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EULAR
Komplikation rheumatischer Erkrankungen
Wenn Schmerzen sich selbstständig machen
Chronischer Schmerz stellt im Umgang mit Rheumapatienten eine erhebliche Herausforderung dar, zumal sich das initial infolge von Entzündung auftretende Schmerzgeschehen verselbständigen kann. In diesem Fall persistiert der Schmerz, auch wenn die Inflammation gut kontrolliert ist. Im schlimmsten Fall kann sich der Schmerz bis hin zum Ganzkörperschmerz ausbreiten. In der Therapie des chronischen Schmerzes stehen nicht medikamentöse Massnahmen im Vordergrund.
Chronische Schmerzen sind die häufigste Ursache für einen Arztbesuch und für bis zu 50 Prozent aller Konsultationen beim Hausarzt verantwortlich (1). Die Prävalenz ist sehr hoch. Eine Auswertung der UK-Biobank ergab, dass in Grossbritannien 40 Prozent der Bevölkerung zwischen 40 und 69 Jahren unter chronischen Schmerzen leiden (2). Rückenschmerzen sind weltweit die häufigste Ursache für Behinderungen (3). Daten eines rheumatologischen Zentrums in Grossbritannien zeigen, dass Schmerzen für Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) das wichtigste Problem darstellen. Dies ändert sich zwar unter Therapie mit Biologika signifikant, aber bei weitem nicht vollständig (4).
Schmerzen trotz guter Kontrolle der Grunderkrankung
Bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Entzündung und Schmerz, wie MRT-Studien zeigen, wobei eine Synovitis die stärkste Korrelation mit Schmerz aufweist (5). Leider, so betonte die Rheumatologin Anushka Soni, University of Oxford, liegt dem Schmerz bei rheumatischen Erkrankungen jedoch ein komplexeres Geschehen zugrunde, denn er lässt sich nicht allein durch die Kontrolle der Entzündung verlässlich ausschalten. So zeigen Studiendaten, dass drei Monate nach dem Beginn einer Therapie mit Methotrexat 60 Prozent der RA-Patienten nach wie vor unter Schmerzen leiden. Besonders beunruhigend sei, so Soni, dass das auch unter den Patienten mit gutem Ansprechen noch immer 30 Prozent betrifft – und zwar Patienten mit früher RA, bei denen noch keine strukturellen Schäden zu erwarten sind (6). Es stellt sich also die Frage, worauf diese Diskrepanz zurückzuführen ist. Eine aggressivere Therapie scheint nicht die Lösung zu sein. Soni verweist auf einen Vergleich von Kohorten aus der Vor-Biologika-Zeit und den 2000er Jahren, der in Sachen Schmerz trotz besserer Kontrolle der Krankheitsaktivität nur eine geringe Verbesserung durch die besseren Therapiemöglichkeiten zeigt (7). Die wahrscheinliche Antwort ist im Nervensystem selbst zu suchen. Soni verweist auf präklinische Studien, deren Ergebnisse für eine Sensibilisierung peripherer Neuronen durch verschiedene, in Zusammenhang mit rheumatischen Erkran-
kungen ausgeschüttete, Zytokine sprechen. Diese dürften permanente Effekte haben (8) und könnten möglicherweise auch in höheren Bereichen der Schmerzverarbeitung, wie im dorsalen Wurzelganglion oder im Gehirn, relevant sein. Mittels Bildgebung konnte gezeigt werden, dass die Konnektivität zwischen pronozizeptiven Zentren im Gehirn bei Vorliegen von Entzündungsmarkern im Blut zunimmt (9). Soni: «Der Schmerz ist also überall: in den Gelenken und sämtlichen Ebenen des peripheren und zentralen Nervensystems.» Verkompliziert werden die Zusammenhänge dadurch, dass die Schmerzverarbeitung im Gehirn ausgeprägte individuelle Besonderheiten aufweist. Untersuchungen mit fMRT haben insgesamt 21 Regionen im Gehirn identifiziert, die mit Schmerzverarbeitung in Zusammenhang stehen, wobei die Beteiligung einiger dieser Zentren deutlichen interindividuellen Schwankungen unterworfen ist. Darunter befinden sich auch Bereiche des Gehirns, die bislang nicht mit der Schmerzwahrnehmung in Zusammenhang gebracht wurden, wie Regionen im Kleinhirn, im visuellen und im präfrontalen Kortex (10). Diese individuellen Besonderheiten könnten zukünftig den Weg in Richtung einer personalisierten Schmerztherapie weisen. Eine zunehmende Sensibilisierung durch inflammatorische Stimuli findet auch in der Peripherie statt. Im Mausmodell konnte gezeigt werden, dass sich durch mehrmalige Verabreichung eines akuten inflammatorischen Reizes ein ausgedehnter chronischer Schmerz induzieren lässt. Dieser Schmerz wird durch zirkulierende neutrophile Granulozyten verbreitet, die in sensorische Ganglien einwandern. In einem weiteren Schritt konnte Schmerz von Patienten mit Fibromyalgie mit Neutrophilen auf Versuchstiere übertragen werden (11).
