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Pruritus
Juckreiz durch Arzneimittel
AIU 2022
Das Phänomen ist bekannt: Manche Patienten reagieren auf ein bestimmtes Medikament mit Juckreiz – mit oder ohne Hautausschlag. Und die Liste der potenziellen Pruritus-Auslöser ist lang: Sie reicht von Antibiotika über Antihypertensiva bis zu modernen Tumortherapeutika wie Checkpoint-Inhibitoren. Allerdings ist noch nicht vollständig geklärt, welche Mechanismen dieser Form des Juckreizes zugrunde liegen. Doch die Immunologen sind ihnen auf der Spur – und sie sind in Sachen Therapie bereits fündig geworden.
Viele Medikamente können Nebenwirkungen an der Haut auslösen. Den meisten Ärzten fällt hierzu die klassische Arzneimittelreaktion mit Exanthem ein. Und zur Therapie: Medikament absetzen. Doch so einfach sei es nicht – vor allem wenn keine alternative Substanzgruppe zur Verfügung stehe, wie PD Dr. Thomas Harr von den Universitätskliniken Genf erläuterte.
Akut oder chronisch, mit oder ohne Exanthem?
Da ist zunächst die Unterscheidung, ob die kutane Reaktion mit oder ohne Ausschlag juckt. Betrachtet man nur die ohne Exanthem, muss wiederum zwischen akutem und chronischem Pruritus differenziert werden. Die akute Form – definiert als Juckreiz unter 6 Wochen – ist dadurch charakterisiert, dass sie in der Regel tatsächlich nach Absetzen des Medikaments abklingt. Als Beispiel nannte Harr als Auslöser Opioide wie Morphin oder Fentanyl als epidurale Injektion: Bei 60 bis 90 Prozent der Patienten juckt die Haut 6 bis 12 Stunden nach der Applikation. Auch bei Chloroquin in der Malariatherapie setzt bei den meisten Patienten Juckreiz ein, der bis zu 3 Tage anhält. Als Beispiel für chronischen Pruritus kann Glimepirid dienen, auch wenn diese Nebenwirkung weniger als 1 Prozent der Patienten trifft. Allerdings kann der dadurch ausgelöste Juckreiz auch nach Absetzen bis zu 15 Monate anhalten. Harr machte allerdings darauf aufmerksam, dass der Juckreiz nicht nur durch die Arzneimittelreaktion ausgelöst, sondern gleichzeitig durch andere Faktoren gefördert werden könne – beispielsweise durch Cholestase, Xeroderma, Niereninsuffizienz oder Lebertoxizität. Deshalb sollte die Anamnese sehr sorgfältig erhoben werden, um sowohl potenziellen Arzneimitteln als auch Begleiterkrankungen auf die Spur zu kommen. Ist der Juckreiz als Arzneimittelreaktion wahrscheinlich, sollte an andere Nebenwirkungen gedacht werden (z. B. Atemwegsbeschwerden, Rhinitis, Blutdruck). Allerdings sind nicht alle Arzneimittelreaktionen mit Allergie gleichzusetzen.
Nebenwirkung Pruritus bei Antihypertensiva
Viele gängige Medikamente können pruritogen wirken. So wissen zwar die meisten Allgemeinmediziner, dass Antibio-
tika Arzneimittelreaktionen an der Haut auslösen können (Spitzenreiter sind hier die Penicilline), aber auch die häufig eingesetzten Antihypertensiva – die Top 3 sind Kalziumantagonisten, Betablocker und ACE-Hemmer – haben Juckreiz im Nebenwirkungsspektrum. Allerdings geht nur etwa in der Hälfte der Fälle der Pruritus mit einem Exanthem einher (1). Dass bei einer Therapie mit ACE-Hemmern Angioödeme auftreten können, ist bekannt, dass aber Juckreiz an dritter Stelle der kutanen Nebenwirkungen steht, daran denken die Ärzte meistens nicht.
