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Glukokortikoide bei rheumatoiden Erkrankungen
Fluch und Segen eines «Wundermittels»
Bei rheumatoiden Erkrankungen werden Glukokortikoide immer noch häufig als Basistherapeutika eingesetzt. Vorteile: schnell einsetzende Wirkung, Reduktion von Schwellungen und Schmerzen, Verbesserung der Funktion sowie Hemmung der radiologischen Progression. Allerdings ist die Liste der damit verbundenen und zum Teil erheblichen Nebenwirkungen sehr lang. Deshalb gilt die Regel: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Am Kongress der SGR in Interlaken wurde diesem Thema eine eigene Session gewidmet.
Natürliches Cortisol ist ein lebenswichtiges Stresshormon aus der Gruppe der bereits im Jahr 1930 entdeckten Glukokortikoide (GC). Es aktiviere – mit sehr ausgeprägten tageszeitlichen Spiegelschwankungen – Stoffwechselvorgänge und stelle dem Körper energiereiche Verbindungen zur Verfügung, berichtete am Jahrestreffen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) in Interlaken Prof. Peter M. Villliger, Medizinisches Zentrum Monbijou in Bern (1).
Kalte Dusche für die Zellen
Cortisol wirkt auf Zellen, indem es dafür sorgt, dass zirkulierende T-Lymphozyten, Monozyten, Eosinophile sowie Basophile reduziert werden und die Konzentration von Neutrophilen erhöht wird. Auch die Expression proinflammatorischer Zytokine wie TNF, IL-1, IL-2 oder IL-6 wird vermindert. Ein sehr wichtiger Effekt von Cortisol respektive zugeführter Glukokortikoide ist der Einfluss auf Chemokine, die von autochtonem Gewebe sezerniert werden, die Migration von Zellen ins Gewebe reduzieren und Entzündungen regulieren (2). Cortisol hat gleichzeitig einen stark antiinflammatorischen Effekt auf die Gefässwände, deren Dicke sich unter dem Einfluss des Hormons kurzfristig deutlich vermindert (3). Diese rasche Reduktion sei wahrscheinlich mit nicht genomischen Membraneffekten zu erklären, sagte Villiger. Der nicht genomische Effekt einer Steroidbehandlung wirke «wie eine kalte Dusche auf die Immunzellen», ergänzte Prof. Dr. Frank Buttgereit von der Charité Berlin. So werde die Kationenzirkulation in den Membranen unterbrochen. Da Lymphozyten auf diese Kationen angewiesen sind, werden die Immunzellen sofort inaktiviert. Dadurch werden Ödeme kleiner und Entzündungszellen aus den Epithelien herausgetrieben. Dagegen geht die Regulierung der Zytokine auf genomische Effekte zurück. Einerseits werden dabei entzündliche Proteine herabreguliert (Transrepression), andererseits antiinflammatorische Proteine durch Expression aktiviert (Transaktivierung). Letzteres betrifft sehr viele Moleküle, die für die langfristigen Nebenwirkungen verantwortlich sind. «Wenn Sie ein Moleküldesigner wären, würden Sie versuchen, diese Transaktivierung zu verhindern», so Villiger. Die genomischen Effekte begännen schon bei niedrigen GC-
Dosierungen, bereits bei einer Gabe von 50 mg/Tag habe man einen beträchtlichen Teil dieser zellulären Effekte ausgelöst (4). Deshalb spreche man bereits bei 30 mg von einer «high dose», nicht erst ab 70 mg (siehe Tabelle mit Äquivalenzdosen).