Die neue Kategorie noziplastischer Schmerz
Um diesen Befunden sowie den damit korrelierenden klinischen Beobachtungen Rechnung zu tragen, hat die Weltschmerzorganisation (IASP = International Association for the Study of Pain) neben dem nozizeptiven und dem neuropathischen Schmerz eine weitere Schmerzkategorie eingeführt: den noziplastischen Schmerz. Dieser ist die Folge einer veränderten Nozizeption ohne Hinweis auf eine Schädigung des Gewebes, die die peripheren Nozizeptoren aktiviert.
CongressSelection Rheumatologie | August 2023
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Beim noziplastischen Schmerz fehlen Hinweise auf Läsionen des somatosensorischen Systems. Diesbezüglich unterscheidet sich der noziplastische vom neuropathischen Schmerz, dem eine Schädigung der Nervenfasern zugrunde liegt. Zu den noziplastischen Schmerzen zählen unter anderem Schmerzen im Rahmen des Fibromyalgiesyndroms, das komplexe regionale Schmerzsyndrom und zum Teil auch chronische Schmerzen im Rahmen rheumatischer Erkrankungen.
Chronischer primärer Schmerz
Auf Initiative der IASP wurde auch die Kategorie des chronischen primären Schmerzes in die ICD-11 Klassifikation aufgenommen (12). Sie bezeichnet chronischen Schmerzen, die ohne erkennbare Ursache auftreten und nun als eigenständiges Krankheitsbild klassifiziert werden. Im Gegensatz dazu tritt der chronische sekundäre Schmerz infolge einer anderen Erkrankung auf, beispielsweise einer RA, kann aber persistieren, wenn die Grundkrankheit kontrolliert ist. In der Praxis kann es schwierig sein, zwischen diesen beiden Schmerzformen zu unterscheiden, wie Soni betont. Den Verdacht auf einen primären Schmerz lenken sollte ein Ganzkörperschmerz (chronic widespread pain), der schlecht oder gar nicht auf Therapie anspricht, verbunden mit Fatigue, Überempfindlichkeit gegenüber visuellen, auditiven und taktilen Reizen, Konzentrationsproblemen und Komorbiditäten wie Allergien. Typischerweise wird der primäre Schmerz von den Betroffenen als lebensbestimmend empfunden. Soni weist darauf hin, dass chronischer Ganzkörperschmerz auch sekundär im Gefolge rheumatischer Erkrankungen auftreten kann. Dies konnte beispielsweise für die axiale Spondyloarthritis gezeigt werden, bei der Ganzkörperschmerz mit schlechter Krankheitskontrolle, Fatigue, schlechter Schlafqualität und Stress assoziiert ist (13). Eine Studie mit RA-Patienten zeigte, dass Ganzkörperschmerz stark mit dem Vermeiden von Bewegung assoziiert ist (14). Wenn man ein solches Verhalten bemerkt, könnte sich eine Möglichkeit der Intervention ergeben, so Soni.
