Transkript
KHM
Abklärung und Therapie von Kopfschmerzen
Woher kommt bloss dieser Kopfschmerz?
Foto: zVg
Wenn ein Patient über Kopfschmerzen klagt, ist die Anamnese das wichtigste Diagnoseinstrument. Mit gezielten Fragen und unter Zuhilfenahme der Internationalen Klassifikation der Kopfschmerzen (ICHD-3) lässt sich herausfinden, um welche Art Kopfschmerz es sich handelt beziehungsweise ob diese maligne oder eher harmlos sind. Das sei die Grundlage für eine gezielte Therapie, wie Dr. Stefan Wolff, Neurologie am Kreuzplatz, Zürich, am Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) in Luzern erläuterte.
Stefan Wolff
Sind die Kopfschmerzen maligner Natur oder eher harmlos? Die ICHD-3 teilt die Kopfschmerzen grob in 3 Klassen ein (Link): 1. primäre Kopfschmerzen, 2. sekundäre Kopfschmerzen, 3. Neuropathien und Gesichtsschmerzen (1). Die primären Kopfschmerzen sind wiederum in 4 Kategorien aufgeteilt: Migräne, Spannungskopfschmerzen, trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen mit Augenrötung, Nasenlaufen usw., wie beispielsweise Clusterkopfschmerzen, und andere primäre Kopfschmerzen. Primäre Kopfschmerzen seien eigenständige Erkrankungen mit unauffälliger Zusatzdiagnostik und möglicher positiver Familienanamnese, fügte Wolff an. Bei neuem Auftreten muss eine sekundäre Ursache ausgeschlossen werden. Dazu
Kasten:
10 Fragen für die Anamnese von Kopfschmerzen
1. Schmerzlokalisierung (vom Patienten zeigen lassen) 2. Qualität und Stärke des Schmerzes (drückend, stechend, pulsie-
rend, langsam zunehmend) 3. Häufigkeit und Dauer pro Monat oder pro Woche (chronisch
[≥ 15 Tage/Monat] vs. episodisch) 4. Begleitsymptome (Sehstörungen, Foto- und Phonophobie) 5. Beginn des Kopfschmerzleidens 6. Veränderung des Kopfschmerzes im Verlauf 7. Medikation gegen die Kopfschmerzen (Medikament, Dosis, wie
viele Tage/Monat) (MÜKS: > 10 Tage/Monat) 8. Welche Therapien wurden bisher durchgeführt? 9. Schlafqualität (Ein- und Durchschlafen) 10. Leistungsfähigkeit und Lebensqualität privat und beruflich
Abkürzung: MÜKS: Medikamentenübergebrauchskopfschmerz Quelle: S. Wolff, KHM 2022
gehören Verletzungen/Trauma, Gefässstörungen, Substanzen, Infektion, Homöostasestörung, Erkrankungen des Schädels oder von Kopforganen sowie psychiatrische Erkrankungen. Bei einem Kopfschmerzpatienten ist die Anamnese entscheidend für die Unterscheidung der Kopfschmerzart. Anhand eines Fragebogens (Kasten) kann die Symptomatik charakterisiert und eingegrenzt werden. Wichtig sei, sich vom Patienten zeigen zu lassen, wo es wehtue, so der Rat des Neurologen.
Typisch für Migräne
Eine Migräneattacke kann zwischen 4 und 72 Stunden dauern und mehrmals pro Monat auftreten. Sie beginnt häufig im Alter von 15 bis 25 Jahren und tritt mehrheitlich bei Frauen auf. Als Trigger gelten Wetteränderungen, Genussmittel (z. B. Alkohol), Stress, körperliche Aktivität und bei Frauen die Menstruation und die orale Kontrazeptiva. Der Kopfschmerzcharakter wird als hämmernd beziehungsweise pulsierend beschrieben, meist unilateral und nicht immer auf der gleichen Seite. Die Migräneattacke kann von Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Phono- und Fotophobie sowie von Auraphänomenen begleitet sein. Eine Untersuchung in Deutschland fand bei Patienten mit Migräne zudem, dass mit Migräne signifikant häufiger Komorbiditäten wie Rückenschmerzen (30%), Nackenschmerzen (ca. 30%), depressive Symptome (ca. 25%) und Angsstörungen einhergehen als bei Personen ohne Kopfschmerzen (ca. 13%) (2). Differenzialdiagnostisch sollten Spannungs- und Clusterkopfschmerzen voneinander abgegrenzt werden. Manchmal treten sie aber auch zusammen auf. Des Weiteren sollte beispielsweise an eine Subarachnoidalblutung, die sich durch ihren perakuten Beginn, sehr starke Schmerzen, Meningismus und Bewusstseinstrübung auszeichnet, gedacht werden. Intrazerebrale Blutungen lösen dagegen eher diffuse Kopfschmerzen und fokale Symptome aus. Eine Karotisdissektion induziert progredient fluktuierende Symptome und Schmerzen an der Halsseite. An einen Glaukomanfall bei prall gefülltem Bulbus, Tränen und Visusminderung sollte ebenfalls gedacht werden, so Wolff.