Juckreiz ohne Histamin
Aber genau hier öffnet sich ein Fenster, um der Pathogenese des arzneimittelbedingten Juckreizes auf die Spur zu kommen: Das Zytokin Bradykinin spielt eine Rolle bei der Entstehung von Angioödemen. Könnte es nicht ebenfalls beim Juckreiz eine Funktion haben? Harr zitierte hierzu eine schon ältere Studie, die der Frage nachging, ob es Histamin-abhängige und Histamin-unabhängige Pruritogene gibt. Dazu wurden Histamin, Substanz P, Serotonin und Bradykinin mittels Iontophorese auf die läsionale und visuell nicht läsionale Haut von 14 Patienten mit atopischer Dermatitis und auf die normale Haut von 15 gesunden Freiwilligen appliziert. Juckreiz konnte durch leichtes Reizen der Haut mit einem Wattestäbchen (Alloknesis) an allen läsionalen Hautstellen ausgelöst werden, nicht jedoch an nicht läsionaler oder normaler Haut. Die Substanzen wurden vor und 3 Stunden nach Verabreichung eines Plazebos oder eines Antihistamins (Olopatadinhydrochlorid: H1-Rezeptorenblocker) auf dieselbe Hautstelle aufgetragen. Die Intensität der Juckreiz- und Schmerzempfindung sowie die Bereiche des Aufflackerns und der Quaddeln wurden gemessen. Alle Substanzen lösten in der läsionalen Haut einen deutlich stärkeren Juckreiz aus als in der nicht läsionalen Haut der Patienten. Selbst Bradykinin, das in der nicht läsionalen Haut von Patienten und gesunden Probanden nur schwachen Juckreiz und schwache Schmerzen ähnlicher Intensität hervorrief, löste in der läsionalen Haut starken Juckreiz aus, während der gleichzeitig verstärkte Schmerz die Juckreizempfindung nicht unterdrückte, was auf eine zentrale Sensibilisierung hinweist. Histaminund Substanz-P-induzierter Juckreiz wurden durch Antihis-
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taminika fast vollständig unterdrückt, Bradykinin- und Serotonin-induzierter Juckreiz dagegen nicht. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Substanz P auch in läsionaler Haut unter sensibilisierten Bedingungen ein Histamin-abhängiges Pruritogen ist, während Bradykinin und Serotonin in läsionaler Haut Histamin-unabhängige Pruritogene sind (2).
Juckreiz als Indikator?
Besonders in der Tumortherapie sind kutane Nebenwirkungen an der Tagesordnung. Zwar kann Pruritus manchmal eine Begleiterscheinung bei Neoplasmen sein, doch häufiger tritt er zu Beginn einer Chemotherapie auf – und hier ist die Liste der auslösenden Substanzen lang: Sie reicht von klassischen Zytostatika wie Paclitaxel und Cytarabin über EGFR-Hemmer (epidermal growth factor receptor inhibitors) wie Erlotinib bis zu der neuen Substanzgruppe der Immun-Checkpoint-Inhibitoren (ICI). Gut dokumentiert ist diese Hauttoxizität vor allem für die humanisierten Antikörper gegen den programmierten Zelltod (Anti-PD1). Bei den PD1-Hemmern besteht vermutlich ein Zusammenhang zwischen der kutanen Toxizität und der Wirksamkeit der Behandlung: Offenbar sind Hautnebenwirkungen ein Prädiktor für ein besseres Behandlungsergebnis (3).
Was tun gegen den Juckreiz?
Die Entstehung von Juckreiz ist ein pathophysiologisch komplexer Prozess, der noch nicht vollständig geklärt ist. Sicher ist, dass eine Vielzahl von Zytokinen und Immunzellen beteiligt sind. Beispielsweise werden Mastzellen als zentrale Akteure bei IgE-vermittelten und MRGPRX2-vermittelten (Mas-related G-protein-coupled receptor member X2) anaphylaktischen Reaktionen eingestuft. Aber nicht nur über die Biochemie nähern sich die Forscher dem Pruritus, sondern auch von klinischer Seite: Da Juckreiz als «kleiner Bruder des Schmerzes» gilt, lag es nahe, die Analgetika, genauer gesagt Opioide, zu erforschen. Zumal Opioidrezeptoren (µ-, κ- und δ- und Nociceptin/OrphaninFQ-Rezeptor [NOP-R]) auch in der Haut vorkommen. Von exogenen Opioid-Agonisten ist bekannt, dass sie bei epiduraler Verabreichung juckende Reaktionen auslösen können. Allerdings lindern µ-Opioid-Antagonisten auch Juckreiz. Harr führte dazu eine Kasuistik auf, in der ein Patient mit Lungenkrebs auf die Behandlung mit einem PD1-Hemmer mit schwerem Juckreiz reagierte. Dieser konnte durch eine Infusion mit Naloxon – einem Antagonisten für mehrere Opioid-Rezeptoren – deutlich gelindert werden (4).
