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SGR
Pro/Kontra-Debatte zur Polymyalgia rheumatica
«Die Polymyalgia rheumatica ist eine überdiagnostizierte Erkrankung»
Foto: zVg
Eine Debatte am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) beschäftigte sich mit der Frage, ob es sich bei der Polymyalgia rheumatica um eine eigenständige Erkrankung handelt oder nicht. Den Pro- beziehungsweise den Kontra-Standpunkt vertraten Prof. Sabine Adler, Kantonsspital, Aarau, und Prof. Thomas Daikeler, Universitätsspital, Basel. Der Vorsitzende der Debatte, Prof. Stephan Donat Gadola, Bethesda-Spital, Basel, fasste in einem Interview die wichtigsten Punkte zusammen.
CongressSelection: Prof. Gadola, was spricht dafür, dass die Polymyalgia rheumatica (PMR)
eine eigenständige Erkrankung darstellt?
Prof. Stephan Gadola: Eine klassische PMR ist durch vier Faktoren charakterisiert. Die ersten
beiden Faktoren sind symmetrisch auftretende
Schmerzen in Nacken, Schultern und im Be-
reich des unteren Rückens beziehungsweise des
Beckens, die am Morgen am stärksten sind und
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Stephan Donat Gadola
sich im Verlauf des Tages bessern, sowie eine Manifestation allerfrühestens ab dem 50. Lebensjahr. Dieses oder ein sehr ähnliches Bild
sehen wir in der Rheumatologie häufig, bei den
unterschiedlichsten Erkrankungen. Eine Besonderheit bei der
PMR ist, dass die Schmerzen akut, aus voller Gesundheit,
auftreten können, sich rasch entwickeln und typischerweise
zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität mit
Müdigkeit und Erschöpfung führen. Ein weiterer Faktor sind
Eine Besonderheit bei der PMR ist, dass die Schmerzen akut, aus voller Gesundheit, auftreten können, sich rasch entwickeln und typischerweise zu einer massiven Beeinträchtigung der Lebensqualität mit Müdigkeit und Erschöpfung führen.
erhöhte Entzündungsparameter, insbesondere eine oft stark erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit, BSR. Das C-reaktive Protein ist ebenfalls erhöht, aber im Vergleich zur BSR eher mässig und deutlich weniger als zum Beispiel bei einer Sepsis oder einer Pneumonie. Der vierte wichtige Faktor ist, dass die Symptome der PMR sehr gut und innert 12 bis maximal 24 Stunden auf tiefe Kortisondosen, also 10 mg Prednison pro Tag, ansprechen. Die Patienten fühlen sich innert eines
Tages quasi wie ‘neu geboren’. Dieses Kriterium wurde übrigens vom Expertengremium des American College of Rheumatology, ACR, und der European Alliance of Associations for Rheumatology, EULAR, 2012 in ihren «Provisional classification criteria for polymyalgia rheumatica» als Kardinalsymptom gewürdigt – aber als Klassifikationskriterium leider nicht aufgenommen (siehe Tabelle). Zusammengenommen sprechen diese Faktoren meiner Meinung nach dafür, dass wir es mit einem spezifischen Krankheitsbild zu tun haben.
Eine PMR tritt doch auch oft zusammen mit einer Riesenzellarteritis auf, oder? Gadola: Ja, genau. Etwa 16 bis 20 Prozent der Menschen mit PMR leiden bei Diagnosestellung auch an einer Riesenzellarteritis, und 40 bis 60 Prozent der Personen mit einer Riesenzellarteritis weisen auch typische Symptome einer PMR auf. Dies gibt uns zusätzliche Hinweise darauf, dass es sich bei der PMR und der Riesenzellarteritis um eigenständige Erkrankungsbilder handelt, deren zugrundeliegenden Pathomechanismen überlappen. Ähnliche Überlappungen sehen wir bei vielen anderen entzündlich-rheumatischen Krankheitsbildern.
