Transkript
SGAIM
Demenzabklärung in der Hausarztpraxis
«Haben Sie den Mut, die Diagnose zu stellen»
Die Demenzdiagnose ist eine ungeliebte Diagnose. Weil es diese für angepasste Folgeentscheidungen jedoch braucht, plädierte Prof. Andreas Schoenenberger, Chefarzt Medizinische Klinik, Kantonsspital Münsterlingen, dafür, diese häufiger zu stellen. Welche Tests sich dafür eignen und welche therapeutischen Optionen zur Verfügung stehen, erklärte er am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) in Lausanne.
Aufgrund der demografischen Entwicklung und der Tatsache, dass die geburtenstarken Jahrgänge nun langsam ins höhere Lebensalter kommen, wird die Demenzrate entsprechend ansteigen. Denn die Prävalenz der Demenz liegt bei den > 80-Jährigen bei 18 Prozent und bei den 85-Jährigen bei 36 Prozent (1). Die Demenzdiagnose bleibe auch gemäss ICD-11 noch eine klinische Diagnose, berichtete Schoenenberger. Um sie stellen zu können, muss zwingend eine Gedächtnisstörung vorliegen und zusätzlich mindestens eine weitere kognitive Störung wie Aphasie, Apraxie, Agnosie oder eine Störung der Exekutivfunktion. Die Symptome müssen mehr als 6 Monate bestehen, und die Störung muss von Alltagsrelevanz sein und sich über die Zeit verschlechtern.
Welcher Test wofür?
Um das Kurzzeitgedächtnis zu prüfen, eignen sich Tests mit Wortlisten zum Merken. Diese werden mit der Aufforderung vorgelesen, sich die Wörter zu merken. Der Patient wird daraufhin mit anderen Aufgaben abgelenkt, um zu einem späteren Zeitpunkt die erinnerbaren Worte aus der Liste abzufragen. Die Aufmerksamkeit kann mit Rückwärtszählen (z. B. 100 – 7 – 7 –7..., von 20 rückwärts, Monate rückwärts) oder Rückwärtsbuchstabieren (z. B. Radio), je nach Bildungsgrad des Patienten, getestet werden. Die Domäne der Orientierung kann mit Fragen nach dem heutigen Tag und dem Ort, an dem man sich gerade befindet, getestet werden. Über die Exekutivfunktion und die Fähigkeit zur Visuokonstruktion geben Uhrentest, Würfel- beziehungsweise Fünfeckzeichnen oder der Trail-making-Test Auskunft. Bei Letzterem müssen Zahlen mit Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge verbunden werden.
KURZ & BÜNDIG
� Die Diagnose Demenz so oft wie möglich stellen.
� Angehörige von Demenzpatienten über die Erkrankung gut aufklären.
� Hypertonie als Demenzprävention konsequent behandeln.
In der Praxis eignet sich zur Testung dieser kognitiven Domänen der Mini-Mental-Status-Test (MMST). Dieser benötigt etwa 8 bis 10 Minuten. Bei Zeitmangel kann jedoch eine Wortliste mit 3 Wörtern zum Merken, ein kurzer Aufmerksamkeitstest und die Frage nach dem Tag und dem Datum bereits einen Hinweis darüber geben, ob ausführlicher getestet werden muss. Kann der Patient alles gut benennen, muss nicht weiter getestet werden. Nachteile des MMST sind gemäss Schoenenberger die Unterbewertung der Visuokonstruktion und der Exekutivfunktion mit nur 1 Frage sowie die Bildungsabhängigleit der Aufmerksamkeitstestung. Darüber hinaus hätten die Patienten aufgrund der simplen Fragen oft das Gefühl, einen «Tubeli-Test» machen zu müssen, berichtet der Referent. Eine Alternative zum MMST bildet das Montreal Cognitive Assessment (MoCA), das etwa gleich viel Zeit wie der MMST in Anspruch nimmt. Der MoCA ist schwieriger und unterhaltsamer für die Patienten, und die Exekutivfunktionen sind besser abgedeckt. Für die Hausarztpraxis zum Demenz-Kurzscreening empfiehlt Schoenenberger den Mini-Cog. Er dauert 2 bis 3 Minuten, deckt Gedächtnis (3 Wörter) und Visuokonstruktion (Uhrentest) ab, testet aber nicht die Orientierung und die Aufmerksamkeit.
