Transkript
EASD
ADA/EASD-Konsensus-Papier
Gewicht und Komorbiditäten im Zentrum der Therapie
In den neuen Konsensus-Empfehlungen der American Diabetes Association (ADA) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) hat das Adipositasmanagement mehr Gewicht erhalten. Denn einerseits ist bekannt, dass Adipositas einer Diabetesentwicklung Vorschub leistet und andererseits dass die Diabeteserkrankung durch Gewichtsabnahme zur Remission gebracht werden kann. Wichtig ist ausserdem eine patientenzentrierte Therapie, die sich an den Komorbiditäten orientiert.
Schätzungen zufolge wird im Jahr 2030 in den USA die Hälfte der Bevölkerung adipös sein, und weltweit wird rund 1 Milliarde Menschen mit Adipositas leben. Aufgrund der gesundheitlichen Konsequenzen dieser Erkrankung rücke die Gewichtsreduktion bei den Massnahmen zum Management von Typ-2-Diabetes in den Vordergrund, berichtete Prof. Geltrude Mingrone, Catholic University in Rom (I), bei der Präsentation des neuen ADA/EASD-Konsensus am Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in Stockholm. Zur Gewichtsabnahme eignen sich verschiedene Strategien: Diät, Medikamente oder Bariatrie. Dass mit einem rigorosen Gewichtsverlust eine Remission erreicht werden und aufrechterhalten werden kann, belegte beispielsweise die DiRECTStudie. Mit einer tief kalorischen Diät (ca. 850 kcal/Tag) zeigte sich, dass mit einem Gewichtsverlust von mindestens 10 kg die Remissionsrate auch 2 Jahre danach noch 64 Prozent beträgt (1). Eine weitere Möglichkeit zur Gewichtskontrolle sei die Anwendung des GLP-1-Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) Semaglutid, der neben der Blutzuckersenkung eine grosse Gewichtsreduktion bewirke (2), so Mingrone. Zusätzlich steht ein neues Antidiabetikum vor der Zulassung, das nicht nur den GLP-1-, sondern auch den GIP-Rezeptor stimuliert, was ebenfalls zu einer substanziellen Gewichtsreduktion führen kann (3). Auch mit einem bariatrischen Eingriff kann eine Gewichtsreduktion und in der Folge eine Diabetesremission herbeigeführt werden. Die von Mingrone untersuchten Methoden, Roux-en-Y-Magenbypass und die biliopankreatische Diversion, wiesen nach 10 Jahren immer noch eine Remissionsrate von 37 Prozent auf (4). Deshalb empfehlen die beiden Diabetesgesellschaften in ihrem Konsensus-Papier zum Typ-2-Diabetes, neben Lebensstilmassnahmen, Bewegungsförderung ebenso antidiabetische Therapien zu wählen, die zusätzlich das Gewicht reduzieren (5).
Traditionelle Therapien
Zur medikamentösen Behandlung des Typ-2-Diabetes gibt es viele Optionen. Deren Anwendung soll gemäss Mitautorin Prof. Tsvetalina Tankova, Medical University Sofia, Bulgarien, nach folgenden Kriterien erfolgen:
Metformin ist seit jeher als First-Line-Therapie bei Typ-2Diabetes empfohlen. Grund dafür sind die Wirksamkeit bei der Senkung des HbA1c-Werts, des minimalen Risikos für Hypoglykämie bei Verwendung als Monotherapie, sein gutes Sicherheitsprofil, sein zwar bescheidenes gewichtssenkendes Potenzial und der günstige Preis. Bei einer gestörten Nierenfunktion mit einer geschätzten Filtrationsrate (eGFR) von < 30 ml/min/1,73 m2 ist Metformin jedoch kontraindiziert. Sulfonylharnstoffe der 2. Generation sind aufgrund ihrer guten blutzuckersenkenden Eigenschaft, ihrer Verfügbarkeit und des günstigen Preises immer noch weitverbreitet. Von dieser Klasse soll jedoch ein Präparat mit tiefem Hypoglykämierisiko gewählt werden. Negative kardiovaskuläre Eigenschaften wurden vermutet, aber nicht nachgewiesen, so die Expertin. Thiazolidindione (Glitazone) haben einen guten blutzuckersenkenden Effekt und im Fall von Pioglitazon zudem einen positiven Effekt auf die nicht alkoholische Steatohepatitis (NASH). Doch kann es unter dieser Therapie zu einer Gewichtszunahme und einer Flüssigkeitsretention kommen. Diese Nebenwirkungen können durch Kombination mit einem SGLT2-Hemmer oder einem GLP-1-RA, die zusätzlich das Gewicht reduzieren und diuretisch wirken (SGLT2-Hemmer), abgeschwächt werden. DPP-4-Hemmer haben einen mittleren blutzuckersenkenden Effekt, wirken bezüglich Gewicht neutral, sind gut verträglich und bergen ein minimales