Transkript
SGAIM
Schlafstörungen
Alternativen zu Benzodiazepinen anbieten
Foto: zVg
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Benzodiazepine sind zuverlässige Schlafmittel, doch sollten bei einer Insomnie erst alle nicht medikamentösen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Reicht dies nicht aus, sollten pflanzliche oder weitere schlafanstossende Alternativen zu Benzodiazepinen ausprobiert werden. Besteht bereits eine Benzodiazepinsucht, sollte ein Ausschleichversuch unternommen werden. Denn jede Dosisreduktion ist eine Risikoreduktion. Wie Patienten dazu motiviert werden können, erklärten Prof. Stefan Neuner-Jehle und Dr. Katja Weiss vom Institut für Hausarztmedizin, Zürich, am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM).
Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbe-
fragung 2023 (n = 21 930) leidet jeder dritte bis
vierte Einwohner unter leichten und etwa jeder
zehnte unter schweren Schlafstörungen (1).
Gründe dafür können somatischer Natur sein,
beispielsweise durch entzündliche Schmerzen,
kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlafapnoe-
Syndrom, Blasenstörungen, Menopausestörun-
gen oder Restless-Legs-Syndrom. Zu Schlaf-
Prof. Neuner-Jehle
störungen kann es auch im Rahmen von psychischen Erkrankungen wie Angst oder Depres-
sion kommen. Diese können mit je 2 Fragen
exploriert werden (Kasten) (2). Auch der Le-
bensstil kann Schlafstörungen induzieren: ein
verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus, «senile
Bettflucht» mit unrealistischen Erwartungen,
psychostimulierende Medikamente oder Subs-
tanzen (z. B . Kaffee, Wein), wie auch eine un-
günstige Schlafumgebung. Zu lange Mittags-
schläfchen (> 30 min.) und/oder «Fernseh-
Dr. Katja Weiss
schlaf» am Abend beeinträchtigen den nächtlichen Schlaf ebenso. Eine normale
Schlafdauer bei einer erwachsenen Person be-
trägt zwischen 6 und 8 Stunden, mit zunehmendem Alter
weniger. Ein Schlaftagebuch kann über die Gewohnheiten
Aufschluss geben.
KURZ & BÜNDIG
� Schlafgewohnheiten und Lebensstil sollten bei einer Insomnie als Erstes abgeklärt und eventuell korrigiert werden.
� Eine KVT-I können Patienten auch online absolvieren. � Alternativen zu Benzodiazepinen sollen angeboten werden. � Benzodiazepine sollten über Monate ausgeschlichen wer-
den. � Jede Dosisreduktion ist ein Erfolg.
Nicht medikamentöse Behandlungsoptionen versuchen
Vor einem Einsatz von Medikamenten sollten idealerweise die Lebensgewohnheiten angesprochen und gegebenenfalls «schlaffreundlich» angepasst werden. Das erfolgt beispielsweise mithilfe der kognitiven Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I), die 5 verschiedene Themen bearbeitet: Schlafhygiene, Stimuluskontrolle, Entspannungstechniken, Denkmusterkontrolle und Schlafrestriktion, wie Expertin Weiss erklärte. Die KVT-I bietet Hilfe in der Wissensvermittlung und in der Umsetzung von schlafförderndem Verhalten. Das heisst, im Schlafzimmer sollte nur geschlafen werden, und bei ausbleibendem Schlaf sollte das Schlafzimmer verlassen werden, bis die Müdigkeit gross genug ist für einen weiteren Schlafversuch. Auf wachmachende Bildschirmaktivitäten im Bett sollte verzichtet werden. Mithilfe von Entspannungstechniken können auch problembeladene Gedanken ferngehalten werden. Die Schlafzeiten sollten ausserdem begrenzt werden, sodass am Abend ein genügend grosser Schlafdruck entstehen kann. Eine britische Studie zum Nutzen einer Schlafrestriktion hat gezeigt, dass 42 Prozent der durch eine Praxisassistentin instruierten Patienten eine relevante Verbesserung der Insomnie erfuhren (vs. 17% bei den Kontrollen). Dabei stieg die Lebensqualität, und die depressiven Symptome sowie die eingeschränkte Tagesaktivität verringerten sich (4). KVT-I-Kurse für Insomnie können von Patienten online absolviert werden, von einigen Krankenkassen werden die Kosten dafür übernommen. Hausärzte können die KVT-I-Therapie ebenfalls durchführen. Ein Ausbildungskurs kann im Schlaf-Wach-Epilepsie-Zentrum in Bern jeweils im Frühjahr besucht werden. Auch die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel bieten jährlich im Herbst einen KVT-I-Kurs an. Inhaltlich orientiert sich der Kurs an den Vorgaben des European Insomnia Network (EIN) mit zusätzlichem Gestaltungsspielraum. Weitere Kurse sind auf der EIN webpage gelistet (Linktipps) (die Kurse in Freiburg (D) sind online, auf Englisch oder Deutsch). Es findet jährlich auch ein Kurs beim SGSSC-Meeting statt (Linktipps). Der Kurs ist z. B. für Pneumologen geeignet, die
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Kasten:
Screeningfragen zu Angst und Depression (10)
Angst: Waren Sie in den letzten 4 Wochen ▲ nervlich angespannt, ängstlich, evtl. mit einer Panikattacke? ▲ besorgt über viele Dinge (kaum kontrollierbar)?