Ziel: 5 mg/Tag oder darunter
Als im Jahr 1950 die ersten Nebenwirkungen publiziert wurden, standen psychische, gynäkologische, dermatologische und Gewichtsveränderungen im Vordergrund. Auffällig, so der Berner Rheumatologe, sei die frühe Erwähnung von psychischen Nebenwirkungen. Tatsächlich sehe er fast täglich Patienten mit einem «Steroidkick»: «Wenn die Patienten gelernt haben, dass 20 mg/Tag Prednison ein gutes Gefühl und viel Energie geben und sich nach dem Absetzen der Medikation Energielosigkeit breitmacht, ist das sehr frustrierend für die Betroffenen. Deshalb kommen viele von den Steroiden nur schwer wieder weg.» Bei langer Steroidgabe gehe es nicht mehr um ein mögliches Nebenwirkungsrisiko, man habe dann immer Nebenwirkungen (4). Um diese möglichst gering zu halten, sollte eine Abwägung der Risikofaktoren vorgenommen werden. Diese definieren letztlich die langfristig akzeptable respektive inakzeptable Dosierung. «Die kritische Schwelle liegt eigentlich bei 7,5 mg/Tag, und es sollte das Ziel sein, auf 5 mg/Tag oder gegebenenfalls darunter zu kommen.»
So viel wie nötig
Tatsächlich fallen die Meinungen zu den Glukokortikoiden sehr unterschiedlich aus und schwanken zwischen Begeisterung und kategorischer Ablehnung. «Ich glaube jedoch, dass diese Schwankungen mittlerweile geringer geworden sind und man sich auf das Motto ‹So viel wie nötig und so wenig wie möglich› geeinigt hat», erklärte Buttgereit. Glukokortikoide haben eine starke und rasch einsetzende Wirkung: Die Symptome werden geringer, Schmerzen und Schwellungen lassen nach, die Funktion wird verbessert und – ein wichtiger Punkt – Glukokortikoide hemmen die radiografische Progression (5). Zudem vermindern sie die negativen systemischen Effekte der Entzündung auf den Kohlenhydrat- und den Fettstoffwechsel, sie reduzieren die Entzündungen an
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Tabelle:
Vergleich systemischer Glukokortikoide
Teil 1: Parenterale Glukokortikoide
Wirkstoff
Präparate mit Darreichungsform(en) Antiinflammatorische Äquivalenzdosis1 Relative2 mineralokortikoide Potenz (1)
Hydrocortison
SOLU-CORTEF Act-O-Vials (2-Kammer-Ampullen)
100 mg
1
Methylprednisolon
Triamcinolonacetonid
SOLU-MEDROL (SAB)
KENACORT A
Stechampullen, Act-O-Vials Ampullen
(2-Kammer-Ampullen)
20 mg
5 mg
0,5 0
Betamethason
CELESTONE Chronodose, DIPROPHOS jeweils Ampullen
3 mg
0
Dexamethason FORTECORTIN Inject Ampullen
4 mg 0
Teil 2: Orale Glukokortikoide
Wirkstoff
Hydrocortison Prednison Methyl- Betamethason Dexamethason Triamcinolon Prednisolon Deflazacort
prednisolon
Präparate mit Darreichungsform(en) HYDRO-CORTISON PREDNISON MEDROL BETNESOL
(Galepharm) Galepharm/ Tablette Tablette
Tablette Streuli
Kapsel Tablette
FORTECORTIN Tablette DEXAMETHASON (Galepharm) Tablette, Kapsel
Antiinflammatorische Äquivalenzdosis1 80 mg
20 mg
16 mg
2,5 mg
3 mg
16 mg
20 mg
30 mg
Relative2 mineralokortikoide Potenz (1) 1
0,8 0,5 0
0
0 0,8 k. A.
1 gerundet für die Anpassung an die verfügbaren Stärken; 2 im Vergleich zu Hydrocortison (1) Micromedex – Comparative Tables: Corticosteroids. Onlinezugriff: 11/2020. Abrufbar unter: www.micromedexsolutions.com Quelle: adaptiert nach Universitätsspital Basel, Spital-Pharmazie
den Knochen, bessern die Stimmung und fördern die Verträglichkeit anderer DMARD. Die Kehrseite: Vor allem bei Langzeitanwendung machen sich die negativen Wirkungen bemerkbar. Dazu zählen Osteoporose, Katabolismus, Myopathie, Ödeme, Störungen des Lipid- und des Kohlenhydratstoffwechsels, erhöhtes Infektions- und Glaukomrisiko und vieles andere. «Deshalb müssen wir immer die Balance zwischen den Vorteilen und den negativen Folgen wahren», sagte Buttgereit. Zu berücksichtigen sei weiter, dass sich der Einsatz von Glukokortikoiden immer an der Stärke der Krankheitsaktivität orientiere. Mit anderen Worten: Eine hohe Krankheitsaktivität erfordert höhere und höchste Dosierungen, was wiederum zu mehr Nebenwirkungen und – vor allem in Beobachtungsstudien – eventuell zu einem Bias führt (6). Dass die GC-Dosierung letztlich auch entscheidend für eine erhöhte Mortalität sein kann, zeigt eine Auswertung des deutschen Registers RABBIT (7). In dieser wurde deutlich, dass Dosierungen von über 5 mg/Tag zu einem signifikanten Anstieg der Mortalität führen, und zwar unabhängig von der Krankheitsaktivität. «Deshalb sind 5 mg gerade noch akzeptabel. Darunter ist es noch besser, darüber wird es bei einer Dauerbehandlung schwierig.»