Risiko für Hypoglykämien. Eine frühzeitige Kombination mit Metformin verstärkt den blutzuckersenkenden Effekt weiter. DPP-4-Hemmer sind kardiovaskulär sicher. Bei einer vorhandenen Nierenerkrankung ist bei Sitagliptin, Saxagliptin und Alogliptin eine Dosisanpassung erforderlich, im Fall von Linagliptin braucht es diese nicht. Insulin senkt den Blutzucker dosisabhängig und unabhängig vom Blutzuckerspiegel. Das erhöht das Risiko für Hypoglykämien. Insulin wirkt kardiorenal neutral, erhöht jedoch das Risiko für Gewichtszunahme. Wirksamkeit und Sicherheit sind abhängig von der Verabreichung beziehungsweise vom Wissensniveau des Patienten. Je nach physiologischem Bedarf braucht es unterschiedliche Insulinformen. Durch Kombination mit anderen Antidiabetika kann je nach Substanz 20 CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | Dezember 2022 EASD Insulin eingespart werden und können unerwünschte Wir- GLP-1-RA, Metformin, SGLT2-Hemmer, Sulfonylharn- kungen wie die Gewichtszunahme reduziert werden. stoffe, Glitazone, eine mittelstarke haben DPP-4-Hemmer. Moderne Therapien SGLT2-Hemmer wirken über die Reduktion der tubulären Glukoserückresorption mittelstark bis stark blutzuckersenkend. Dieser Effekt schwächt sich mit abnehmender Nierenfunktion (eGFR) jedoch ab. Das Risiko dieser Substanzklasse für eine Hypoglykämie ist tief, der gewichtsreduzierende Effekt mittelstark. SGLT2-Hemmer haben in Studien kardiorenal positive Eigenschaften bewiesen. Sie reduzieren das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen, das Risiko für herzinsuffizienzbedingte Hospitalisationen, das Risiko für nierenbedingte Ereignisse und je nach Substanz das Auftreten von kardiovaskulärem Tod. Zu den verfügbaren SGLT2-Hemmern zählen Empagliflozin, Dapagliflozin, Canagliflozin und Ertugliflozin. Das Sicherheitsprofil scheine bis dato gut zu sein, erklärte Konsensus-Mitautorin Prof. Vanita Aroda, Brigham and Women’s Hospital Boston (USA). GLP-1-RA erhöhen die glukoseabhängige Insulinsekretion und die Glukagonsuppression. Zusätzlich verlangsamen sie die Magenentleerung, reduzieren den Appetit, die Kalorienaufnahme und das Körpergewicht. Ihre blutzuckersenkende Wirkung ist stark bis sehr stark, der gewichtssenkende Effekt mittelstark bis stark. GLP-1-RA sind kardioprotektiv mit Evidenz hinsichtlich der Reduktion von schweren kardiovaskulären Ereignissen, von kardiovaskulärem Tod, von tödlichem oder nicht tödlichem Herzinfarkt, tödlichem oder nicht tödlichem Hirnschlag, von Gesamtmortalität sowie von makroalbuminuriegetriebenen nierenbedingten Ereignissen. Zu den verfügbaren GLP-1-RA gehören Semaglutid, Dulaglutid und Liraglutid. Das Sicherheitsprofil scheine bis dato ebenfalls gut zu sein, so Aroda. Seit kurzer Zeit steht von Semaglutid zusätzlich zu den sonst subkutan zu applizierenden GLP-1-RA eine orale Form zur Verfügung. GLP-1-RA/GIP wirkt zusätzlich glukoseabhängig auf das insulinotrope Polypetid. Damit wird die Insulinsekretion weiter verstärkt, die Glukagonsuppression ebenfalls. Diese Substanzklasse ist neu, sein 1. Vertreter Tirzepatid aber noch nicht in der Schweiz verfügbar. Die Kombination verspricht bei sehr starker glukoseabhängiger, blutzuckersenkender Wirkung ebenfalls einen starken gewichtsreduzierenden Effekt. Das Risiko für eine Hypoglykämie ist gering, der kardiorenale Effekt in noch laufenden Studien noch nicht nachgewiesen. Therapieempfehlung kurz und knapp Das führt zu folgender Empfehlung: Zum Erreichen und Aufrechterhalten der Glykämie- und Gewichtsziele sollen individuell abgestimmte Lebensstilmassnahmen etabliert und Antidiabetika mit gewichtsreduzierendem Effekt eingesetzt werden. Dabei gelten Semaglutid und Tirzepatid als sehr stark gewichtssenkend, Dulaglutid und Liraglutid als stark gewichtssenkend, SGLT2-Hemmer als mittelstark gewichtssenkend und DDP-4-Hemmer sowie Metformin als neutral in Bezug auf das Gewicht. Der blutzuckersenkende Effekt von Dulaglutid, Semaglutid, Tirzepatid und Insulin gilt als sehr stark. Insulin kann mit oralen oder injizierbaren GLP-1-RA kombiniert werden. Eine starke antiglykämische Wirkung haben die übrigen Patientenzentrierte