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ESC
Interview mit ESC-Präsident Prof. Thomas Lüscher
Die europäische Forschung gerät in Rückstand
Foto: zVg
Prof. Thomas F. Lüscher, vormals Klinikleiter der Kardiologie am Universitätsspital Zürich, jetzt Forschungs- und Ausbildungsleiter Kardiologie im Royal Brompton Hospital London und King’s College in London und Chairman des Center for Molecular Cardiology der Universität Zürich, Campus Schlieren, ist Präsident der European Society of Cardiology (ESC) geworden. In dieser Position hat er den Überblick über die Forschungstätigkeit weltweit und ist besorgt. Im Interview erklärte er, warum.
Der Jahreskongress der ESC ist vorbei. Was ist
Ihre Bilanz?
Lüscher: Dieser Kongress war ein voller Erfolg.
Mit 12 Hotline Sessions mit vielen Präsentatio-
nen grosser Studien, vielen Publikationen in
renommierten Fachzeitschriften wie «New
England Journal of Medicine», «Lancet» und
«JAMA» wie auch in unserer Zeitschrift «Eu-
ropean Heart Journal», 31 600 Teilnehmern,
Thomas Lüscher
davon 26 500 vor Ort in London, ist der Kongress Spiegel einer grossen Forschungstätigkeit.
Die ESC hat 48 nationale Herzgesellschaften
und 47 assoziierte Gesellschaften, aus denen sowie aus weite-
ren Ländern Abstracts für den Kongress eingereicht wurden.
Neu ist jedoch, dass diesmal am meisten Abstracts aus Asien,
vor allem aus China, eingereicht wurden und das mit einer
hohen Akzeptanzrate. Von Europäern kommt auch For-
schung, aber weniger als vor Jahren, dafür werden vermehrt
Case Reports eingereicht. Innerhalb von Europa kommen die
meisten Abstracts aus Deutschland, die Schweiz ist immer
noch ganz gut. Chinesen, Koreaner und Japaner sind in For-
schungsbelangen aber mittlerweile produktiver als Europäer.
Woran liegt das? Lüscher: Asiaten arbeiten einfach mehr. Der Forschungshunger in dieser Weltregion hat jenen von Europa überflügelt. Vielleicht geht es den Europäern so gut, dass ihnen die Freizeit wichtiger ist als ihre Karriere. Das zeigt sich auch daran, dass es in der Schweiz kaum mehr Schweizer in der For-
Asiaten arbeiten einfach mehr.
schung gibt. In der kardiologischen Grundlagenforschung beispielsweise arbeiten schon seit vielen Jahren fast keine Schweizer mehr. Das höre ich aber auch von anderen europäischen Ländern. Im Center for Molecular Cardiology im Schlieren Campus der Universität Zürich, einem wichtigen kardiologischen Forschungszentrum in Europa, haben wir schon seit zehn Jahren kaum mehr Schweizer, dafür umso
mehr Forscher aus Indien, China, Philippinen, Italien, Spanien ... Erfreulich ist aber, dass wir seit Neuestem einige Schweizer Masterstudenten haben.
Wie lässt sich dieser Trend umkehren? Lüscher: Die ESC hat diesbezüglich Ideen zu Kursen, die der jungen Generation zeigen sollen, wie man Forschung machen kann und wie interessant und erfüllend Forschung ist. Es ist aber schon so, dass die für Forschungskarrieren früher übliche Reihenfolge «erst Forschung im Labor, dann Klinik» nicht mehr so populär ist und es nur noch wenige gibt, die diesen Arbeitsaufwand nicht scheuen. Das zeichnet sich auch an den Schweizer Universitäten ab: Bis in zehn Jahren werden die Lehrstühle in der Medizin kaum mehr von Schweizern besetzt sein, wenn wir nicht Gegensteuer geben.
In der Kardiologie hat die ESC grosses Gewicht ... Lüscher: Mittlerweile ist der ESC-Kongress der grösste der Welt, die früher grossen amerikanischen Kongresse haben an Bedeutung verloren. Nach der COVID-Baisse hat der ESCKongress wieder gleich viele Teilnehmer wie vor der Coronapandemie. Die ESC ist auch eine grosse Institution geworden: 230 Angestellte im European Heart House, 50 Millionen Euro Umsatz, 17 Journals, 18 Lehrbücher, 10 Kongresse und diverse Fortbildungsprogramme. Pro Jahr kommen vier Guidelines heraus, die jeweils am ESC-Kongress präsentiert werden und frei heruntergeladen werden können. Allein pro Jahr wurden die Guidelines 6 Millionen Mal heruntergeladen!
