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Situation in der Schweiz und weltweit
HIV – Fast normale Lebenserwartung
Die Therapie der HIV-Infektion hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Auch die Anzahl Neuerkrankungen ist in der Schweiz auf tiefem Niveau stabil. Menschen mit HIV erreichen inzwischen eine fast normale Lebenserwartung. Dr. Gilles Wandeler, Leitender Arzt in der Klinik Infektiologie, Inselspital Bern, präsentierte neue Zahlen zu Prävention und Therapie in der Schweiz und weltweit.
Weltweit leben zirka 39 Millionen Menschen mit einer HIVInfektion. Die Prävalenz ist vor allem im südlichen Afrika sehr hoch, wo bis 15% der Bevölkerung infiziert sind, in den meisten europäischen Staaten sind es meist weit unter 1% (1). In der Schweiz ist die Lage seit einigen Jahren ziemlich stabil, 2022 traten 370 neue HIV-Infektionen auf, 45% davon bei MSM (men having sex with men). Neuinfektionen bei IVDrogenabhängigkeit ist fast verschwunden (2). Inzwischen werden weltweit 26 Millionen Menschen antiretroviral behandelt (3). UNAIDS formulierte das Ziel bis 2025 «95-95-95», 95% der Personen mit einer HIV-Infektion sollten diagnostiziert sein, 95% sich in einer Therapie befinden und 95% eine supprimierte Viruslast aufweisen. Weltweit ist das Ziel noch nicht erreicht, doch mit «86-7671» wurden grosse Fortschritte gemacht. In der Schweiz hingegen ist dieser Zielwert schon seit einigen Jahren erreicht (4).
Antiretrovirale Therapie – Wirkung
Nach einer HIV-Primärinfektion und einer Latenzzeit von 2 bis 12 Wochen steigt die Viruslast durch HIV-Viren rasch an, nach einem Peak fällt sie etwas und bleibt dann in der asymptomatischen Phase kontinuierlich erhöht. Die CD4Zellzahl nimmt über mehrere Jahre kontinuierlich ab. Sinkt diese Zahl unter den Wert von 200 pro Mikroliter, treten opportunistische Infektionen auf, schliesslich kann sich das Vollbild von AIDS entwickeln. Die antiretrovirale Therapie verändert den Verlauf der Krankheit. Die Viruslast wird unterdrückt, die CD4-Zellen erholen sich, damit wird auch das Auftreten von opportunistischen Infekten vermindert. Folgen der antiretroviralen Therapie: 1. fast normale Lebenserwartung, 2. Langzeittoxizität und Möglichkeit der Medikamentenin-
teraktionen, 3. sind Viren nicht nachweisbar, erfolgt keine Transmission.
Meilensteine der antiretroviralen Therapie
1983 wurde das Virus entdeckt, 1987 war die AZT-(Zidovudine-)Monotherapie verfügbar, bei der wegen der häufig auftretenden Resistenzen der Therapieerfolg noch nicht optimal war. 1996 kam der grosse Durchbruch mit der Tripeltherapie, mit der bei den meisten Patienten die Viruslast stark supprimiert werden konnte. 2006 wurden die kombinierten Wirkstoffe in einer Tablette vereint, was die Therapie stark vereinfachte und die Adhärenz erhöhte. Eine weitere Verbesserung brachte 2013 die neue Wirkstoffgruppe der Integrase-Inhibitoren, die weniger Nebenwirkungen und weniger Medikamenteninteraktionen aufwiesen als die früheren Wirkstoffe. Seit 2018 empfehlen die WHO-Guidelines eine Tripeltherapie mit Tenofovir, Lamivudin und Dolutegravir für alle Personen mit HIV, tatsächlich erhalten sie heute weltweit mehr als die Hälfte der Betroffenen. Inzwischen wird auch eine Zweierkombination mit Dolutegravir und Lamivudin eingesetzt, die oft ausreichend wirksam ist. Eine weitere Neuerung bietet eine injizierbare Therapie, mit der die Wirkstoffe als Depot alle zwei Monate verabreicht werden.
