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SSC/SSCS
Ältere Patienten mit Herzinsuffizienz
Alle guidelinekonform behandeln?
Foto: vh
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Eine Behandlung nach Guidelines macht den Einsatz von vielen Medikamenten erforderlich, was gerade bei älteren Patienten oft zu Schwierigkeiten führt. Ob bei diesen Patienten streng nach Guidelines therapiert werden soll oder eher nicht, wurde am Jahreskongress der Schweizer Gesellschaft für Kardiologie (SSC/SSCS) in St. Gallen kontrovers diskutiert. Vorteile und Einwände beleuchteten Prof. Christian Müller, Universität Basel, und Prof. Franz Eberli, Stadtspital Zürich Triemli.
Es sei im besten Interesse des herzinsuffizienten
Patienten, alle verfügbaren Therapien einzu-
setzen, die eine Klasse-I-Empfehlung in den
Guidelines hätten, plädierte Prof. Christian
Müller, Universität Basel, für die guidelinekon-
forme Therapie. Dieses Kriterium erfüllen bei
der Indikation Herzinsuffizienz momentan
die 4 Medikamentenklassen ACE-Hemmer/
ARNI (Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhi-
Christian Müller
bitor), Betablocker, Mineralokortikoid-Antagonisten (MRA) und SGLT2-Hemmer (1).
Den Vorteil dieses Vorgehens zeigt der von
Müller präsentierte Fall eines 56-jährigen Pa-
tienten, der mit einer akuten Herzinsuffizienz
(linksventrikuläre Auswurffraktion [LVEF]:
20%) hospitalisiert wurde. Nach dem 3. Tag
im Spital haben sich die Werte verbessert: Es
bestand keine Ruhedyspnoe mehr, der Puls be-
trug 88/min, der Blutdruck 110/70 mmHg, das
Gewicht war wieder normal, die eGFR lag bei
107/min, die Extremitäten waren warm und
Franz Eberli
Rasselgeräusche noch detektierbar. Seine Me-
dikation bestand zuvor aus einem ACE-Hem-
mer und einem Diuretikum. Welche Medikation sollte nun
zuätzlich gegeben werden? Betablocker? MRA? SGLT2-Hem-
mer? Alle 3? Gemäss der Guideline der European Socitety of
Cardiology (ESC) zur Diagnose und Therapie der Herzinsuf-
fizienz (1) ist bei allen Herzinsuffizienzpatienten die gleich-
zeitige Gabe von ACE-Hemmer/ARNI, Betablocker, MRA
und SGLT2-Hemmer zur Senkung der Mortalität empfohlen
(Klasse-1-Empfehlung). Bei diesem Patienten habe sich dieses
Vorgehen ausgezahlt, denn 2 Monate später sei die LVEF auf
40 Prozent gestiegen, nach 4 Monaten hätte sie 55 Prozent
betragen, berichtete Müller.
Eine Hospitalisierung infolge Herzinsuffizienz markiert eine
fundamentale Veränderung des Krankheitsverlaufs und ist
mit einer schlechten Prognose vergesellschaftet, das 5-Jahres-
Mortalitätsrisiko steigt auf 40 bis 50 Prozent (2). Aus diesem
Grund plädiert Müller für eine strikte Befolgung aller Klas-
se-I-Empfehlungen der Guidelines zur Verbesserung des
Krankheitsverlaufs und der Lebensqualität des Patienten.
Guidelines sind hilfreich
Guidelines resultierten aus der sorgfältigen Überprüfung der vorhandenen Evidenz. An ihrer Evaluierung seien über 50 Fachexperten aus aller Welt beteiligt, erkärte Müller die Entstehung. Der Prozess dauere bis zu 3 Jahren und münde dann in eine Expertenabstimmung zur Vergabe von Empfehlungen der Klasse I (soll), der Klasse II (kann) und der Klasse III (vermeiden). Das sei nicht perfekt, aber sehr hilfreich, so seine Argumentation für deren Einhaltung.