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KHM
Tabelle:
Alarmzeichen bei Kopfschmerzen: SNOOP10-Liste
Zeichen oder Symptom systemische Symptome inkl. Fieber Neoplasie in der Anamnese neurologisches Defizit oder Störung inkl. Bewusstseinsstörung plötzlicher Beginn von Kopfschmerzen Alter ab 50 Jahre Veränderung des Kopfschmerzmusters oder kürzlicher Beginn lagebedingter Kopfschmerz Kopfschmerz beim Schnäuzen, Husten oder bei Anstrengung Papillenödem progressive Kopfschmerzen und atypische Präsentation Schwangerschaft oder Puerperium schmerzhafte Augen mit autonomer Beteiligung Kopfschmerzbeginn nach Trauma Pathologie des Immunsystems wie HIV Kopfschmerzen bei Schmerzmittel- übergebrauch oder nach neuem Arzneimittel
Mögliche Ursache Infekte oder nicht vaskuläre intrakraniale Störungen, Tumor oder Phäochromozytom Hirntumoren, Metastasen vaskuläre oder nicht vaskuläre intrakraniale Störungen, Hirnabszess und andere Infekte Subarachnoidalhämorrhagie oder andere kraniale oder zervikale vaskuläre Störungen Riesenzellarteriitis und andere kraniale oder zervikale vaskuläre Störungen, Neoplasien und andere nicht vaskuläre intrakraniale Störungen Neoplasien, vaskuläre oder nicht vaskuläre intrakraniale Störungen
Intrakraniale Hyper- oder Hypotonie posteriore Fossa-Malformation, Chiari-Malformation
Neoplasie und andere nicht vaskuläre intrakraniale Störungen, intrakraniale Hypertonie Neoplasie und andere nicht vaskuläre intrakraniale Störungen
kraniale oder zervikale vaskuläre Störungen, postpunktionale Kopfschmerzen, hypertoniebedingte Störung (z. B. Präeklampsie), zerebrale Sinusthrombose, Hypothyreose, Anämie, Diabetes Pathologie in der Fossa posterior, in der Hypophysenregion oder im Sinus cavernosus, Tolosa-Hunt-Syndrom, ophtalmologische Ursachen akute und chronische posttraumatische Kopfschmerzen, Subduralhämatom und andere vaskuläre Störungen opportunistische Infekte Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜKS), Arzneimittelunverträglichkeit
Quelle: mod. nach (2)
Typisch bei Spannungskopfschmerzen
Spannungskopfschmerzen sind die häufigsten Kopfschmerzen. Sie können zwischen 30 Minuten und 7 Tagen dauern und treten selten bis täglich auf. Frauen leiden etwas häufiger darunter. Der Schmerzcharakter wird als dumpf, drückend und schraubstockartig beschrieben. Im Gegensatz zur Migräne kommt es begleitend nicht zu Erbrechen. Muskelverspannungen sowie Phono- und Fotophobie können auftreten. Die Auslöser sind vielfältig, Depression, Angststörungen und Stress können dazu beitragen. Zur Differenzialdiagnose gehören Migräne, die häufig in Kombination auftritt, MÜKS (Medikamentenübergebrauchskopfschmerz) sowie einige Umstände, die ebenfalls zu Kopfschmerz führen können. Dazu zählten Hypertonie, eine posttraumatische und postinfektiöse Phase, chronisches Subduralhämatom, Schlafstörungen, idiopathische intrakranielle Hypertonie, Liquorunterdruck sowie kraniomandibuläre Dysfunktionen (z. B. Verspannungen am Kiefergelenk), so Wolff. Bei Patienten mit Spannungskopfschmerzen kommen Komorbiditäten wie Rücken- und Nackenschmerzen signifikant häufiger vor (ca. 24 bzw. ca. 20%) als bei Personen ohne Kopfschmerzen (ca. 13%) (2).
