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Fibromyalgie
Multimodale Schmerztherapie möglichst früh beginnen
Bei Patienten mit Fibromyalgie sollte möglichst früh nach der Diagnose eine multimodale Schmerztherapie gestartet werden. Dies kann im ambulanten Setting geschehen. Eine zentrale Komponente der Behandlung stellt das körperliche Training dar. In den meisten Fällen, vor allem bei gleichzeitigem Vorliegen von Schlafstörungen, Depression und Angststörungen, sind eine psychologische und eine Pharmakotherapie angezeigt.
«Einzelne Fälle einer Fibromyalgie wurden schon um 1900 beschrieben und damals als Fibrositis bezeichnet», erklärte Dr. med. Barbara Ankli, Schmerzklinik Basel. Ab dem Zweiten Weltkrieg gewann die Erkrankung an Bedeutung, wurde häufiger diagnostiziert und ab den 1960er-Jahren als generalisierte Tendomyopathie beschrieben. «Solch alte Bezeichnungen für die Fibromyalgie sollten heute nicht mehr verwendet werden», riet die Rednerin.
Diagnose beruht auf ACR-Kriterien
Das American College of Rheumatology (ACR) hat 1990 erstmals Klassifikationskriterien für die Fibromyalgie herausgegeben (1). Die neueste Version wurde 2016 publiziert (Tabelle) (2). Ankli erklärte, dass diese Kriterien eine Spezifität und Sensitivität von etwa 80 Prozent aufwiesen. Gemäss den neuen Kriterien müssen nun, im Gegensatz zu älteren Versionen, für die Diagnose einer Fibromyalgie Schmerzen in 4 von 5 Regionen bestehen. «Patienten mit Schmerzsyndromen in einer Region, also zum Beispiel mit einem Schulter-Arm-Syndrom, werden dadurch korrekterweise ausgeschlossen. Damit reduziert sich die Zahl der Fehldiagnosen», so die Referentin. Die Diagnose Fibromyalgie kann auch unabhängig von anderen Diagnosen gestellt werden, das heisst, ein Patient kann gleichzeitig an einer rheumatoiden Arthritis (RA) und einer Fibromyalgie leiden. Seit 2015 liegt zudem eine deutsche Version des Fibromyalgia Survey Questionnaire (FSQ) vor, eines Fragebogens zur Diagnose einer Fibromyalgie, der zusammen mit dem Patienten ausgefüllt werden kann (3). Zu den möglichen Differenzialdiagnosen einer Fibromyalgie gehören andere rheumatologische Erkrankungen mit multiplen Gelenk- und Sehnen-/Muskellokalisationen wie zum Beispiel RA, periphere Spondyloarthritis, Kollagenosen, Polyarthrosen und Myositis. «Im Gegensatz zur RA sind bei der Fibromyalgie aber zum Beispiel die Füsse und die Hände nicht in die Diagnosestellung involviert», betonte die Rheumatologin. «Im ICD-11-Klassifikationssystem, das in der Schweiz noch nicht eingeführt ist, wird die Fibromyalgie im Übrigen neu bei den primären Schmerzen eingereiht und nicht mehr bei den sekundären, wie zum Beispiel die RA», erklärte Ankli weiter. Dies spiele vor allem bei versicherungsrechtlichen Fragen, Kostengutsprachen und Gutachten eine
Rolle. «Die Patienten sind dadurch womöglich schlechter gestellt als bisher», fand sie.
Epidemiologische Daten
Eine 2010 publizierte Arbeit untersuchte die Prävalenz der Fibromyalgie in 5 europäischen Ländern (4). Unter 1125 ambulanten Patienten an 8 rheumatologischen Kliniken erfüllten 14 Prozent die Klassifikationskriterien für eine Fibromyalgie. In einer gematchten Stichprobe der Allgemeinbevölkerung (n = 4517) betrug die Prävalenz 2,9 Prozent. «Die Prävalenz der Fibromyalgie ist aber weltweit sehr unterschiedlich. Länder wie beispielsweise Brasilien oder Iran weisen höhere Prävalenzen auf. Die Gründe dafür sind nicht klar», ergänzte Ankli. Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Fibromyalgie wurden in der Arbeit einzig das weibliche Geschlecht und das Alter (ab 35 bis 75 Jahre) identifiziert (4). Wahrgenommen werde, dass von einer Fibromyalgie vor allem Frauen betroffen seien. «Das stimmt jedoch nur zum Teil», so die Rednerin. «Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Erkrankung bei Männern unterdiagnostiziert ist.»
Multimodale Schmerztherapie sinnvoll
Die European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR) betont in ihren Empfehlungen zum Management der Fibromyalgie den komplexen und heterogenen Charakter dieser Erkrankung (5). «Sie empfiehlt, eine Stufentherapie einzusetzen, allerdings mit einem tiefen Evidenzlevel. Möglicherweise sollten wir heute eher eine multimodale Therapie einsetzen. Diese kann nicht nur stationär oder teilstationär durchgeführt werden, sondern auch ambulant», so Ankli. Eine multimodale Schmerztherapie basiert auf dem biopsychosozialen Modell und setzt auf eine Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie, medikamentöser Behandlung, Physiotherapie und Edukation. Gruppentherapien sind dabei sehr wichtig, um die soziale Isolation, die sich bei der Fibromyalgie oft zeigt, zu durchbrechen. «Die multimodale Therapie fokussiert nicht auf den Schmerz, sondern auf eine Verbesserung der Alltagsfunktionen und des Wohlbefindens», betonte die Rednerin. Ein systematischer Review mit Metaanalyse ergab, dass eine multimodale Therapie bei Patienten mit chronischen, primären muskuloskelettalen
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Tabelle:
Fibromyalgie-Diagnosekriterien des American College of Rheumatology (ACR), 2016 (2)
1. Wide Spread Pain Index (WPI) und Symptom Severity Score (SSS) WPI > 7 und SSS > 5 oder WPI 4–6 und SSS > 9
2. Generalisierte Schmerzen in 4 von 5 Regionen
3. Symptome seit > 3 Monaten vorhanden
Die Diagnose Fibromyalgie kann unabhängig von anderen Diagnosen gestellt werden.