Chronischen Schmerz personalisiert behandeln
In der aktuellen Leitlinie des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) zum Management chronischer Schmerzen stehen Training und Bewegung an prominenter Stelle. Im Rahmen einer personalisierten Behandlungsstrategie werden ebenso psychologische Therapien, Akupunktur und (an letzter Stelle) medikamentöse Massnahmen empfohlen (15). Für die Bewegungstherapie wird ein Training in der Gruppe mit Supervision angeraten. Die psychologischen Methoden der Wahl sollten laut NICE die kognitive Verhaltenstherapie und die Akzeptanz- und Commitmenttherapie sein. In der Praxis kann es schwierig sein, für Schmerzpatienten entsprechende Therapieangebote zu finden. Möglicherweise können hier in Zukunft elektronische Medien und künstliche Intelligenz helfen. Zumindest zeigt eine Studie gute Erfolge mit 15-minütigen telefonischen Konsultationen und mittels KI erstellten und individu-
ell angepassten Übungsmodulen (16). Hinsichtlich der medi-
kamentösen Therapie empfiehlt NICE bei chronischen
Schmerzen nach eingehender Diskussion von potenziellen
Vor- und Nachteilen nur noch Antidepressiva. Ein aktueller
Cochrane Review identifizierte Duloxetin und Milnacipran
als die in der Indikation Schmerz am besten wirksamen Anti-
depressiva, kann aber aufgrund der Kürze der verfügbaren
Studien keine Aussagen zur längerfristigen Sicherheit ma-
chen (17).
s
Reno Barth
Quelle: EULAR 2023, Session «What is new in Chronic Pain in Rheumatology?» am 1. Juni in Mailand.
Referenzen: 1. St Sauver JL et al.: Why patients visit their doctors: assessing the most
prevalent conditions in a defined American population. Mayo Clin Proc. 2013 Jan;88(1):56-67. 2. Kelleher E et al.: Oral abstract presentation, British Pain Society Annual General Meeting 2023. 3. GBD 2017 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators. Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 354 diseases and injuries for 195 countries and territories, 1990-2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet. 2018;392(10159):1789-1858. 4. Klooster PM et al.: Changes in priorities for improvement in patients with rheumatoid arthritis during 1 year of anti-tumour necrosis factor treatment. Ann Rheum Dis. 2007;66(11):1485-90. 5. Glinatsi D et al.: Magnetic resonance imaging assessed inflammation in the wrist is associated with patient-reported physical impairment, global assessment of disease activity and pain in early rheumatoid arthritis: longitudinal results from two randomised controlled trials. Ann Rheum Dis. 2017;76(10):1707-1715. 6. Altawil R et al.: Remaining Pain in Early Rheumatoid Arthritis Patients Treated With Methotrexate. Arthritis Care Res (Hoboken). 2016;68(8):1061-8. 7. Andersson MLE et al.: Patients with Early Rheumatoid Arthritis in the 2000s Have Equal Disability and Pain Despite Less Disease Activity Compared with the 1990s: Data from the BARFOT Study over 8 Years. J Rheumatol. 2017;44(6):723-731. 8. Schaible HG. Nociceptive neurons detect cytokines in arthritis. Arthritis Res Ther. 2014;16(5):470 9. Schrepf A et al.: A multi-modal MRI study of the central response to inflammation in rheumatoid arthritis. Nat Commun. 2018;9(1):2243. 10. Kohoutová L et al.: Individual variability in brain representations of pain. Nat Neurosci. 2022 Jun;25(6):749-759. 11. Caxaria S et al.: Neutrophils infiltrate sensory ganglia and mediate chronic widespread pain in fibromyalgia. Proc Natl Acad Sci U S A. 2023;120(17):e2211631120. 12. Smith BH et al.: IASP Taskforce for the Classification of Chronic Pain. The IASP classification of chronic pain for ICD-11: applicability in primary care. Pain. 2019;160(1):83-87. 13. Soni A et al.: The natural history of chronic widespread pain in patients with axial spondyloarthritis: a cohort study with clinical and self-tracking data. Rheumatology (Oxford). 2022 Dec 5:keac679. 14. Aronsson M et al.: Comparison of chronic widespread pain prevalence with different criteria in two cohorts of rheumatoid arthritis. Clin Rheumatol. 2022;41(4):1023-1032. 15. Chronic pain (primary and secondary) in over 16s: assessment of all chronic pain and management of chronic primary pain. London: National Institute for Health and Care Excellence (NICE); 2021 Apr 7. PMID: 33939353. 16. Piette JD et al.: Patient-Centered Pain Care Using Artificial Intelligence and Mobile Health Tools: A Randomized Comparative Effectiveness Trial. JAMA Intern Med. 2022;182(9):975-983. 17. Birkinshaw H et al.: Antidepressants for pain management in adults with chronic pain: a network meta-analysis. Cochrane Database Syst Rev. 2023;5(5):CD014682.
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