Typisch für Clusterkopfschmerzen
Clusterkopfschmerzattacken dauern zwischen 30 und 180 Minuten und treten in der Regel 1- bis 3-mal in 24 Stunden auf. Sie stellen sich eher bei Männern und häufig nachts ein, die Patienten sind rastlos und laufen herum. Die Schmerzen sind stechend, brennend und werden häufig von Schwitzen, Augentränen, Gesichtsrötung und Nasenlaufen begleitet, auch Muskelverspannungen und Phono- und Fotophobie können hinzukommen. Als Trigger gelten Alkohol, Schlafmangel, Nitrate sowie Lichtreize. Clusterkopfschmerzen sollten differenzialdiagnostisch von einer Migräne und von Spannungskopfschmerzen abgegrenzt werden wie auch von anderen trigemino-autonomen Kopfschmerzerkrankungen. Eine frühere Herpes-zoster-Erkrankung kann ebenfalls zu Allodynie und Brennschmerz führen, eine Trigeminusneuralgie und ein Glaukomanfall sollten ausgeschlossen werden.
Was ist häufig in der Praxis?
MÜKS ist laut Wolff eine häufige Ursache für Kopfschmerzen. Dieser kann entstehen, wenn die Patienten über längere Zeit an mehr als 10 Tagen/Monat konventionelle Analgetika
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oder Triptane verwenden. Dieser Übergebrauch kann eigenständig spannungs- oder migräneartige Kopfschmerzen auslösen. Ebenfalls häufig ist die vestibuläre Migräne, früher als migräniformer Schwindel bezeichnet. Das betrifft Patienten, die an Migräne leiden und Schwindelsymptome haben. In der ICHD-3 sind sie unter A.1.6.6 aufgeführt. Mit der Migränetherapie verschwinde häufig auch der Schwindel, so Wolff. Häufig seien eine typische Aura ohne Kopfschmerzen. Dabei handelt es sich um visuelle Phänomene, wie beispielsweise Augenflimmern, die aber von einer transienten ischämischen Attacke unbedingt abzugrenzen sind. Die retinale Migräne zeichnet sich durch persistierende visuelle Symptome während einer Kopfschmerzattacke aus, nicht nur in der Auraphase, sondern auch noch danach. Zu weiteren häufigen Problemen gehört der schlafgebundene Kopfschmerz, der meist Personen über 50 Jahre betrifft. Die Attacken sind von leichter bis mittelstarker Intensität und halten 15 bis 240 Minuten an. Sie können mit Koffein (Espresso) aufgelöst werden. Eine Tasse Kaffee am Abend könne als Prophylaxe helfen, so Wolff. Häufig werden von den Patienten die Kopfschmerzen als kurze sekundenschnelle Stiche beschrieben. In diesem Fall kann die Diagnose primär stechender Kopfschmerz gestellt werden.
Wann ist eine Zusatzdiagnostik nötig?
Bei primären Kopfschmerzen mit typischer Anamnese sei oft keine weitere Diagnostik notwendig, so Wolff. Fällt jedoch eine Veränderung oder eine Häufung des Kopfschmerzes auf, zeigen sich neurologische Auffälligkeiten oder sind die Kopfschmerzen atypisch, sollte eine sekundäre Ursache in Betracht gezogen werden, die möglicherweise mit einer Bildgebung entdeckt werden kann. In der SNNOOP10-Liste (3) sind Red Flags zusammengestellt (Tabelle), die auf sekundäre Ursachen hinweisen können. Zeigt der Patient einen normalen Neurostatus, besteht jedoch nur selten eine signifikante Pathologie, die mit der Bildgebung detektierbar wäre. Äussern Patienten mit Kopfschmerzen Tumorangst, kann eine Bildgebung Gewissheit verschaffen. Allerdings sollte mit dem Patienten vorher geklärt werden, ob über harmlose Zufallsbefunde, die dabei entdeckt werden könnten, informiert werden solle, so der Rat des Neurologen. Die Prävalenz von Hirntumoren bei Kopfschmerzen als alleiniges Symptom sei allerdings sehr gering, so Wolff. Wird eine Bildgebung durchgeführt, ist eine Magnetresonaztomografie wegen der grösseren Aussagekraft und der fehlenden Stahlenbelastung zu bevorzugen. Allerdings sind die Wartezeiten dafür etwas länger als bei der Computertomografie, und es besteht die Gefahr für eine Überinterpretation.