Was spricht gegen eine eigenständige Erkrankung? Gadola: Eigentlich nichts, finde ich. Ein Schwachpunkt ist aber sicher, dass wir es bei der PMR mit einer rein klinischen Diagnose zu tun haben. Wir können die Betroffenen zwar mittels PET-CT oder Sonographie untersuchen, aber beide Methoden sind nicht spezifisch. Der sonographische Nachweis entzündlicher Veränderungen im Schulterbereich, z.B. eine Bursitis subacromialis, gilt als mögliches Kriterium einer PMR. Diese Befunde sind aber weder genügend sensitiv noch wirklich spezifisch. Mit dem PET-CT können wir ebenfalls Entzündungsaktivität im Gewebe darstellen, aber entzündliche Prozesse in den Hüften und Schultern können auch andere Ursachen haben, es muss nicht zwingend eine PMR dahinterstecken. An der Debatte wurde denn auch die Meinung vertreten, dass nicht bei jeder Person mit Verdacht auf eine
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Tabelle:
Polymyalgia rheumatica Klassifikationskriterien des American College of Rheumatology (ACR)/European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR) (nach [1])
Obligate Kriterien
• Alter > 50 Jahre
• beidseitige Schulterschmerzen
• erhöhte BSG und/oder erhöhtes C-reaktives Protein
Zusätzlich mindestens 4 (ohne Ultraschall) oder 5 (mit Ultraschall)
Punkte ohne
weitere Punkte:
Ultraschal
(0 bis 6)
Morgensteifigkeit > 45 Minuten
2
Hüftschmerz oder eingeschränkte Beweglichkeit der Hüfte
1
Kein Nachweis von Rheumafaktor oder Antikörpern gegen citrullinierte Peptide
2
Keine weiteren Gelenkschmerzen ausser Schulter- und Hüftschmerzen
1
Mindestens 1 Schulter mit Bursitis subdeltoidea und/oder Bizeps-Tenosynovitis und/oder
glenohumeraler Synovitis (entweder posterior oder axillär) und mindestens 1 Hüfte mit
Synovitis und/oder Bursitis trochanterica
Beide Schultern mit Bursitis subdeltoida, Bizeps-Tenosynovitis oder glenohumeraler Synovitis
Punkte mit Ultraschall (0 bis 8) 2 1 2 1 1
1
PMR ein PET-CT durchgeführt werden soll, wenn nicht der Verdacht auf eine begleitende Riesenzellarteriitis besteht. Bei hohem Verdacht auf eine PMR, aber fehlenden Hinweisen auf eine Riesenzellarteriitis, kann direkt mit einer Behandlung mit 10 mg Prednison pro Tag begonnen werden. Haben sich die Symptome bis zum nächsten Tag massiv, also über 70 bis 80 Prozent gebessert, kann – bei fehlendem Auftreten neuer, auf eine Riesenzellarteriitis hinweisender Symptome – auf ein PET-CT verzichtet werden.
Bei unkritischer Anwendung der Kriterien besteht die Gefahr, dass chronische Schmerzen im Schulter- und Beckenbereich einer PMR zugeordnet werden, ohne dass nach weiteren, deutlich häufigeren möglichen Ursachen für die Beschwerden gesucht wird.
Gibt es keine oder nur eine minimale Besserung müssen andere Diagnosen in Betracht gezogen werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, die Betroffenen bei der Diagnose einer PMR auf mögliche Symptome einer Riesenzellarteritis hinzuweisen, damit sie sich in diesem Fall sofort melden.
Weshalb ist es überhaupt relevant, ob eine PMR eine eigenständige Erkrankung ist oder nicht? Gadola: Die PMR ist meiner Erfahrung nach eine stark «überdiagnostizierte» Erkrankung, was sicher auch an der ungenügenden Präzision der ACR/EULAR-Kriterien liegt. Bei unkritischer Anwendung der Kriterien besteht die Gefahr,
dass chronische Schmerzen im Schulter- und Beckenbereich einer PMR zugeordnet werden, ohne dass nach weiteren, deutlich häufigeren möglichen Ursachen für die Beschwerden gesucht wird. Eine mechanisch bedingte chronische Bursitis subacromialis – die übrigens häufig beidseits auftritt, eine CPPD (Calcium Pyrophosphat Deposition Krankheit) mit kalzifizierender Tendinopathie, Omarthrose oder polymyalgischem Syndrom sind Beispiele häufiger Erkrankungen, die eine PMR vortäuschen können. Werden die Erkrankten dann auch noch mit 20 mg Kortison pro Tag therapiert, dann sprechen die Schmerzen ebenfalls an, allerdings typischerweise langsamer als bei einer PMR, das heisst erst nach 2 bis 3 Tagen. Bei noch höheren Dosen kommt es sehr wahrscheinlich zu einem rascheren Ansprechen, aber das Kardinalzeichen der PMR, das sehr rasche Ansprechen innert 12 bis 24 Stunde auf tief dosiertes Prednison, kann dann nicht mehr zur Diagnose verwendet werden. Es ist deshalb wichtig, diese Patientinnen und Patienten bereits am Tag nach dem Beginn der tief dosierten Kortisontherapie darüber zu befragen, wie rasch sich ihre Schmerzen verbessert haben. Wenn man sie erst nach mehreren Wochen wieder in der Sprechstunde sieht, dann haben sie den frühen Verlauf nach Therapiebeginn meist vergessen. Als weiterer Faktor für das Überdiagnostizieren einer PMR kommt möglicherweise dazu, dass sich die Rheumatologie in vielen Ländern – glücklicherweise nicht in der Schweiz – nur noch auf entzündliche Erkrankungen konzentriert. Das heisst, Rheumatologinnen und Rheumatologen lernen nicht mehr, den Bewegungsapparat manuell zu untersuchen. Die Schwelle zur Diagnose einer PMR als Ursache von Schmerzen in Schultern und Hüften könnte dadurch niedriger sein.