Lebenserwartung fast normalisiert
In der Schweizer HIV-Kohortenstudie (www.shcs.ch) konnte gezeigt werden, dass sich die Lebenserwartung von Menschen mit HIV immer stärker der Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung annähert (5), die noch vorhandenen Unterschiede sind auch durch sozioökonomische Unterschiede bedingt. So finden sich bei Personen mit HIV sichtbare Unterschiede in der Lebenserwartung in Abhängigkeit des Bildungsgrads. Inzwischen hat sich die Demografie der Betroffenen verändert, 60% der Teilnehmer der Schweizer HIV-Kohorte sind über 50 Jahre alt (6). Eine niederländische Studie konnte zeigen, dass die Komorbiditäten mit dem Alter zunehmen und dass bei Patienten mit HIV eine höhere Zahl von Komorbitäten vorliegt (7). Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle: sozioökonomische Situation und Lebensstil, die durch HIV induzierte chronische Entzündung, sowie die Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapien. Auch die Polypharmazie steigt mit zunehmendem Alter. Bei 1000 Patienten der Schweizer Kohortenstudie, konnte man zeigen, dass 44% der HIV-Patienten über 65 Jahre 5 Medika-
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mente oder mehr einnehmen (8). Dies erhöht die möglichen Interaktionen zwischen der antiretroviralen Therapie und anderen Medikamenten. Auf einer Onlineplattform der University of Liverpool können potenzielle Interaktionen mit antiretroviralen Therapeutika geprüft werden (9), siehe QRCode.
Adipositas
Bevor die antiretrovirale Therapie zur Verfügung stand, litten die Patienten häufig unter massivem Gewichtsverlust im AIDS-Stadium. Mit der ersten antiretroviralen AZT-Monotherapie konnte als Nebenwirkung eine Lipodystrophie auftreten. Unter den neuen antiretroviralen Therapeutika entwickelt sich nun häufig eine Adipositas (10). Die Integraseinhibitoren haben heute eine wichtige Stellung in der HIV-Therapie, aufgrund ihrer guten Wirkung und den geringeren Interaktionen. In einer Studie konnte aber gezeigt werden, dass es beim Wechseln von einer älteren Substanz auf einen Integraseinhibitor zu einer Gewichtszunahme kommt (11), median 2 Kilo in 18 Monaten. Andere Studien kamen zu ähnlichen Resultaten. In der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie beobachtete man die Gewichtszunahme ebenfalls bei Integraseinhibitoren, aber auch bei anderen Substanzen, z.B. beim Wechsel von Tenofovir Disoproxil (TDF) auf die neuere Substanz Tenofovir Alafenamid (TAF). Bei einigen Patienten fand sich eine massive Gewichtszunahme, median betrug sie auch hier 2 Kilo über 18 Monate (12). Die Ursache ist bisher nicht ganz klar, möglicherweise hat das TDF eine hemmende Wirkung auf die Gewichtszunahme, die beim Thearpiewechsel wegfällt. Mit der Gewichtszunahme entstehen neue Probleme. In der EuroSIDA-Studie bei über 6000 Patienten konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Gewichtszunahme eine höhere Inzidenz von Diabetes aufwiesen (13). Es fehlen noch Langzeitdaten zu den Auswirkungen in dieser Patientengruppe. Dass das kardiovaskuläre Risiko bei Menschen mit einer HIV-Infektion tatsächlich grösser ist als bei der allgemeinen Bevölkerung, konnte in einer Schweizer Studie gezeigt werden. Während bei der HIV-Kohorte 12,9 Fälle in 1000 Patientenjahren auftraten, betrug die Häufigkeit bei der Allgemeinbevölkerung nur 7,5 (14). Von einer kardiovaskulären Prävention profitieren auch HIV-Patienten von Statinen. In der REPRIEVE-Studie mit über 7000 Teilnehmern konnte Pitavastatin schwere kardiale Ereignisse um 35% senken von 7,3 auf 4,8 pro 1000 Patientenjahre (15). Speziell an dieser Studie war, dass die Patienten keinen hohen Risikoscore hatten, aber trotzdem deutlich profitierten.
