 Late-breaking-Trials und über 3700 Vorträge präsentiert. PD Dr. Simon Stämpfli, Herzzentrum, Luzerner Kantonsspital, erzählte uns im Interview, welche Präsentationen mit Blick auf die Hausarztpraxis seine Highlights am Kongress waren.
Was waren Ihre persönlichen Highlights? Und was ist wichtig für die Praxis? PD Dr. Simon Stämpfli: Ich habe in diesem Jahr feststellen können, dass die Rolle des Hausarztes in den neuen Guidelines stärker gewichtet wurde. Es gab viele interessante Studien, darunter auch solche mit Anwendungen von künstlicher Intelligenz, die eine Idee geben, in welche Richtung es damit gehen könnte.
Simon Stämpfli
Was ändert sich in der neuen Guideline zum
Vorhofflimmern?
Stämpfli: In der neuen Guideline zum Management von Vor-
hofflimmern (1) wird beispielsweise mehr Gewicht auf Ko-
morbiditäten wie das kardiometabolische Syndrom gelegt. In
Bezug auf die Komorbiditäten ist es entscheidend, dass diese
erkannt und behandelt werden, weil sonst die Erfolgsrate der
Therapie des Vorhofflimmerns deutlich kleiner ausfällt. Man
ist sich bewusst geworden, dass mit einer vorgängigen oder
parallelen Therapie der Adipositas das Risiko für erneutes
Vorhofflimmern deutlich geringer ist.
Unter dem Akronym AF-CARE ist die Handlungsanleitung
zusammengefasst: «AF» steht für Atrial Fibrillation, «C» für
Komorbiditäten und Risikofaktoren, «A» für die Vermei-
dung von Hirnschlägen und Thromboembolien mit Antiko-
agulation, «R» für die Verringerung der Symptome durch
Frequenz- und Rhythmuskontrolle und «E» für die Evalua-
tion und dynamische Neubewertung. Bei den ersten beiden
Punkten «C» und «A» ist der Hausarzt wichtigsterAnsprech-
partner und kann mehr Einfluss nehmen als der Kardiologe.
Eine neue Guideline gab es auch zur Hypertonie ... Stämpfli: Im Gegensatz zur eher komplizierten Version von 2018 scheinen mir die neuen Guidelines (2) einfacher strukturiert. Die Definition der Blutdruckkategorien wurde angepasst und vereinfacht: normaler Blutdruck < 120/70 mmHg, erhöhter Blutdruck bei > 120–139/70–89 mmHg und Hypertonie ab 140/90 mmHg. Die Definition für die Hypertonie ist damit immer noch dieselbe, doch bereits bei Werten zwischen 120 und 139 mmHg soll man sich Gedanken über das kardiovaskuläre Risikoprofil des Patienten machen. Dabei zeigt die Guideline sehr strukturiert auf, wie man vorgehen kann, um das individuelle Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse abzuschätzen. Je nach Risikoausmass sind nach Anpassung
des Lebensstils auch in diesem Blutdruckbereich medikamentöse Therapien empfohlen, denn die Daten haben gezeigt, dass auch diese Gruppe von einer Blutdrucksenkung profitieren kann. Die Guideline lässt aber auch Spielraum, falls eine Blutdrucksenkung auf den Zielwert nicht toleriert wird, wie beispielsweise bei Patienten, die mit orthostatischer Hypotonie reagieren. Dann soll so tief gesenkt werden, wie es der Patient eben verträgt.
Führt eine Risikoabklärung bereits ab einem Blutdruck von systolisch 120 mmHg nicht zu einer Mengenausweitung? Stämpfli: Es ist anzunehmen, dass etwas mehr Antihypertensiva verschrieben werden, aber was die Gesamtkosten angeht, würde ich langfristig eher eine Reduktion erwarten. Es gehört ohnehin zur hausärztlichen Tätigkeit, das kardiovaskuläre Risiko der Patienten abzuschätzen. Je früher ein erhöhtes Risiko bekannt ist und entsprechend Gegensteuer gegeben wird, desto mehr kardiovaskuläre Ereignisse können verhindert werden, was letztlich Ressourcen schont und Kosten spart.
Auch die Empfehlung für die medikamentöse Therapie hat sich geändert ... Stämpfli: Ja, und das ist durchaus relevant für die Hausärzte. Die antihypertensive Therapie wird von Beginn an mit einer Zweierkombination in tiefer Dosierung gestartet. Wenn das nicht ausreicht, soll nicht wie bisher erst die Dosis erhöht, sondern direkt auf eine Dreierkombination umgestellt werden. Erst wenn dies auch noch nicht ausreicht, soll die Dosis der Dreierkombination erhöht werden. Das scheint mir sinnvoll, um die Blutdruckkontrolle möglichst schnell zu erreichen. Ein schneller Therapieerfolg fördert nicht zuletzt das Vertrauen des Patienten in die medizinische Massnahme.