Pipeline der Antipruriginosa
Andere Substanzgruppen haben ebenso das Potenzial, den Juckreiz zu lindern. Allerdings stecken die Untersuchungen dazu noch in den Kinderschuhen (Phase-II-Studien). Zudem ist die Wirkung auf Pruritus meist nicht der primäre Endpunkt bei den Medikamentenstudien. Angesichts der aktuellen Studienlage zur Juckreizlinderung hält Harr folgende Substanzgruppen für besonders Erfolg versprechend (5): • Neurokinin-1-Rezeptor-(NK-1R-)Antagonisten: Substanz P bindet an NK-1R und stimuliert so eine Gefäss-
erweiterung, die Degranulation von Mastzellen und die Expression des Nervenwachstumsfaktors (NGF) in Kera-
tinozyten sowie eine neurogene Entzündung. Mit NK-1RAntagonisten wie Aprepitant kann diese Reaktion vermindert und so der Juckreiz gedrosselt werden. Entsprechende Studien sind in Arbeit. • Biologika: Ebenfalls vielversprechend ist für Harr der Einsatz der modernen Biologika, hier besonders Dupilumab, das als Interleukin-(IL-)4- und IL-13-Hemmer bereits erfolgreich bei atopischer Dermatitis (AD) den Juckreiz lindert. Auch die Blockade von IL-31 kann den Juckreiz bei AD und chronischer Prurigo senken, wie Studien mit dem IL-31Hemmer Nemolizumab gezeigt haben. • Immunglobulin-E-Antagonisten: Ligelizumab ist ein hoch affiner, humanisierter Antikörper, der auf freies IgE, basophiles FcεRI und Oberflächen-IgE abzielt. Er hemmt die Exozytose von Basophilen und Mastzellen und die Bildung von Mediatoren und Zytokinen, wodurch allergische Reaktionen abgeschwächt werden. In Phase-II-Studien konnte die Wirksamkeit bei chronischer Urtikaria bereits belegt werden. Vor allem der Juckreiz-Score nahm im Vergleich zu Patienten, die mit einem anderen IgE-Hemmer (Omalizumab) behandelt wurden, deutlich ab. • JAK-Inhibitoren: Ein neu identifiziertes Ziel für die dermatologische Behandlung sind die Januskinasen (JAK). JAK beeinflussen die Expression spezifischer Gene, z. B. solcher, die mit entzündlichen Zytokinen und Wachstumsfaktoren in Verbindung stehen. JAK tragen zu Entzündungskrankheiten wie rheumatoider Arthritis oder entzündlichen Darmerkrankungen bei. Werden sie gehemmt, bessern sich die Entzündungen. Das gilt auch für inflammatorische Dermatosen wie Psoriasis, AD, Alopecia areata und Vitiligo. In einer Cremezubereitung mit dem JAK1/2-Inhibitor Ruxolitinib konnte der Juckreiz bei Patienten mit AD innerhalb von 36 Stunden deutlich gelindert werden.
Harr schickte zu Beginn seiner Ausführungen voraus: «Er-
warten Sie das Unerwartete!». Das zeige, dass in Sachen
Juckreiz und Arzneimittel noch viel Forschungsbedarf be-
stehe und dass es beim einzelnen Patienten sehr unterschied-
liche Ausprägungen des Juckreizes und der Begleiterkrankun-
gen gebe. Konstellationen mit anderen Hauterscheinungen –
von der Quaddel bis zur Nekrose – und Grunderkrankungen
(Tumor, Diabetes usw.) seien möglich.
s
Angelika Ramm-Fischer
Quelle: Allergy and Immunology Update (AIU) 2022, 28.-29. Januar 2022, online.
Referenzen: 1. Huang AH et al.: Pruritus Associated with Commonly Prescribed
Medications in a Tertiary Care Center. Medicines (Basel). 2019;6(3):84. 2. Hosogi M et al.: Bradykinin is a potent pruritogen in atopic dermatitis: a switch from pain to itch. Pain. 2006;126(1-3):16-23. 3. Allegra A et al.: The Impact of Immunological Checkpoint Inhibitors and Targeted Therapy on Chronic Pruritus in Cancer Patients. Biomedicines. 2021;9(1):2. 4. Kwatra S et al.: PD-1 Blockade–Induced Pruritus Treated with a Mu-Opioid Receptor Antagonist. N Engl J Med. 2018;379:15781579. 5. Reszke R et al.: Emerging Therapeutic Options for Chronic Pruritus. Am J Clin Dermatol. 2020;21:601–618.
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