sinken der CD4-Zellen auf einen bestimmten Wert. Durch die frühere Therapie konnte die Viruslast so stark gesenkt werden, dass es zu deutlich weniger Virusübertragungen zwischen den Partnern kam (16). Dass durch die starke Senkung der Viruslast unter einer antiretroviralen Therapie die Virusübertragung verhindert werden konnte, zeigte auch die PARTNER-Studie mit 1670 Paaren mit unterschiedlichem Serostatus; eingeschlossen waren heterosexuelle Paare und MSM. Konnte durch die Therapie die Viruslast ausreichend gesenkt werden, wurde auch die Virusübertragung gestoppt. Bei Sex ohne Kondom konnte während durchschnittlich 2 Jahren keine Virenübertragung zwischen den Partnern festgestellt werden (17). Diese Erkenntnis ist auch wichtig bei Verletzungen im Spital, wenn es zu einem Blutkontakt kommt. Ist die Viruslast supprimiert, muss die verletzte Person keine Postexpositionsprophylaxe durchführen.
Präexpositionsprophylaxe – neue Formen
Dass die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) mit einer kontinuierlichen Einnahme von Tenofovir 1 x täglich in vielen Fällen eine Infektion verhindern kann, wurde in einigen Studien gezeigt. Aber auch durch Einnahme von Tenofovir und Emtricitabin «on demand» (1 Tag vor dem Sex, am Tag der Exposition und noch zwei Tage später) konnten in einer Studie mit 414 MSM die HIV-Infektionen verringert werden, von 12 HIV-Infektionen der Plazebogruppe zu 2 in der Tenofovirgruppe (18). Die Präexpositionsprophylaxe kommt auch bei Sexarbeiterinnen im südlichen Afrika zum Einsatz, wo der Gebrauch eines Kondoms selten ist. Verglichen wurden die Prophylaxe mit einer täglichen Einnahme einer Tablette und mit einer Depotinjektion jeden zweiten Monat. Die Injektion war der täglichen Tablette deutlich überlegen, wohl auf Grund der besseren Adhärenz, denn von den Tabletten wurden nur etwa 40% tatsächlich eingenommen (19). Inzwischen wenden rund 5 Millionen Personen eine PrEP an (20). In der Schweiz wurde diese Form der Prävention lange nicht eingeführt. Vor 4 Jahren startete man dann die SwissPrEPared-Studie, in die inzwischen 6500 Personen eingeschlossen sind. Neu ist die PrEP seit 1. Juli 2024 kassenpflichtig, wenn die medizinische Betreuung bei einer Fachperson erfolgt, die mit der SwissPrEPared assoziiert ist. s
Barbara Elke
QR-Link: www.rosenfluh.ch/qr/hiv-druginteractions
Viruslast senken
Vor etwa 10 Jahren bedeutete die HIV-Prävention vor allem eine Expositionsprophylaxe mit Abstinenz und die Verwendung eines Kondoms. Heute bleibt das Kondom zwar wichtig, aber es stehen mit Tests und der Präexpositionsprophylaxe neue Möglichkeiten zur Verfügung. Ein Durchbruch stellte eine Studie aus Uganda dar. Bei Paaren, bei denen nur eine Person HIV-positiv war, verglich man eine frühe antiretrovirale Therapie mit der bisher üblichen, später einsetzenden antiretroviralen Therapie nach Ab-
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Literatur: 1. Our World In Data org /hiv-aids CC BY