Therapie etablieren In der Behandlung des Patienten mit Typ-2-Diabetes sei es wichtig, dass diese auf die individuellen klinischen Charakte- ristika und auf das Vorhandensein allfälliger Komorbiditäten abgestimmt sei, betonte Konsensus-Mitautor Prof. Apos- tolos Tsapas, Aristoteles University of Thessaloniki (GR). Dabei solle das kardiorenale Risiko des Patienten speziell berücksichtigt werden. Bei vorhandener atherosklerotisch bedingter kardiovaskulä- ren Erkrankung (ASCVD) oder hohem kardiovaskulären Risiko sollen GLP-1-RA oder SGLT2-Hemmer mit nachge- wiesenem Nutzen eingesetzt werden. Bei Patienten mit Herz- insuffizienz sind SGLT2-Hemmer empfohlen und bei Patien- ten mit chronischer Nierenerkrankung SGLT2-Hemmer oder GLP-1-RA. Bleiben die HbA1c-Werte unter diese Therapien zu hoch, kann mit weiteren Antidiabetika kombiniert werden. Bei Patienten mit vorhandener chronischer Niereninsuffizi- enz sollen SGLT2-Hemmer eingesetzt werden, um die weitere Progression zu bremsen. Diese können bis zu einer eGFR von ≥ 20 ml/min/1,73 m2 eingesetzt werden. Ist die Therapie einmal etabliert, soll sie bis zu Dialyse oder bis zur Transplantation bestehen bleiben. Wenn SGLT2-Hemmer nicht toleriert werden, können GLP-1-RA zum Einsatz kom- men. Bei alten Patienten ist mit Frailty, schlechterem Verlauf und einem geringeren Nutzen einer intensiven glykämischen Kontrolle zu rechnen. Weil über 65-jährige Patienten in kli- nischen Studien nur mangelhaft repräsentiert sind, kann für die Therapieentscheidung nicht auf die vorhandene Evidenz zurückgegriffen werden. Die dazu vorhandenen Daten von Studien mit GLP-1-RA und SGLT2-Hemmern zeigen aber, dass diese Altersgruppe bei kardiorenalen Endpunkten ebenso von diesen Therapien profitiert (6). Deshalb sollten zur Kardio- und Renoprotektion für Patienten über 65 Jahre dieselben Medikamente eingesetzt werden wie bei jüngeren, empfahl Konsensus-Mitautorin Prof. Jennifer Green, Duke University School of Medicine, Durham (USA). Bei jungen Patienten sollte frühzeitig eine Kombinationsthe- rapie etabliert werden, um das Zeitfenster bis zum Therapie- versagen maximal zu verlängern. Patienten mit gewichtsabhängigen Komorbiditäten wie obs- truktiver Schlafapnoe, Herzinsuffizienz oder nicht alkoholi- scher Fettleber sollten spezifisch bei der Gewichtsabnahme unterstützt werden. Aber am wichtigsten sei es, die jeweils wirksamsten Thera- pien zu wählen und proaktiv zu agieren. Es gelte dabei, die klinische Trägheit zu überwinden, betonte Konsensus-Mit- autorin Prof. Chantal Mathieu, KU Leuven, Belgien, ab- schliessend. L Valérie Herzog Quelle: «Management of hyperglycemia in type-2-diabetes: ADA/EASD Consensus Report 2022». Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD), 19. bis 23. September 2022 in Stockholm. 22 CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | Dezember 2022 Referenzen: 1. Lean MEJ et al.: Durability of a primary care-led weight-manage- ment intervention for remission of type 2 diabetes: 2-year results of the DiRECT open-label, cluster-randomised trial. Lancet Diabetes Endocrinol. 2019;7(5):344-355. 2. Davies M et al.: Semaglutide 2,4 mg once a week in adults with overweight or obesity, and type 2 diabetes (STEP 2): a randomised, double-blind, double-dummy, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet. 2021;397(10278):971-984. 3. Frías JP et al.: Tirzepatide versus semaglutide once weekly in patients with type 2 diabetes. N Engl J Med. 2021;385(6):503-515. 4. Mingrone G et al.: Metabolic surgery versus conventional medical therapy in patients with type 2 diabetes: 10-year follow-up of an open-label, single-centre, randomised controlled trial. Lancet. 2021;397(10271):293-304. 5. Davies MJ et al.: Management of hyperglycemia in type 2 diabetes, 2022. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetes Care. 2022;dci220034. 6. Karagiannis T et al.: GLP-1 receptor agonists and SGLT2 inhibitors for older people with type 2 diabetes: A systematic review and meta-analysis. Diabetes Res Clin Pract. 2021;174:108737. EASD CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | Dezember 2022 23