Internationale Klassifikation der Kopfschmerzen (ICHD-3)
https://www.rosenfluh.ch/qr/ichd-3
Welche Therapiemöglichkeiten zur Verfügung
stehen
Als Behandlungsmöglichkeiten sind nicht medikamentöse
Massnahmen wichtig. Dazu gehören Reizabschirmung, Ent-
spannung, Schlaf- beziehungsweise Schlafhygiene sowie ggf.
lokale Kühlung. «Lassen Sie die Patienten ein Kopfschmerz-
tagebuch führen, das ist wichtig für eine evtl. spätere phar-
makologische Therapie», so der Rat des Experten. Ausser-
dem kann Stressreduktion zur Linderung beitragen, je nach
Kopfschmerzart auch Bewegung.
Bei der Migräne besteht die Akuttherapie gemäss den Empfeh-
lungen der Schweizer Kopfwehgesellschaft (4) aus dem Einsatz
von nicht steroidalen Antiphlogistika (NSAR) und von Tripta-
nen. Es besteht jedoch ein gewisses Risiko für MÜKS. Eine
Lebensstiländerung mit beispielsweise Ausdauersport und
Stressreduktion kann prophylaktisch wirken.
Bei Häufung von Migräneattacken (z. B. > 5 Migränetage/
Monat) können zur Anfallsprophylaxe Antidepressiva, Anti-
konvulsiva, Betablocker und Kalziumantagonisten versucht
werden. Kann die Migräne damit nicht ausreichend gelindert
werden, kommen CGRP-Antikörper zum Einsatz. Sie müs-
sen von einem Neurologen verordnet werden, und die Thera-
pie muss strengen Kriterien entsprechen, damit sie von den
Krankenkassen vergütet wird. Wichtig ist es jedenfalls, bei
jeder Migränetherapie die Erwartungen anzusprechen und
falsche Vorstellungen im Vorfeld zu korrigieren.
Bei Spannungskopfschmerzen sollten gemäss Wolff möglichst
wenig NSAR eingesetzt werden oder nur, um die Schmerzspit-
zen zu brechen. In diesem Fall soll jedoch hoch dosiert werden
(Paracetamol 1000 mg, Acetylsalicylsäure 1000 mg). Auch
Pfefferminzöl, auf die Schläfe aufgebracht, kann Linderung
bringen.
Tägliche Entspannungsübungen, Ausdauertraining (3 ×/
Woche 45 Minuten mit Pulsziel 120–140) sowie Biofeedback
sind zur Langzeitprophylaxe empfohlen, wenn nötig auch
Antidepressiva wie Amitriptylin, Mirtazapin und Venlafaxin
(4). Als weitere Prophylaxe können laut Wolff auch Massa-
gen und Verhaltenstherapie helfen, bei chronischen Schmer-
zen (> 15 Tage/Monat) sollte der Patient in ein Spezialambu-
latorium überwiesen werden.
Leidet der Patient an Clusterkopfschmerzen, werden zur
Therapie inhalativer Sauerstoff via Maske und Triptane zur
Attackenbehandlung eingesetzt, zur Episodenkürzung ein
Prednisonstoss je 5 Tage morgens. Zur Langzeitprophylaxe
empfehlen die Guidelines die Behandlung mit Verapamil,
Lithium, Melatonin, Topiramat oder Valproat (4).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Kopfschmerzen: Differenzialdiagnose und Therapie positiv erleben». Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 30. Juni bis 1. Juli 2022 in Luzern.
Referenzen: 1. Internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, 3. Auf-
lage, (ICHD-3). https://ichd-3.org/de/. Letzter Zugriff: 12.8.2022. 2. Porst M et al.: Migraine and tension-type headache in Germany.
Prevalence and disease severity from the BURDEN 2020 Burden of Disease Study. J Health Monit. 2020;5(Suppl 6):2-24. 3. Do TP et al.: Red and orange flags for secondary headaches in clinical practice: SNNOOP10 list. Neurology. 2019 Jan 15;92(3):134-144. 4. Schweizerische Kopfwehgesellschaft: Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen 2021, Auflage 10.1. www.headache.ch. Letzter Zugriff: 4.2.21.
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