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Kontroverse Lipidsenkung
Bei wem eine Cholesterinsenkung sinnvoll ist
In den letzten 30 Jahren sind die LDL-Cholesterin-Zielwerte für Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko nahezu halbiert worden. Dafür gibt es mehrere Günde. Zum einen verfolgen die ambitionierten Lipidziele die Reduktion der Lipidexposition über die ganze Lebensspanne, um so einer Entstehung von Läsionen möglichst vorbeugen zu können. Zum anderen wurden in dieser Zeit auch immer potentere Lipidsenker entwickelt, die dieses Ziel realisierbar machen. Wie, womit und bei wem therapiert und ob bei Menschen über 70 Jahren gleich strikt verfahren werden soll, erklärten Experten am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie (SSC) in Basel.
Gemäss den derzeitigen Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) liegen die Zielwerte für LDL-Cholesterin (LDL-C) für Patienten mit einem tiefen 10-Jahresrisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis < 1% (SCORE-Chart [1]) bei 3,0 mmol/l, für Patienten mit einem moderaten Risiko (SCORE: 1–5%) oder für Patienten mit Diabetes bei 2,6 mmol/l, wie Dr. Baris Gencer, Kardiologie, Universitätsspital Genf, berichtete. Für Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko gilt ein LDL-C-Zielwert von 1,8 mmol/l. Das sind Patienten mit einem 10-Jahresrisiko für ein kardiovaskuläres Ereignis zwischen 5 und 10% (SCORE), erhöhten Cholesterin- (> 8 mmol/l) oder LDL-C-Werten (> 4,9 mmol/l) oder einem Blutdruck von > 180/110 mmHg, einer familiären Hypercholesterinämie, einer mittelschweren chronischen Nierenerkrankung (eGFR [geschätzte glomeruläre Filtrationsrate] 30–59 ml/min/1,73 m2), Typ-2-Diabetes mit seit > 10 Jahren mit oder ohne Organschaden (2). Bei Patienten mit sehr hohem Risiko (SCORE > 10%) und atherosklerotisch bedingter kardiovaskulärer Erkrankung (ASCVD), familiärer Hypercholstereinämie, chronischer Nierenerkrankung (eGRF < 30 ml/min/1,73 m2), Diabetes mit bereits eingetretenem Organschaden oder einem Typ-1-Diabetes seit > 20 Jahren liegt der LDL-C-Zielwert bei 1,4 mmol/l.
KURZ & BÜNDIG
� Lebenszeit-LDL-Exposition möglichst tief halten. � LDL-C so aggressiv wie möglich behandeln. � Für eine effiziente Therapie sollten Kombinationen von
Lipidsenkern verwendet werden.
� Bei älteren Patienten den Nutzen gegen das Risiko abwägen.
Was die AGLA empfiehlt
Die Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) empfiehlt in ihren Guidelines von 2023 bei einem tiefen kardiovaskulären Risiko und einem LDL-C-Wert < 2,6 mmol/l lediglich eine Lebensstilberatung. Ist das kardiovaskuläre Risiko allerdings moderat, soll auch bei einem LDL-C-Wert < 2,6 mmol/l zusätzlich eine Statintherapie erwogen werden (3). Eine alternative Behandlung über spezielle Lebensmittel ist gemäss Gencer wenig zielführend, denn im Vergleich zu Rosuvastatin, das eine LDL-C-Senkung von 38 Prozent bewirkt, bringen spezielle Nahrungsmittel wie roter Reis, pflanzliche Steroide und Fischöl eher bescheidene Reduktionen (–6,6%, –4,4% bzw. –3,4%) (4). Bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko soll das LDL-C gemäss AGLA-Guidelines mit einem hochwirksamen Statin (Rosuvastation, Pitavastatin, Atorvastatin) auf < 1,8 mmol/l und um ≥ 50% des Ausgangswerts gesenkt werden (3). Kann das damit nicht erreicht werden, muss eine allfällige familiäre Hypercholesterinämie (FH) abgeklärt werden. Im positiven Fall soll mit Ezetimibe und bei ungenügendem Erfolg mit einem PCSK9-Hemmer oder Bempedoinsäure auf ≤ 2,6 mmol/l gesenkt werden. Ist die FH negativ, kommt zum Statin zusätzlich Ezetimibe zum Einsatz. Bei Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko soll das LDL-C gemäss AGLA auf < 1,4 mmol/l und um ≥ 50 Prozent gesenkt werden. Ist das mit einem hochwirksamen Statin nicht möglich, kann ohne Vorliegen einer ASCVD die Zugabe von Ezetimibe helfen. Bei einer manifesten ASCVD gilt ein Zielwert von ≤ 1,4 mmol/l, der mit einer zusätzlichen Gabe von Ezetimibe erreicht werden soll. Bleibt das ohne Erfolg, sind PCSK9-Hemmer oder Bempedoinsäure eine zusätzliche Option. Auch der Zeitpunkt des Therapiebeginns hat einen Einfluss auf künftige kardiovaskuläre Ereignisse, wie sich in der vordefinierten Subanalyse der FOURIER-Studie mit dem PCSK9-Hemmer Evolocumab zeigte. Wurde dieser innerhalb