Es gibt auch eine Empfehlung zur Salzeinnahme. Die meisten Patienten haben jedoch keine Ahnung, wie viel Salz sie zu sich nehmen. Wie lässt sich das umsetzen? Stämpfli: Am besten ist es, anwendbare Empfehlungen abzugeben. Wenn man den Patienten vom Nachsalzen am Tisch abrät und sie zu einem Verzicht auf Fertigprodukte ermutigt, ist schon einiges getan. Bei differenzierten und interessierten Patienten kann eine Natriumbestimmung im 24-Stunden-Urin angeboten werden, um ihnen zu zeigen, wo sie mit ihrem aktuellen Salzkonsum stehen. À propos Elektrolyte: Die Guide-
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line hat neu bei den Lebensstilmassnahmen auch die ausreichende Kaliumeinnahme aufgenommen. Dies kann durch Früchte und Gemüse abgedeckt werden.
Gibt es noch weitere hier zu nennende Guidelines? Stämpfli: In den neuen Guidelines des chronischen Koronarsyndroms (CCS) (3) wurde meiner Meinung nach die klinische Realität besser abgebildet. Es sind nicht mehr nur die angiografisch erkennbaren Veränderungen in den grossen Gefässen, die eine Massnahme nach sich ziehen, sondern auch jene in kleinen Gefässen. Dabei ist abzuwägen, ob eine medikamentöse Therapie ausreicht oder ein Eingriff notwendig ist oder beides. Denn nicht jeder Patient profitiert gleichermassen von einem Stent. Oft müssen die kleinen Gefässe zusätzlich medikamentös behandelt werden. Auch die initiale Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines CCS wurde überarbeitet und verfeinert, sie ist aber für den klinischen Alltag anwendbar geblieben. Damit kann die Vortestwahrscheinlichkeit noch besser abgeschätzt werden, zum Beispiel mit Angaben darüber, welche Kombinationen von Symptomen und Befunden mit welchen Wahrscheinlichkeiten einhergehen. Das scheint mir für Hausärzte nützlich.
Zum Thema Adipositas hat die ESC ein Konsensuspapier verfasst ... Stämpfli: Wenn man das kardiometabolische Syndrom besser verstehen möchte, ist das eine hilfreiche und spannende Lektüre. Einerseits bietet das Papier eine sehr detaillierte pathophysiologische Einordnung, und andererseits gibt es auch klare Empfehlungen. Beispielsweise wer für eine bariatrische Operation und wer für eine Therapie mit GLP-1- oder GIP-/ GLP-1-Rezeptor-Agonisten infrage kommt (4).
Welche präsentierten Studienresultate fanden Sie wichtig? Stämpfli: Die FINEARTS-HF-Studie (5) mit Finerenon finde ich sicher relevant. Der nicht steroidale Mineralokortikoidrezeptor-Antagonist hat nach den SGLT2-Hemmern als zweites Medikament bei herzinsuffizienten Patienten mit einer Auswurffraktion von über 40% (HFpEF und HFmrEF) einen klaren Nutzen gezeigt. Dies hinsichtlich der Kombination von kardiovaskulärem Tod und herzinsuffizienzbedingter Hospitalisation mit einer signifikanten Reduktion um 16% gegenüber Plazebo. Bei der HFpEF wurden viele Medikamente erfolglos getestet, sodass es erfreulich ist, nun ein weiteres Medikament zu haben, von dem diese Patienten profitieren können. Es spielte im Übrigen keine Rolle, ob die Patienten bereits einen SGLT2-Hemmer hatten oder ob die Auswurffraktion eher um 40 oder um 60% lag. Die getesteten Subgruppen profitierten gleichermassen. Ich denke, dass Finerenon in die Behandlung der HFpEF und der HFmrEF Eingang finden wird. Zu diskutieren bleibt die Frage, ob bei gleichem Studiendesign nicht auch ein konventioneller – und natürlich viel günstigerer – Mineralokortikoidrezeptor-Antagonist einen ähnlichen Effekt gezeigt hätte.