Depression: Waren Sie in den letzten 2 bis 4 Wochen ▲ interesse- oder freudlos bei Ihren Tätigkeiten? ▲ niedergeschlagen, schwermütig oder hoffnungslos?
den Fähigkeitsausweis Schlafmedizin erwerben wollen und den Erwerb von KVT-I-Kenntnissen nachweisen müssen. Als verfügbare Apps sind aktuell in der Schweiz «Sweet Dreams» von Mein Sleep Coach, «KSM Somnet» (nur von einzelnen Kassen erstattet) und die «Sonoa App» für CSS Versicherte (mit Zusatzversicherung kostenlos) bekannt, die auch therapiebegleitend eingesetzt werden können.
Benzodiazepine immer noch verbreitet
Laut einer Studie des Sentinella-Forschungsnetzwerkes (5) werden in Schweizer Hausarztpraxen bei chronischer Schlaflosigkeit in 70 Prozent der Fälle Medikamente verschrieben. Davon sind über ein Drittel Verschreibungen von Benzodiazepinen oder Z-Substanzen, ein weiteres Drittel Antidepressiva, der Rest verteilt sich auf Neuroleptika, Antihistami-
Linktipps
Entscheidungshilfen zum Benzostopp für Patienten
kostenlos bestellbar via: https://suchtpraevention-zh.ch/infomaterial/ https://www.rosenfluh.ch/qr/benzostopp
Infos/Teilnahme an der Zürcher Hausarzt-Studie https://redcap.link/hype_int
KVT-I-Kurse: European Research Network (EIN) www.rosenfluh.ch/qr/ein
Swiss Society for Sleep Research, Sleep Medicine and Chronobiology www.rosenfluh.ch/qr/swisssleep
nika, pflanzliche Mittel und andere. Schlafhygieneberatung und Psychotherapie machen nur je etwa 10 Prozent aus, und die KVT-I wird nur bei etwa 1% der Patientinnen und Patienten eingesetzt, obwohl dies laut Guidelines eigentlich die Firstline-Therapie wäre, so Neuner-Jehle. Glücklicherweise sei die generelle Verschreibung von Benzodiazepinen seit Jahren rückläufig (6), doch nehme sie mit steigendem Alter der Patienten immer noch zu (6, 7). Das gelte auch für die Z-Substanzen.
«Deprescribing Benzos»: Wie geht das?
Das Benzodiazepin-Problem ist bei den Patienten schwierig anzusprechen. Dennoch sollte ein Versuch unternommen werden, diese von ihrer Sucht zu befreien. Vor allem ältere Patienten sind betroffen, die beispielsweise wegen einer Nykturie einem höheren Risiko für schlafmittelbedingte Stürze bei nächtlichen Toilettengängen ausgesetzt sind. Als mögliche Motivationshilfe für einen Absetzversuch könnte beispielsweise als Argument angeführt werden, «dass der Körper sich im Alter verändert habe (z. B. abnehmende Nierenfunktion, Fettumverteilung) und man sich Sorgen mache, dass mit diesen Schafmitteln früher oder später etwas passiere». Auch eine mögliche Tagesmüdigkeit könnte als Anknüpfungspunkt herangezogen werden (Linktipp). Der eigentliche Absetzversuch ist ein Ausschleichen über 4 Monate. Eine schrittweise Dosisreduktion minimiere die Entzugserscheinung beziehungsweise die reaktive Schlaflosigkeit, so Neuner-Jehle. Hat der Patient die Möglichkeit, die Reduktionsgeschwindigkeit selbst mitsteuern, führe dies zu einem besseren Resultat. Jede Dosisreduktion sei ein Erfolg, so Neuner-Jehle. Denn das Risiko für kognitive Nebenwirkungen unter Benzodiazepinen ist etwa 5-fach höher als ohne, für psychomotorische Ereignisse ist es 2,6-fach höher, für Tagesmüdigkeit 3,8-fach höher. Für Stürze mit Spitalfolge liegt die Number Needed to Harm (NNH) bei 100, für irgendeine Nebenwirkung beträgt die NNH 8 (8, 9).