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Tabelle:
Zu erwartende LDL-Reduktion mit verschiedenen Therapien
Lipidsenker
Beispiel
Statine,
Atorvastatin 40–80 mg/Tag
hochpotent
Rosuvastatin 20–40 mg/Tag
Ezetimibe
Ezetimibe 10 mg/Tag
PCSK9-Hemmer Evolocumab 140 mg alle 2 Wochen
Alirocumab 75 mg alle 2 Wochen
Bempedoinsäure Bempedoinsäure 180 mg/Tag
Bempedoinsäure + Bempedoinsäure 180 mg/Tag +
Ezetimibe
Ezetimibe 10 mg/Tag
Inclisiran
Inclisiran 300 mg an Tag 1 und
Tag 90, dann alle 6 Monate
Quelle: B. Gencer, SGK 2023
LDL-CReduktion ≥ 50%
20–25% 50–70%
16–18%, 20–22% ohne Statine 38%
50%
von 4 Monaten nach einem Herzinfarkt installiert, war die Rate an weiteren kardiovaskulären Ereignissen tiefer als wenn die PCSK9-Hemmer-Therapie erst 4 Jahre nach dem letzten Myokardinfarkt begonnen wurde (5).
Mehr Ausweichmöglichkeiten
Die verschiedenen Lipidsenkertherapien haben unterschiedliches Potenzial zur Senkung des LDL-C. Einzeln oder in Kombinationen können starke Reduktionen erzielt werden (Tabelle). Die in letzter Zeit grösser gewordene Auswahl an Lipidsenkern erlaubt auch Alternativbehandlungen, zum Beispiel bei Unverträglichkeiten auf Statine. Allerdings wird die Prävalenz von Statinintoleranzen laut Dr. David Carballo, Kardiologie, Universitätsspital Genf, trotz medialer Präsenz überschätzt. Tatsächlich fand eine Metaanalyse anhand von > 4 Millionen Patientendaten aus 176 Statinstudien eine tiefe Prävalenz von Statinintoleranzen von 5 bis 7 Prozent, wenn sie gemäss den internationalen Definitionen diagnostiziert wurden. Dabei war die Statinintoleranz in randomisiert kontrollierten Studien signifikant seltener (4,9%) als in Kohortenstudien (17%). Als Risikofaktoren für eine Statinintoleranz erwiesen sich das Alter, weibliches Geschlecht, asiatische oder schwarze Ethnie, Adipositas, Diabetes mellitus, Hypothyreose und chronische Leber- sowie Niereninsuffizienz. Antiarrhytmika, Kalziumkanalblocker, Alkoholkonsum und höhere Statindosen verstärkten dieses Risiko ebenfalls.
Gleiche Lipidsenkung für alle älteren Patienten?
Weil kardiovaskuläre Ereignisse bei Menschen über 65 Jahre zu einer der Hauptursachen von Hospitalisationen und Todesfällen werden, ist die Lipidsenkertherapie eigentlich gerade in dieser Altersgruppe sehr wichtig. Statinstudien wie beispielsweise die PROSPER-Studie mit Pravastatin zeigten bei Patienten im Alter > 70 Jahre mit kardiovaskulären Risikofaktoren nach 3-jähriger Einnahme eine signifikante Reduktion des Risikos für koronare Herzerkrankung, was gemäss den Studienautoren für eine primärpräventive Statinbehandlung in dieser Altersklasse spricht (6).
Eine Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists (CTT)
über 14 Statinstudien und 90 056 errechnete mit der Senkung
des LDL-C pro 1 mmol/l eine Reduktion von schweren vas-
kulären Ereignissen von 21 Prozent über 5 Jahre für alle Al-
terklassen (7).
Ein weiterer systematischer Review mit Metaanalyse unter-
suchte den Nutzen einer Lipidsenkung (nicht nur mit Stati-
nen) bei Personen > 75 Jahre und fand eine gleich starke Re-
duktion von schweren kardiovaskulären Ereignissen wie bei
< 75-Jährigen (8). Eine weitere Metaanalyse befasste sich mit dem Effekt einer Statintherapie bei > 75-Jährigen. Ihr Anteil
in den 28 berücksichtigten Studien lag bei 8% (n = 14 483).