Schritt für Schritt zur Diagnose
Als Test zur Diagnosestellung reichen häufig bereits ein MMST mit Uhrentest oder der MoCA, weil sie die wichtigsten kognitiven Domänen abdecken, ohne dass der Patient die Möglichkeit hat, sich besser darzustellen, als er ist. Zusätzlich wichtig ist die Fremdanamnese. Damit können Informationen über den Beginn und den zeitlichen Verlauf der Gedächtnisstörung, über die benötigte Hilfe beziehungsweise die Alltagsrelevanz, die Schulbildung des Patienten, zu nicht kognitiven Symptomen (z. B. Schlafstörungen, Aggressivität, Depression), zu Parkinson-Symptomen (Inkontinenz, Orthostase) und zur Familienanamnese gewonnen werden. Des Weiteren müssen Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden. Dazu gehört das Delir, das akut beginnt und Tagesschwankungen aufweist. Die Aufmerksamkeit ist bei dieser Störung prädominant beeinträchtigt, aber auch die Orientierung und das Gedächtnis sind betroffen. Zu weiteren Differenzialdiagnosen gehören die Depression, metabolische oder
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Medikamente, die kognitive Störungen verursachen können
• trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Trimipramin)
• Neuroleptika mit starker anticholinerger Wirkung (z. B. Levomepromazin, Clozapin)
• alte Antiparkinsonika mit starker anticholinerger Wirkung (z. B. Benzatropin)
• alte Antihistaminika (z. B. Hydroxyzin)
• alte Urospasmolytika mit systemischer anticholinerger Wirkung (z. B. Trospiumchlorid)
• Antikonvulsiva mit sedierender Wirkung (z. B. Phenytoin, Levetiracetam, Carbamazepin)
• Sedativa, Benzodiazepine
• Steroide
• Antibiotika (insbesondere Cephalosporine, Chinolone, Makrolide, Penicilline)
• Antiarrhythmika (z. B. Amiodaron, Betablocker)
Quelle: A. Schoenenberger, SGAIM 22, Lausanne
endokrine Störungen, hirnorganische Veränderungen und Infektionen. Auch bestimmte Medikamente können zu kognitiven Beeinträchtigungen führen (Kasten). Ein Polypharmazie-Check ist deshalb bei Patienten mit kognitiven Problemen zwingend. Sind die Diagnosekriterien geprüft und steht die Diagnose, folgt schliesslich die ätiologische Zuordnung der Demenz. Gemäss Schoenenberger sind die Alzheimer-Demenz und die vaskuläre Demenz am häufigsten. Etwa 2 Drittel der Patienten weisen eine der beiden Demenzformen oder eine Mischform davon auf. Andere Demenzformen wie die Lewy-BodyDemenz, die Parkinson-Demenz oder frontotemporale Demenzen sind seltener. Eine Bildgebung ist bei der ätiologischen Zuordnung hilfreich, häufig kann die Zuordnung aber mit ausreichender Sicherheit auch ohne Bildgebung gemacht werden. Weil Demenzen im Alter häufig seien, sei es wichtig, diese Diagnose zu stellen. «Haben Sie den Mut, diese Diagnose häufiger zu stellen», wünscht sich Schoenenberger, denn das helfe, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Von der Diagnose und der Einschätzung des Schweregrads (leicht, mittelschwer, schwer) hänge nicht nur die Art der Pflegebedürftigkeit ab, sondern ebenso die korrekten Entscheidungen für oder gegen medizinische Interventionen, so Schoenenberger.
Präventive und therapeutische Möglichkeiten
Primärpräventiv ist eine gute kardiovaskuläre Risikoprävention wichtig, insbesondere die Behandlung einer Hypertonie ist wichtig, um einer Demenz vorzubeugen. Im Rahmen der doppelblind geführten Hypertoniestudie SYST-EUR konnte beispielsweise gezeigt werden, dass eine Therapie der Hypertonie im Vergleich zu Plazebo das Demenzrisiko halbieren kann (2).