Mögliche Alternativen
Eine Insomniebehandlung kann anstelle von Benzodiazepinen gemäss der S3-Leitlinie für Insomnie auch mit Trazodon in tiefer, schlafanstossender Dosierung von 25–50 mg (off-label) erfolgen. Mögliche Nebenwirkungen sind dabei Mundtrockenheit, Myalgien oder gastrointestinale Probleme. Mirtazapin in tiefer, schlafanstossender Dosierung von 7,5–15 mg ist ebenfalls eine Option. Möglicherweise sind die Patienten von Albträumen geplagt, Verwirrtheit, Angstfühle und weiteren Nebenwirkungen wie auch einer Appetitsteigerung und Gewichtszunahme. Eine Therapie mit Melatonin 2 mg während 3–13 Wochen ist eine weitere Möglichkeit (10). Weitere gute Optionen sind Phytotherapeutika wie Baldrian, Hopfen oder Lavendel. Beim Einsatz von Antihistaminika der 1. Generation (Doxylamin, Diphenhydramin), Neuroleptika (Quetiapin 25–50 mg) und Gabapentinoiden (Pregabalin 25–100 mg, Gabapentin 100–300 mg) sind die häufigen Nebenwirkungen zu bedenken. Mit Daridorexant 50 mg steht seit kurzem eine neue Alternative ohne Suchtpotenzial zur Verfügung. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Somnolenz, Schwindelgefühl, Übelkeit, Ermüdung sind jedoch häufig (1–10%) (11).
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Welches Vorgehen denn in der hausärztlichen Betreuung am
besten funktioniert, ist bisher nicht geklärt und darum Ge-
genstand aktueller Forschung. Das Institut für Hausarztme-
dizin Zürich führt derzeit eine wichtige Studie zum Thema
Schlafstörungen durch. Diese zielt darauf ab, zwei verschie-
dene Behandlungsansätze bei Patienten über 65 Jahren mit-
einander zu vergleichen. Für weitere Informationen zur Stu-
die und zur Anmeldung können interessierte Hausärztinnen
und Hausärzte den angegebenen Link oder den QR-Code
nutzen (Linktipp). Das Institut für Hausarztmedizin Zürich
bedankt sich bei allen, die so mithelfen, eine «Best Practice»
zu diesem schwierigen Thema zu entwickeln!
s
Valérie Herzog
Quelle: «Schlaflos in Basel: Ursachen, Behandlungsoptionen, Benzo-Deprescribing». Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), 29. bis 31. Mai 2024, Basel.
Referenzen: 1. BFS (Bundesamt für Statistik) Schweizerische Gesundheitsbefragung
2023. 2. S3-Leitlinie: Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen 2017
3. Erten Uyumaz B et al.: A review of digital cognitive behavioral therapy for insomnia (cbt-i apps): are they designed for engagement?. Int J Environ Res Public Health. 2021;18(6):2929. doi:10.3390/ijerph18062929.
4. Kyle SD et al.: Clinical and cost-effectiveness of nurse-delivered sleep restriction therapy for insomnia in primary care (HABIT): a pragmatic, superiority, open-label, randomised controlled trial. Lancet. 2023;402(10406):975-987. doi:10.1016/S0140-6736(23)00683-9.
5. Maire M et al.: Prevalence and management of chronic insomnia in Swiss primary care: cross-sectional data from the «Sentinella» practice-based research network. J Sleep Res. 2020;29(5):e13121. doi:10.1111/jsr.13121.
6. https://www.versorgungsatlas.ch/indicator/_021. Letzter Abruf: 24.6.24. 7. Landolt S et al.: Benzodiazepine and Z-Drug Use in Switzerland: Preva-
lence, Prescription Patterns and Association with Adverse Healthcare Outcomes. Neuropsychiatr Dis Treat. 2021;17:1021-1034. doi:10.2147/NDT. S290104. 8. Glass J et al.: Sedative hypnotics in older people with insomnia: meta-analysis of risks and benefits. BMJ. 2005;331(7526):1169. doi:10.1136/ bmj.38623.768588.47. 9. Holbrook AM et al.: The diagnosis and management of insomnia in clinical practice: a practical evidence-based approach. CMAJ. 2000;162(2):216220. 10. Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin e.V. (DGSM): S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen - Insomnie bei Erwachsenen. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/063-003. Letzter Abruf: 24.6.24. 11. Fachinformation Daridorexant. www.swissmedicinfo.ch. Letzter Abruf: 24.6.24.
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