«Adäquate Polypharmazie»
Die Polypharmazie, gerade bei älteren Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen, sei jedoch ein wichtiger Aspekt bei der Therapieentscheidung. Doch könne eine diesbezügliche Zurückhaltung auch zu einer Unterversorgung führen, so Müller, weil Therapien mit bewiesenem Nutzen dem Patienten aus diesem Grund vielleicht vorenthalten würden. Das Ziel sei deshalb eine «adäquate Polypharmazie». Das bedeute, Medikationen mit unbewiesenem oder geringem Nutzen wegzulassen, und zwar zugunsten von solchen mit guter Evidenz und grossem Nutzen respektive hoher absoluter Risikoreduktion für den Patienten. Im Fall der SGLT2-Hemmer liegt die absolute Risikoreduktion für eine herzinsuffizienzbedingte Hospitalisierung oder für kardiovaskulären Tod bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz und reduzierter LVEF bei 10,4 Prozent pro 100 Patientenjahre, die Number Needed to Treat beträgt 10 (2).
Was ist wichtiger?
Polypharmazie führe jedoch häufig zu unangemessenen (inappropriate) Medikationen, gibt Prof. Franz Eberli, Stadtspital Zürich Triemli, zu bedenken. Gemäss einer Untersuchung bei 231 Patienten mit Herzinsuffizienz mit erhaltener Pumpfunktion (HFpEF) erfüllten 74 Prozent die Kriterien einer Polypharmazie, definiert als > 10 Medikamente. Die häufigsten Komorbiditäten waren Hypertonie, Adipositas, obstruktive Schlafapnoe, Dyslipidämie und Diabetes. Praktisch bei allen kam es zu einer unangemessenen Medikation, bei der ein Medikament zu einer Verschlechterung eines Leidens oder zu einer Arzneimittelinteraktion führte (3). Arzneimittelinteraktionen seien in den Guidelines laut Eberli leider
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schlecht abgebildet, wie beispielsweise eine systematische Untersuchung bei 12 NICE-Guidelines ergab (4). Guidelines warnten nicht vor potenziellen Interaktionen, auch nicht vor den häufigsten, so sein Caveat, man müsse diese selbst nachschauen. Basis für die Empfehlungen seien klinische Studien, die aber in der Regel ein sehr selektives Patientengut reprä-
Nützliche Links für die Pharmakotherapie
FORTA-Liste (deutsch) www.rosenfluh.ch/qr/fortamedikamentenliste
sentierten und viele Umstände ausschlössen, die zu einem Konflikt mit der getesteten Therapie führen könnten. Die Patienten in der Praxisrealität seien jedoch multimorbid und ihre Medikationsliste meist lang. Eine zusätzliche Therapie zwinge deshalb immer zu einer Abwägung dahingehend, welches der Probleme des Patienten nun zu priorisieren sei. Denn wie eine englische Untersuchung zeigte, erhöht bei multimorbiden Patienten (n = 827) jedes zusätzliche Medikament das Risiko für eine Hospitalisierung oder Tod um 8,6 Prozent (5). Was also tun? Guidelines seien hilfreich, um die Evidenz zu einer Thematik zu erfassen. Sie stellten Leitplanken dar, an denen man sich orientieren könne. Bei multimorbiden Patienten jedoch müssten Prioritäten gesetzt werden und Medikationen auch abgesetzt werden.
PRISCUS-Liste (deutsch) www.rosenfluh.ch/qr/priscuslisten
Beers-Kriterien (englisch) www.rosenfluh.ch/qr/beersliste
START/STOPP-Kriterien (englisch) www.rosenfluh.ch/qr/startstopp
Forta-Liste auch als App verfügbar
Bei FORTA («Fit fOR The Aged») handelt es sich um ein Medikamenten-Klassifizierungssystem, das als klinisches Hilfsmittel zur Überwachung und Optimierung der medikamentösen Therapie älterer Patienten dienen soll. Es kann sowohl via Browser als auch per App genutzt werden. Insgesamt 296 Substanzen bzw. Substanzklassen aus 30 Indikationsbereichen, die bei Älteren besonders häufig verordnet werden, wurden in der FORTA-Liste 2018 vier Kategorien zugeordnet – unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands zur Eignung für ältere Patienten sowie des Nutzen-Risiko-Verhältnisses.