Das Resultat zeigte auch in dieser Analyse eine signifikante
Reduktion von schweren kardiovaskulären Ereignissen in
allen Altersklassen, bei > 75-Jährigen allerdings etwas weni-
ger ausgeprägt (9).
Die ESC-Guidelines zur Prävention von kardiovaskulären
Erkrankungen empfehlen die Statintherapie bei älteren Per-
sonen mit ASCVD gleichermassen wie bei Jüngeren (Emp-
fehlungsgrad 1/A). In der Primärprävention kann ein Beginn
einer Statintherapie bei Patienten > 70 Jahre erwogen wer-
den, wenn ein hohes kardiovaskuläres Risiko besteht (Emp-
fehlungsgrad 2b/B) (9).
Über die Frage, ob in der kardiovaskulären Primärpräven-
tion bei > 75-Jährigen eine Statintherapie überhaupt von
Nutzen ist oder nur Nebenwirkungen und Interaktionen in-
duziert und letztlich die Lebensqualität senkt, ist eine Kont-
roverse entbrannt. Denn Guidelines empfehlen zwar den
Beginn einer Statintherapie, nicht aber den Zeitpunkt für
ihren Stopp. Um diese Fragen zu beantworten, sind derzeit
zwei Studien im Gang. Die eine Studie aus Frankreich unter-
sucht die Auswirkung eines Stopps versus Fortführung einer
primärpräventiven Statintherapie bei > 75-jährigen Patienten
während 3 Jahren (10), die andere Studie aus der Schweiz bei
> 70-Jährigen ohne vorangegangenen Herzinfarkt oder
Hirnschschlag (11) während 1 bis 4 Jahre.
Bis darüber Klarheit herrscht, bleibt die Entscheidung
schwierig. Carballo empfiehlt zur Entscheidungsfindung ab-
schliessend folgende Überlegungen:
s Evaluation von kardiovaskulären Risikofaktoren wie
Hypertonie, Rauchen, Diabetes und weitere Komorbidi-
täten.
s Nutzen-Risiko-Analyse einer Statintherapie hinsichtlich
Nebenwirkungen wie Muskelschmerzen und Leber-
abnormalitäten (selten).
s Guidelines nicht als Ersatz einer individuell angepassten
Entscheidung ausführen.
s Nutzen und Risiken mit den Patienten diskutieren und ihre
Präferenz berücksichtigen. Manche Patienten befürworten
eine aggressive Lipidsenkung, andere wieder nicht.
s Multidisziplinärer Ansatz.
s Regelmässige Kontrolle des Therapieansprechens und Re-
evaluierung der Behandlung.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Cardiovascular prevention». Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie, 21. bis 23. Juni 2023 in Basel.
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Referenzen: 1. Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease preven-
tion in clinical practice. Eur Heart J. 2021;42(34):3227-3337. 2. Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipi-
daemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk [published correction appears in Eur Heart J. 2020 Nov 21;41(44):4255]. Eur Heart J. 2020;41(1):111-188. 3. AGLA: Prävention der Atherosklerose 2023. www.agla.ch. 4. Laffin LJ et al.: Comparative effects of low-dose rosuvastatin, placebo, and dietary supplements on lipids and inflammatory biomarkers. J Am Coll Cardiol. 2023;81(1):1-12. 5. Gencer B et al.: Efficacy of evolocumab on cardiovascular outcomes in patients with recent myocardial infarction: a prespecified secondary analysis from the FOURIER trial. JAMA Cardiol. 2020;5(8):952-957. 6. Shepherd J et al.: Pravastatin in elderly individuals at risk of vascular disease (PROSPER): a randomised controlled trial. Lancet. 2002;360(9346): 1623-1630. 7. Baigent C et al.: Efficacy and safety of cholesterol-lowering treatment: prospective meta-analysis of data from 90,056 participants in 14 randomised trials of statins Lancet. 2005;366(9493):1267-1278. 8. Gencer B et al.: Efficacy and safety of lowering LDL cholesterol in older patients: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. Lancet. 2020;396(10263):1637-1643. 9. Visseren FLJ et al.: 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J. 2021;42(34):3227-3337. 10. Statins In The Elderly (SITE). www.clinicaltrials.gov. NCT02547883 11. Studie zum Nutzen der Statin-Therapie bei älteren Personen ohne vorbestehenden Herzinfarkt oder Schlaganfall (STREAM). www.kofam.ch/ en/snctp-portal/searching-for-a-clinical-trial/193262/study/61852. Letzter Abruf: 24.7.23.
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