Welche Folgen hat diese Überdiagnose der PMR? Gadola: Die unkritische Diagnosestellung hat für die Betroffenen leider allzu oft negative Folgen. In erster Linie durch Nebenwirkungen der Langzeitsteroidtherapie. Und wenn die eigentliche Krankheitsursache nicht korrekt behandelt wird,
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dann treten die Schmerzen bei Reduktion der Steroiddosis, häufig auch bei Dosen über 10 mg pro Tag, wieder auf. Leider sehen wir viel zu häufig Patientinnen und Patienten, bei denen unter Langzeitsteroidtherapie im Rahmen einer früheren PMR-Diagnose multiple osteoporotische Frakturen aufgetreten sind. Deshalb sind solche Debatten auch so wichtig.
So wurden Personen in die Studien eingeschlossen, deren «PMR» als steroidrefraktär bezeichnet wurde, was den Verdacht erregt, dass andere Erkrankungen bestanden. Zweitens können dank der Zulassung Personen mit einer echten PMR nun mit einem teuren Antikörper therapiert werden, obwohl dieselben Patienten sicher und effektiv auch mit niedrigdosiertem Prednison behandelt werden können.
Die unkritische Diagnosestellung hat für die Betroffenen leider allzu oft negative Folgen. In erster Linie durch Nebenwirkungen der Langzeitsteroidtherapie.
In den USA wurde vor kurzem ein Medikament spezifisch für die Therapie der PMR zugelassen. Was sagen Sie dazu? Gadola: Bei dem in den USA zugelassenen Medikament handelt es sich um einen humanisierten monoklonalen Antikörper gegen den Rezeptor für Interleukin-6. Dieser Antikörper steht uns zur Behandlung der Riesenzellarteriitis schon länger zur Verfügung und erweist sich hier als gut wirksam. Aber im Vergleich zur PMR ist die Riesenzellarteriitis eine sehr gefährliche Erkrankung, mit einem komplett anderen Nutzen-Risiko-Verhältnis. Ich sehe die US-Zulassung bei der PMR aus zwei Gründen kritisch: Einerseits wurden meiner Meinung nach die Teilnehmer der zulassungsrelevanten Studien nicht genügend auf andere, auch häufiger vorkommende Ursachen eines polymyalgischen Syndroms hin untersucht.
Zu welchem Schluss kam die Debatte? Gadola: Eigentlich waren sich die beiden Debattierenden zum Schluss recht einig darüber, dass es die PMR als Krankheitsbild gibt. Prof. Daikeler hat zudem stark dafür plädiert, dass Patientinnen und Patienten mit einem polymyalgischem Syndrom frühzeitig rheumatologisch abgeklärt werden. Zum einen, um bei Personen mit einer echten PMR eine Riesenzellarteriitis auszuschliessen oder nachzuweisen, zum anderen, um andere Differenzialdiagnosen gründlich zu prüfen. Die weitere Langzeitbehandlung sollte dann aber von den Hausärztinnen und Hausärzten, gegebenenfalls mit Reevaluation in der Rheumasprechstunde zur Therapieanpassung, erfolgen. Prof. Daikeler hat auch das Register der Swiss Clinical Quality Management in Rheumatic Diseases Foundation, SCQM, erwähnt, das auch die PMR und die Riesenzellarteriitis einschliesst. Auswertungen dieser Daten könnten in Zukunft dazu beitragen, die PMR besser zu verstehen. Auch deshalb wäre eine rheumatologische Abklärung sinnvoll.
Prof. Gadola, herzlichen Dank für das Gespräch! Das Gespräch führte Therese Schwender.
s
Referenz: 1. Dasgupta B et al. Provisional classification criteria for polymyalgia rheu-
matic. Arthritis Rheum 2012;64:943-54.
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