Für Substanzen der Kategorie A (besonders vorteilhaft) ist der Nut-
zen bei bestehender Indikation gut belegt. Für die Substanzen der
Kategorie B (vorteilhaft) ist die Wirksamkeit bei älteren Patienten
nachgewiesen, aber es bestehen Einschränkungen bezüglich Sicherheit
und Wirksamkeit. Substanzen der Kategorie C (fragwürdig) verfügen
über ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis. Ihr Einsatz sollte kri-
tisch überdacht werden und der Patient ggf. bezüglich der zu erwar-
tenden Wirkungen und eventuellen Nebenwirkungen genau beobach-
tet werden. Ferner sollten bessere Alternativen erwogen werden. Auf
Substanzen der Kategorie D (vermeiden) sollte verzichtet werden.
Die Apps können kostenlos im AppStore sowie bei Google Play herun-
tergeladen werden.
Mü
Wie priorisieren?
Polypharmazie gefährde aber auch die Guidelineadhärenz,
die Adhärenz des Patienten, die Compliance und damit nicht
zuletzt die Behandlungsqualität. Um die Polypharmazie auf
das nötige Mass zu reduzieren, schlägt Eberli folgendes Vor-
gehen vor: 1. Medikamentenliste durchgehen: Lassen Sie sich
alle Medikamente bringen, die der Patient einnimmt, ein-
schliesslich aller rezeptfreien Präparate und Nahrungsmittel-
supplemente. 2. Die Medikamente anschliessend auf ihre
Eignung und Angemessenheit überprüfen. Für die Beurtei-
lung der Angemessenheit sind Alter, Nierenfunktion, Ge-
brechlichkeit und die restliche Lebenserwartung wichtig.
Nützliche Instrumente sind die Listen für unangemessene
Medikation bei älteren Patienten, wie beispielsweise die
Beers-Kriterien, die START/STOPP-Kriterien, die PRISCUS-
oder die FORTA-Liste (QR-Links). Schliesslich sollen die
Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten erfragt werden,
wie beispielsweise nach dem subjektiv wichtigsten Leiden.
Das sei zwar zeitaufwendig, stärke aber die Arzt-Patien-
ten-Beziehung und helfe bei der Prioritätensetzung und dem
Deprescribing. Dazu gehöre des Weiteren, sich zu jedem Me-
dikament die Schlüsselfragen nach der (immer noch aktuel-
len) Indikation, nach dem Nutzen-Risiko-Verhältnis, nach
der korrekten Dosierung und nach möglicherweise besseren
Alternativen zu stellen (6).
Die Fokussierung auf das für den Patienten wichtigste Leiden
ermöglicht anstelle einer erkrankungszentrierten eine patien-
tenzentrierte Herangehensweise. Wichtig dabei sei aber auch
die Schulung des Patienten, damit dieser die Erkrankung und
deren Therapie verstehe und so besser beurteilen könne, was
ihm wichtig sei, so Eberli abschliessend.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Strict adherence to guidelines: pro/contra». SSC/SSCS Annual Meeting, 15. bis 16. Juni 2022 in St. Gallen.
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Referenzen: 1. McDonagh TA et al.: 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and
treatment of acute and chronic heart failure. Eur Heart J. 2021;42:3599-3726. 2. Butler J et al.: Sodium glucose co-transporter inhibitors and heart failure outcomes across different patient populations. Eur Heart J. 2021;42(48):4887-4890. 3. Brinker LM, Konerman MC, Navid P, et al.: Complex and Potentially Harmful Medication Patterns in Heart Failure with Preserved Ejection Fraction. Am J Med. 2021;134(3):374-382. 4. Dumbreck S et al.: Drug-disease and drug-drug interactions: systematic examination of recommendations in 12 UK national clinical guidelines. BMJ. 2015;350:h949. 5. Viktil KK et al.: Polypharmacy as commonly defined is an indicator of limited value in the assessment of drug-related problems. Br J Clin Pharmacol. 2007;63(2):187-195. 6. Neuner-Jehle S et al.: Polypharmazie bei Älteren. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(04):113-115.
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