Tritt trotz Prävention eine Demenz auf, empfiehlt Schoenenberger, die Angehörigen über die Erkrankung und ihren Verlauf eingehend aufzuklären. Das verändert ihre Erwartungshaltung und führt zu mehr Verständnis für den Patienten und in der Folge zu einer angepassten Kommunikation. Der Patient fühlt sich dann nicht mehr so überfordert, was bei ihm weniger Aggressionen auslöst. Ebenso wichtig ist die Aufklärung über vorhandene Hilfs- und Unterstützungsangebote. Eine Milieutherapie ist zudem wichtig, mit der Organsisation eines sozialen Netzwerks, einer Tagesstruktur, der Stärkung vorhandener Ressourcen und der Anpassung der räumlichen Umgebung.
Was Medikamente bringen
Bei einer leichten bis mittelschweren Alzheimer-Erkrankung
kann der Einsatz von Acetylcholinesterasehemmern (Done-
pezil, Rivastigmin, Galantamin) erwogen werden. Damit
lasse sich eine leichte kognitive Verbesserung von durch-
schnittlich etwa 2 Punkten im MMST erreichen, so Schoe-
nenberger. Das klinge nach wenig, doch könne das den
Pflegeheimeintritt um etwa ein halbes Jahr hinauszögern. Die
Acetylcholinesterasehemmer werden in niedriger Dosis ge-
startet, bei guter Verträglichkeit nach 4 bis 6 Wochen kann
die Dosis gesteigert werden. Häufigste Nebenwirkungen sind
Übelkeit/Erbrechen, Diarrhö, Muskelkrämpfe, Kopfschmer-
zen, Schlaflosigkeit und Bradykardie.
Bei einer mittelschweren bis schweren Alzheimer-Demenz
(MMST ≤ 19 Punkte) kann Memantin eingesetzt werden.
Der NMDA-Rezeptor-Antagonist (NMDA: N-Methyl-D-
Aspartat) bewirkt eine kognitive Stabilisierung, was den Erhalt
der Selbstständigkeit verlängert. Er reduziert ausserdem Agi-
tiertheit und Aggressionen und verbessert den Schlaf. Häufigste
Nebenwirkungen sind Schwindel, Kopfschmerzen, Verstop-
fung und Schläfrigkeit. Die Therapie beginnt mit 5 mg/Tag
morgens und wird bei guter Verträglichkeit jede Woche bis zu
einer Zieldosis von 20 mg/Tag um 5 mg gesteigert.
Eine weitere Möglichkeit ist die Gabe des Phytotherapeuti-
kums Ginkgo biloba (Tebokan®, 1–2 × 120 mg/Tag). Es ist
indiziert bei kognitiven Einbussen, bei denen es stabilisierend
wirkt. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schlaf-
losigkeit und ein blutverdünnender Effekt. Deshalb ist bei
Patienten unter Antikoagulation Vorsicht geboten.
Zur Behandlung von Begleiterscheinungen der Demenz wie
der Depression empfiehlt Schoenenberger SSRI (z. B. Escita-
lopram), Mirtazapin und Trazodon. Bei Agitiertheit, Aggres-
sionen und Schlafstörungen kann Memantin helfen, häufig
sind aber Neuroleptika notwendig, wobei hier vorzugsweise
atypische wie Quetiapin, Clozapin und Risperidon eingesetzt
werden sollten.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Abklärung und Therapie der Demenz». Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 1. bis 3. Juni 2022, in Lausanne.
Referenzen: 1. Jorm AF et al.: The incidence of dementia: a meta-analysis. Neu-
rology. 1998;51(3):728-733. 2. Forette F et al.: The prevention of dementia with antihyperten-
sive treatment: new evidence from the Systolic Hypertension in Europe (Syst-Eur) study [published correction appears in Arch Intern Med. 2003 Jan 27;163(2):241.]. Arch Intern Med. 2002;162(18):2046-2052.
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