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SSC/SSCS
Blutdrucksenkung bei älteren Patienten
Wann darf man grosszügig sein?
Es gibt durchaus Gründe, warum bei älteren Patienten die Blutdruckziele nicht immer so sakrosankt verfolgt werden sollten. Denn um von einer Blutdrucksenkung profitieren zu können, braucht es bestimmte Voraussetzungen, die ältere Patienten manchmal nicht mehr erfüllen. In welchen Fällen auf eine Senkung verzichtet werden soll, erklärte Prof. Andreas Schoenenberger, Chefarzt Medizinische Klinik, Kantonsspital Münsterlingen, am Jahreskongress der Schweizer Gesellschaft für Kardiologie (SSC/SSCS) in St. Gallen.
Wie weit soll man den Blutdruck von älteren
Patienten senken? Die Frage ist ein Dauerbren-
ner, und die Antworten dazu werden immer
wieder revidiert. Dass eine Blutdrucksenkung
in hohem Alter Vorteile hat, zeigte schon vor
14 Jahren (2008) die erste randomisierte Studie
(HYVET) bei > 80-jährigen Patienten mit Blut-
druckwerten > 160/90 mmHg. Eine Senkung
auf Werte < 150/80 mmHg verringerte nicht Andreas Schoenenberger nur die Mortalität, sondern auch die Raten von Hirnschlag und Herzinsuffizienz (1), beides laut Schoenenberger häufige Gründe für eine funktionelle Einschränkung und in der Folge für eine Pflegeheimeinwei- sung. Einige Jahre später (2016) bestätigte die SPRINT- Studie den Vorteil einer intensiven Blutdrucksenkung, ver- glichen mit einer Standardsenkung, hinsichtlich Reduktion der Gesamtmortalität ebenfalls bei > 75-Jährigen (2), auch
wenn das Ausmass der intensivierten Senkung (120 mmHg)
in dieser Studie aufgrund einer unüblichen Messmethode laut
Schoenenberger umstritten blieb. 2021 verglich eine weitere
Studie aus China bei 60- bis 80-Jährigen mit Blutdruckwer-
ten ≥ 140 mmHg eine Standardsenkung (auf 130–150 mmHg)
mit einer intensivierten Senkung (auf 110–130 mmHg). Auch
in dieser Studie traten unter der intensiven Senkung weniger
kardiovaskuläre Ereignisse auf (3). Die Ausschlusskriterien
seien jedoch in allen 3 Studien, unter anderem hinsichtlich
Komorbiditäten, sehr umfangreich gewesen, sodass man die
Resultate trotz allem vorsichtig interpretieren sollte, mahnte
Schoenenberger. Denn im Praxisalltag haben Senioren mit
Hypertonie sehr oft noch andere Erkrankungen. Was emp-
fehlen die Guidelines? Aufgrund der Evidenzlage empfehlen
die European Society of Cardiology (ESC) und die European
Society of Hypertension (ESH) in ihren Leitlinien als primä-
res Ziel für > 65-Jährige einen Blutdruck von 130 bis
KURZ & BÜNDIG
� Bei fitten älteren Patienten, die die Therapie gut vertragen, die empfohlenen Blutdruckzielwerte anstreben.
� Bei deutlich reduzierter Lebenserwartung und Gebrechlichkeit ggf. die Blutdruckziele lockern.
139 mmHg (4), die schweizerischen Guidelines einen Zielwert < 140/90 mmHg, mit einem optimalen Zielbereich von 130/80 mmHg für jene Patienten, die davon profitieren können (5). Gilt das für alle? Bei gesunden und fitten älteren Patienten, die die antihyper- tensive Therapie gut vertragen, sollen die empfohlenen Ziel- werte angestrebt werden. Doch bei gebrechlichen älteren Menschen mit einer reduzierten Lebenserwartung kann der Effekt einer strengen Blutdrucksenkung limitiert, wenn nicht sogar kontraproduktiv sein. Deshalb raten geriatrische Kon- sensusguidelines zu weniger strengen Massnahmen unter be- stimmten Umständen: Bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz ist eine strikte Blutdruckkontrolle < 140/90 mmHg nicht empfohlen, ebenso für Patienten mit einer Lebenserwartung < 2 Jahre. Bei Stür- zen im Zusammenhang mit einer orthostatischen oder symp- tomatischen orthostatischen Hypotonie soll die Anzahl Anti- hypertonika reduziert und auf eine Therapie mit mehreren Blutdrucksenkern verzichtet werden (6). Eine weiterer Grund, warum in höherem Alter nicht mehr um jeden Preis die Blutdruckzielwerte angestrebt werden sollten, ist die verminderte Organperfusion bei tieferem Blutdruck. Das sei relevant für die Funktion des Herzens, der Nieren und insbesondere des Gehirns, so Schoenenberger. Wird der zent- rale Blutdruck zu stark reduziert, erhöht sich beispielsweise das Sturzrisiko um bis zu 40 Prozent im Vergleich zu keiner Therapie, wie eine 3 Jahre dauernde Konhortenstudie mit knapp 5000 Senioren > 70 Jahre zeigen konnte (7).
Ein weiterer Grund für eine Zurückhaltung bei der Blut-
drucksenkung bei älteren Personen liefert auch die Tatsache,
dass mit zunehmendem Alter die Prävalenz der orthostati-
schen Hypotonie auf bis zu 30 Prozent (> 70 Jahre) steigt (8).
Deshalb empfehlen die Guidelines, den Blutdruck bei älteren
Patienten nicht nur im Sitzen, sondern 1 und 3 Minuten nach
dem Aufstehen in stehender Position zu messen, um eine or-
thostatische Hypotonie auszuschliessen (4).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Target in older patients after SPRINT and STEP». SSC/SSCS Annual Meeting, 15. bis 16. Juni 2022 in St. Gallen.
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Referenzen: 1. Beckett NS et al.: Treatment of hypertension in patients 80 years
of age or older. N Engl J Med. 2008;358(18):1887-1898. 2. SPRINT Research Group: A randomized trial of intensive versus
standard blood-pressure control. N Engl J Med. 2015;373(22):21032116. 3. Zhang W et al.: Trial of Intensive Blood-Pressure Control in Older Patients with Hypertension. N Engl J Med. 2021;385(14):12681279. 4. Williams B et al.: 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension: The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Society of Hypertension (ESH). European Heart Journal. 2018;39(33):3021-3104. 5. www.swisshypertension.ch 6. Onder G et al.: Recommendations to prescribe in complex older adults: results of the crIteria to assess appropriate medication use among elderly complex patients (CRIME) project. Drugs Aging. 2014;31(1):33-45. 7. Tinetti ME et al.: Antihypertensive medications and serious fall injuries in a nationally representative sample of older adults. JAMA Intern Med. 2014;174(4):588-595. 8. Wu JS et al.: Population-based study on the prevalence and correlates of orthostatic hypotension/hypertension and orthostatic dizziness. Hypertens Res. 2008;31(5):897-904.
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