Wo liegen Nutzen und Risiko?
Wo liegen die Grenzen für den Nutzen und die Risiken einer GC-Behandlung? Vor allem bei älteren Patienten war das für eine längere GC-Therapie nicht klar. In der plazebokontrollierten, randomisierten GLORIA-Studie wollte man deshalb die Auswirkung einer Gabe von Prednison (5 mg/Tag) über
2 Jahre zusätzlich zur Standardbehandlung (DMARD) bei 441 Patienten ≥ 65 Jahre (Durchschnitt: 75 Jahre) mit aktiver rheumatoider Arthritis (RA) untersuchen und eine Nutzen-Risiko-Abwägung durchführen (8). «Insgesamt führte die Prednisonbehandlung zu mehr Nutzen als Schaden, die Glukokortikoide waren in dieser Dosierung Plazebo eindeutig überlegen», so das Fazit des Spezialisten. Tatsächlich ging unter dem Verum die Krankheitsaktivität in den ersten 3 Monaten rasch zurück und stabilisierte sich nach 1 Jahr. Die mittlere Differenz des DAS28 zwischen GC- und Plazebogruppe betrug nach 2 Jahren 0,37 (p < 0,0001). «Nach 3 Monaten betrug sie sogar 0,62 – das ist ein Riesenunterschied.» Dass die Differenz innerhalb des ersten Jahres abnehme, sei wahrscheinlich auf die Adjustierung der DMARDBehandlung zugunsten der Plazebogruppe zurückzuführen. Das Voranschreiten der Gelenkschäden über 2 Jahre fiel in der Verumgruppe um 1,7 Punkte geringer aus (p = 0,003). «Das heisst, 5 mg wirken ohne Zweifel», sagte Buttgereit. Und das Risiko? Tatsächlich wies die Prednisongruppe mit 60 Prozent mehr Nebenwirkungen auf als die Plazebogruppe mit 49 Prozent (p = 0,02). Dabei zeigten sich die grössten Unterschiede beim Auftreten zumeist leichterer Infektionen. «Dieses Risiko ist zwar höher, aber es ist ein akzeptables Risiko im Vergleich zum Nutzen.»
Dosierungen von ≤ 5 mg/Tag sind kein Problem für die Knochen
Auch der bei langfristiger GC-Einnahme gefürchtete Knochenverlust wird derzeit untersucht. In der prospektiven Ko-
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hortenstudie Rh-GIOP mit mittlerweile rund 1700 Patienten mit entzündlichen rheumatoiden und muskuloskelettalen Erkrankungen geht man dieser Frage auf den Grund (9). Alle Teilnehmer wurden mit Prednison behandelt. Zudem wurden zwischen 2015 und 2020 viele knochenrelevante Informationen (hinsichtlich Medikamenten, kumulativer Steroiddosis, Serologie, Genetik, Begleiterkrankungen, Entzündung, Ernährung, Vitamin D, Sport, Rauchen u. a.) erhoben und verschiedene Messungen (Knochendichte u. a.) durchgeführt. Ergebnis einer Zwischenanalyse mit gut 1000 Patienten (9): Bei einer Dosierung mit einem Äquivalent von ≤ 5 mg/Tag Prednison waren die kumulative Steroiddosis und die Dauer der Therapie nicht mit einer negativen Auswirkung auf die Knochendichte assoziiert. Bei Patienten mit RA, die GC-Dosen von > 7,5 mg/Tag erhalten hatten, zeigte sich jedoch eine negative Assoziation mit der Knochendichte. Dieser Effekt schien aber spezifisch bei Patienten mit moderater oder hoher Krankheitsaktivität (DAS 28–C > 3,2) zu bestehen. «Diese niedrigen Steroiddosen scheinen einerseits dabei zu helfen, die Entzündung zu kontrollieren. Das ist gut für die Knochen. Andererseits haben solche Dosen per se wahrscheinlich keinen sehr negativen Effekt auf die Knochen.» Insgesamt sollte man aber nicht nur auf die Dosierung schauen, sondern auch auf die individuelle Situation und das Risikoprofil der Patienten.