Schmerzen, die seit mindestens 3 Monaten bestanden, zu einer bedeutenden Verbesserung des physischen und emotionalen Wohlbefindens führte (6). Der Effekt blieb über längere Zeit erhalten.
Massnahmen früh kombinieren
Als nicht pharmakologische Massnahmen zur Behandlung der Fibromyalgie empfiehlt die EULAR aerobes Training und Muskelaufbau, kognitive Verhaltenstherapie und Massnahmen wie Akupunktur, Wassertherapie, Tai-Chi, Qigong, Yoga sowie achtsamkeitsbasierte Stressreduktionstechniken (5). «Körperliches Training ist bei Fibromyalgie das A und O», betonte die Referentin. Neuere Daten würden darauf hinweisen, dass mit Tai-Chi gar bessere Effekte erreicht werden könnten als mit aerobem Training (7). Ankli empfahl, im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie möglichst rasch nach der Diagnose neben dem körperlichen Training eine psychologische Betreuung sowie eine Pharmakotherapie einzuleiten. «Manche Patienten stehen einer pharmakologischen Behandlung allerdings ablehnend gegenüber. Dann kann man versuchen, die Symptome mit den nicht pharmakologischen Massnahmen unter Kontrolle zu bringen. Meiner Erfahrung nach geht es aber fast nie ohne Medikamente, vor allem dann nicht, wenn die Symptome schwer sind, die Lebensqualität stark eingeschränkt ist und Schlafstörungen vorliegen», ergänzte die Rednerin. Als medikamentöse Optionen werden von der EULAR vor allem Amitriptylin (tief dosiert), Duloxetin, Pregabalin (alle Ia-Empfehlung) und Tramadol (Ib) empfohlen. «Amitripty-
lin ist immer noch der Grundpfeiler der Fibromyalgiebe-
handlung. Dabei beginnt man zum Beispiel mit 10 mg zur
Nacht, die Dosis kann stufenweise bis auf 50 mg erhöht
werden. Bei Patienten, die zusätzlich unter einer Depression
oder einer Angststörung leiden, können alternativ Duloxetin,
Fluoxetin oder Paroxetin eingesetzt werden», erläuterte
Ankli. «Die Empfehlungen müssen natürlich auf den jeweili-
gen Patienten abgestimmt und die Interaktionen beziehungs-
weise Kontraindikationen beachtet werden.»
Der Verlauf einer Therapie sollte mithilfe des Revised Fibro-
myalgia Impact Questionnaire (FIQR) überwacht werden
(8). «Was allerdings als Remission anzusehen ist, wurde bis-
her leider nicht ausreichend definiert», räumte die Referentin
ein. Fibromyalgiepatienten sind in Bezug auf Suizidgedanken
und -versuche besonders gefährdet (9). «Deshalb ist es von
besonderer Bedeutung, die Erkrankung gut zu behandeln»,
schloss Ankli.
s
Therese Schwender
Quelle: Rheuma Top, Pfäffikon, 22. August 2022.
Referenzen: 1. Wolfe F et al.: The American College of Rheumatology 1990 Cri-
teria for the Classification of Fibromyalgia. Report of the Multicenter Criteria Committee. Arthritis Rheum. 1990;33:160-172. 2. Wolfe F et al.: 2016 revisions to the 2010/2011 fibromyalgia diagnostic criteria. Semin Arthritis Rheum. 2016;46:319-329. 3. Häuser W.: Fibromyalgia Survey Questionnaire – deutsche Fassung, 2015. In: Leibniz-Institut für Psychologie (ZPID) (Hrsg.) Open Test Archive. Trier: ZPID; https://doi.org/10.23668/ psycharchives.4500. 4. Branco JC et al.: Prevalence of fibromyalgia: a survey in five European countries. Semin Arthritis Rheum. 2010;39(6):448-453. 5. Macfarlane GJ et al.: EULAR revised recommendations for the management of fibromyalgia. Ann Rheum Dis. 2017;76:318-328. 6. Elbers S et al.: Longitudinal outcome evaluations of Interdisciplinary Multimodal Pain Treatment programs for patients with chronic primary musculoskeletal pain: a systematic review and meta-analysis. Eur J Pain. 2022;26:310-335. 7. Wang C et al.: Effect of tai chi versus aerobic exercise for fibromyalgia: comparative effectiveness randomized controlled trial. BMJ. 2018;360:k851. 8. Bennett RM et al.: The Revised Fibromyalgia Impact Questionnaire (FIQR): validation and psychometric properties. Arthritis Res Ther. 2009;11:R120. 9. Adawi M et al.: Suicidal behaviour in fibromyalgia patients: rates and determinants of suicide ideation, risk, suicide, and suicidal attempts – a systematic review of the literature and meta-analysis of over 390 000 fibromyalgia patients. Front Psychiatry. 2021;12:629417.
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