Die kardiale Amyloidose war auch ein Thema ... Stämpfli: Als Amyloidosespezialist fand ich die HELIOS-BStudie (6) mit Vutrisiran sehr interessant. Diese Substanz ist bei hereditärer kardialer Amyloidose (hATTR) mit Polyneuropathie bereits zugelassen. In der aktuellen Studie wurde sie
nun auch bei der viel häufigeren Wildtyp-ATTR (wtATTR) mit Kardiomyopathie untersucht und erwies sich dabei als hochwirksam, selbst bei jenen Patienten, die bereits unter dem dafür zugelassenen Tafamidis standen. Tafamidis stabilisiert das Transthyretin als Tetramer und verhindert damit die weitere Ablagerung von Amyloid, während Vutrisiran als «gene silencer» die Produktion des Proteins einschränkt. Beide Substanzen bremsen die Erkrankungsprogression und könnten, rein medizinisch betrachtet, dank ihrer unterschiedlichen Wirkmechanismen auch kombiniert eingesetzt werden. Bestehende Amyloidablagerungen können beide Medikamente jedoch nicht reduzieren. Eine Substanz, die das Potenzial hat, Amyloid abzubauen, wird momentan in einer Phase-III-Studie, an der mehrere Schweizer Zentren beteiligt sind, untersucht. Dabei handelt es sich um einen rekombinanten humanen Antikörper, der in der Phase-I-Studie so vielversprechende Resultate gezeigt hat, dass man direkt zur Phase-III-Studie übergegangen ist. Die Resultate, die in gut zwei Jahren zu erwarten sind, werden zeigen, ob die Erkrankung damit vielleicht partiell reversibel sein wird und nicht nur gebremst werden kann. Man darf gespannt sein.
Sind diese Optionen bezahlbar? Stämpfli: Das ist eine wichtige Frage. Rein medizinisch gesehen, drängt sich eine Kombination von Tafamidis und Vutrisiran auf. Ob das kostentechnisch je möglich sein wird, ist äusserst fraglich. Auch der Antikörper, sollte er dereinst kommen, wird nicht günstig sein. Hier könnte man sich vorstellen, dass der Antikörper zuerst eingesetzt würde, um die vorhandenen Amyloidablagerungen aus dem Myokard herauszulösen, und in einem nächsten Schritt ein Stabilisator zum Einsatz kommt, um weitere Amyloidablagerungen zu verhindern. Die Politik ist hier in der Pflicht, eine Lösung zu finden, die unseren Patienten den Zugang zu den wirksamen Therapien ermöglicht und die Kostenbelastung in einem vertretbaren Rahmen hält.
Im Kongressprogramm waren auch Studien und Vorträge
über künstliche Intelligenz (KI) ...
Stämpfli: Eine kleine Studie fand ich als Ausblick in die Zu-
kunft, wie die hausärztliche Tätigkeit entlastet und interes-
santer werden könnte, sehr spannend. Darin wird ein «vir-
tual voice assistant», also eine KI-basierte Stimme, in diesem
Fall «Lola», im Patientenkontakt getestet (7). «Lola» hat
Patienten nach einem perkutanen Aortenklappenersatz post-
operativ in vereinbarten Zeitabständen zuhause angerufen
und im Gespräch Befinden, Symptome und Komplikationen
erfragt. Die gegebenen Antworten wurden von der KI ge-
wichtet, und bei besorgniserregendem Ergebnis gab es eine
Meldung ans Ärzteteam. Die Patientenakzeptanz von «Lola»
war in dieser Studie sehr gut, die Patienten fühlten sich gut
aufgehoben. Solche KI-basierten Anwendungen könnten die
Arztpraxen in Zukunft stark entlasten. So könnten beispiels-
weise Patienten nach einer Therapiemassnahme ohne gros-
sen Aufwand nachverfolgt werden, was Ressourcen sparen
und gleichzeitig Sicherheit bieten könnte.
s
Das Interview führten Christine Mücke und Valérie Herzog
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Referenzen: 1. Van Gelder IC et al.: 2024 ESC Guidelines for the management of atrial
fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. Published online August 30, 2024. doi:10.1093/eurheartj/ehae176. 2. McEvoy JW et al.: 2024 ESC Guidelines for the management of elevated blood pressure and hypertension. Eur Heart J. Published online August 30, 2024. doi:10.1093/eurheartj/ehae178. 3. Vrints C et al.: 2024 ESC Guidelines for the management of chronic coronary syndromes: Developed by the task force for the management of chronic coronary syndromes of the European Society of Cardiology (ESC) Endorsed by the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. 2024 Aug 30:ehae177. doi: 10.1093/eurheartj/ ehae177. 4. Koskinas KC et al.: Obesity and cardiovascular disease: an ESC clinical consensus statement. Eur Heart J. Published online August 30, 2024. doi:10.1093/eurheartj/ehae508. 5. «FINEARTS-HF - Finerenone in heart failure with mildly reduced and preserved ejection fraction». Hot Line 7, Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 30. August bis 2. September 2024, London 6. «HELIOS-B - Primary results from phase 3 study of vutrisiran in patients with transthyretin amyloidosis with cardiomyopathy». Hotline 1, Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 30. August bis 2. September 2024, London. 7. Herreo Brocal M et al.: Close clinical monitoring of patients after TAVI implantation using artificial intelligence with a virtual voice assistant. Präsentiert am Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 30. August bis 2. September 2024, London.
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