Unterschiedliche Empfehlungen der Gesellschaften
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Daten? Die immer noch aktuelle EULAR-Empfehlung von 2020 (10) gibt folgenden Rat: «Eine kurzfristige GC-Gabe sollte bei Beginn oder bei Umstellung einer csDMARD-Therapie in verschiedenen Dosierungen und verschiedenen Darreichungsformen erwogen werden, aber so rasch wie möglich und klinisch vertretbar wieder ausgeschlichen werden.» In Deutschland sei der GC-Einsatz bei RA-Patienten von 60 Prozent im Jahr 1999 auf 43 Prozent im Jahr 2019 zurückgegangen, wobei sich hier sicher auch die Dosierungen
reduziert hätten, so Buttgereit. In den USA ist man hinsicht-
lich der Glukokortikoide extrem skeptisch. So empfiehlt das
American College of Rheumatology (ACR), Glukokortiko-
ide nicht einmal mehr als Brückentherapie einzusetzen (11).
Die EULAR hingegen schätzt die wissenschaftliche Begrün-
dung für diese ACR-Empfehlung als nicht ausreichend stich-
haltig ein und hält am verantwortungsvollen und ebenso
längerfristigen Einsatz von Glukokortikoiden fest.
s
Klaus Duffner
Quelle: «Kortison, mein Freund und Feind», wissenschaftliche Session am ge-
meinsamen Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie und
von Reha Schweiz, 9. September 2022, Interlaken.
Referenzen: 1. Schultes B et al.: Zirkadiane Rhythmen in der Endokrinologie.
Internist. 2004;45:983-993. 2. Villiger PM et al.: Production of monocyte chemoattractant pro-
tein-1 by inflamed synovial tissue and cultured synoviocytes. J Immunol. 1992;149(2):722-727. 3. Seitz L et al.: Quantitative ultrasound to monitor the vascular response to tocilizumab in giant cell arteritis. Rheumatology. 2021;60(11):5052-5059. 4. Matteson EL: Glucocorticoids for Management of Polymyalgia Rheumatica and Giant Cell Arteritis. Rheum Dis Clin North Am. 2016;42(1):75-90. 5. Kirwan JR et al.: Effects of glucocorticoids on radiological progression in rheumatoid arthritis. Cochrane Database Syst Rev. 2007;2007(1):CD006356. 6. Buttgereit F: Views on glucocorticoid therapy in rheumatology: the age of convergence. Nat Rev Rheumatol. 2020;16(4):239-246. 7. Listing J et al.: Mortality in rheumatoid arthritis: the impact of disease activity, treatment with glucocorticoids, TNFα inhibitors and rituximab. Ann Rheum Dis. 2015;74(2):415-21. 8. Boers M et al.: GLORIA Trial consortium. Low dose, add-on prednisolone in patients with rheumatoid arthritis aged 65+: the pragmatic randomised, double-blind placebo-controlled GLORIA trial. Ann Rheum Dis. 2022;81(7):925-936. 9. Wiebe E et al.: Optimising both disease control and glucocorticoid dosing is essential for bone protection in patients with rheumatic disease. Ann Rheum Dis. 2022;81:1313-1322. 10. https://www.eular.org/recommendations_management.cfm 11. https://www.rheumatology.org/Portals/0/Files/2021-ACRGuideline-for-Treatment-Rheumatoid-Arthritis-Early-View.pdf
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