https://ourworldindata.org/grapher/share-of-the-population-infectedwith-hiv 2. BAG 2023 3. UNIAIDS 2020 estimatesM UNAIDS Global AIDS Monitoring, 2020 (https://aidsinfo.uniaids.org/) UNIAIDS/WHO/UNICEF HIV services tracking tool, November 2020 4. https://www.unaids.org/en/resources/fact-sheet 5. Gueler A et al.; Swiss HIV Cohort Study, Swiss National Cohort. Life expectancy in HIV-positive persons in Switzerland: matched comparison with general population. AIDS. 2017 Jan 28;31(3):427-436. doi: 10.1097/ QAD.0000000000001335. 6. Scherrer AU et al.: Swiss HIV Cohort Study (SHCS). Cohort Profile Update: The Swiss HIV Cohort Study (SHCS). Int J Epidemiol. 2022 Feb 18;51(1):33-34j. doi: 10.1093/ije/dyab141. 7. Schouten J et al.: AGEhIV Cohort Study Group. Cross-sectional comparison of the prevalence of age-associated comorbidities and their risk factors between HIV-infected and uninfected individuals: the AGEhIV cohort study. Clin Infect Dis. 2014 Dec 15;59(12):1787-97. doi: 10.1093/cid/ ciu701. 8. Courlet P et al.: Swiss HIV Cohort Study. Polypharmacy, Drug-Drug Interactions, and Inappropriate Drugs: New Challenges in the Aging Population With HIV. Open Forum Infect Dis. 2019 Dec 21;6(12):ofz531. doi: 10.1093/ofid/ofz531. 9. www.hiv-druginteractions.org 10. Scherrer AU et al.: Swiss HIV Cohort Study (SHCS). Cohort Profile Update: The Swiss HIV Cohort Study (SHCS). Int J Epidemiol. 2022 Feb 18;51(1):33-34j. doi: 10.1093/ije/dyab141. 11. Norwood J et al.: Brief Report: Weight Gain in Persons With HIV Switched From Efavirenz-Based to Integrase Strand Transfer Inhibitor-Based Regimens. J Acquir Immune Defic Syndr. 2017 Dec 15;76(5):527-531. doi: 10.1097/QAI.0000000000001525. 12. Surial B et al.; Swiss HIV Cohort Study. Weight and Metabolic Changes After Switching From Tenofovir Disoproxil Fumarate to Tenofovir Alafenamide in People Living With HIV : A Cohort Study. Ann Intern Med. 2021 Jun;174(6):758-767. doi: 10.7326/M20-4853. 13. Bannister WP et al.: Changes in body mass index and clinical outcomes after initiation of contemporary antiretroviral regimens. AIDS. 2022 Dec 1;36(15):2107-2119. doi: 10.1097/QAD.0000000000003332. 14. Delabays B et al.: Cardiovascular risk assessment in people living with HIV compared to the general population. Eur J Prev Cardiol. 2022 Mar 30;29(4):689-699. doi: 10.1093/eurjpc/zwab201. 15. Grinspoon SK et al.: Pitavastatin to Prevent Cardiovascular Disease in HIV Infection. N Engl J Med. 2023 Aug 24;389(8):687-699. doi: 10.1056/ NEJMoa2304146. 16. Cohen MS et al.: Antiretroviral Therapy for the Prevention of HIV-1 Transmission. N Engl J Med. 2016 Sep 1;375(9):830-9. doi: 10.1056/NEJMoa1600693. Epub 2016 Jul 18. 17. Rodger AJ et al:. Risk of HIV transmission through condomless sex in serodifferent gay couples with the HIV-positive partner taking suppressive antiretroviral therapy (PARTNER): final results of a multicentre, prospective, observational study. Lancet. 2019 Jun 15;393(10189):2428-2438. doi: 10.1016/S0140-6736(19)30418-0. 18. Molina JM et al.: ANRS IPERGAY Study Group. On-Demand Preexposure Prophylaxis in Men at High Risk for HIV-1 Infection. N Engl J Med. 2015 Dec 3;373(23):2237-46. doi: 10.1056/NEJMoa1506273. 19. Delany-Moretlwe S et al.: Cabotegravir for the prevention of HIV-1 in women: results from HPTN 084, a phase 3, randomised clinical trial. Lancet. 2022 May 7;399(10337):1779-1789. doi: 10.1016/S01406736(22)00538-4. 20. data.prepwatch.org
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