Ein neues Thema für die Kardiologie ist die Adipositas ... Lüscher: Ja, zur Adipositas hat die ESC ein Konsensuspapier mit Empfehlungen herausgegeben. Adipositas ist ein Trigger für viele Folgeerkrankungen. Das führt dazu, dass die etwas verzettelten Gebiete Dyslipidämie, renale Dysfunktion, Hypertonie, Diabetes, Fettleber, Herzinsuffizienz wieder zusammenwachsen. Dadurch konzentriert sich die Medizin wieder auf das Hauptproblem, das weltweit immer grösser wird. In London veranstalten wir einen Postgraduate Course zur kardiometabolen Medizin, der auf viel Anklang gestossen ist. Ziel der ESC ist aber nicht, eine eigene Guideline dazu zu erstellen, sondern das Thema in die Präventionsguideline zu
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integrieren. Dennoch sind «Cardiometabolic Medicine» und «Systems Cardiology» integrative aufstrebende Disziplinen für Nicht-Spezialisten, die es auch dringend braucht und die wir mit unserer «innovation task force» aufbauen wollen.
Wo sehen Sie den Stellenwert der künstlichen Intelligenz (KI) in der Medizin? Lüscher: Diese wird in sehr vielen Bereichen eine Art Copilot des Arztes werden. Bei der medizinischen Verwendug von KI ist es aber generell wichtig, nur qualitativ hochstehende und validierte Algorithmen als Grundlage zu verwenden. Genauso wichtig wird aber, dass die Algorithmen publiziert werden und wie Medikamente einen Approval-Prozess durchlaufen müssen, damit sie als Entscheidungshilfe angewendet werden können.
KI wird der Copilot des Arztes werden.
Was haben Sie sich für Ihre zweijährige Präsidentschaft vorgenommen? Lüscher: Ein wichtiges Thema ist die digitale Transformation der Kardiologie. Dazu habe ich ein neues Digital «Cardiology and Artificial Intelligence Committee» geschaffen. Wir werden im Herbst 2025 einen ersten Kongress dazu veranstalten, um unseren Mitgliedern das entscheidende Wissen in diesem Bereich zu vermitteln. Eine der Visionen ist es, die
ESC-Guidelines KI-tauglich zu machen. Das heisst, am
Schluss soll es statt vieler verschiedener nur noch eine ESC-
Guideline geben, die man analog zu ChatGPT zu einer Prob-
lemstellung befragen kann. Diese vermittelt dann die guide-
linebasierte Antwort. Zum Beispiel: «Ich habe einen 72-jäh-
rigen Patienten mit Herzinsuffizienz und neu aufgetretenem
Vorhofflimmern. Was muss ich tun?» Die Antwort dazu wird
man in Sekundenschnelle erhalten.
Weiter wollen wir den «CV Health Plan» der ESC bei der
Europäischen Union umsetzen, den wir über die ungarische
EU Präsidentschaft im Sommer eingereicht haben. Dies wäre
für die kardiologische Forschung ein «game changer», an
dem wir in enger Kollaboration mit den Nationalen Kardio-
logischen Gesellschaften und ihre Gesundheitministern ar-
beiten.
Dann wollen wir das «EuroHeart Project» eines europawei-
ten prospektiven Registers voranbringen. Das könnte eine
enorme Forschungsaktivität freisetzen, vor allem wenn wir
von der EU Unterstützung erhielten.
Schliesslich ist «environement and sustainability» ein Thema.
Dazu haben wir eine Task Force eingesetzt, um bei der ESC
selbst, aber auch bei der EU das Problem aus kardiovaskulä-
rer Sicht aufzugreifen. Luftverschmutzung, Lärm und Licht
sind eigentliche kardiovaskuläre Risikofaktoren, die es zu
thematisieren gilt.
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Das Interview führten Christine Mücke und Valérie Herzog
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