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AIU 2022
Nahrungsmittelallergie
Von Präventionsstrategien und oraler Immuntherapie
Angesichts der zunehmenden Prävalenz von Nahrungsmittelallergien wird an Präventions- und Therapiestrategien mit Hochdruck geforscht. Dabei werden vermeintlich gesicherte Massnahmen wie die extensive Hautpflege bei Babys infrage gestellt. Neue Optionen wie die orale Immuntherapie gegen Erdnussallergie stehen in der Schweiz kurz vor der Zulassung.
Noch vor wenigen Jahrzehnten galt eine Nahrungsmittelallergie als exotische Diagnose. Heutzutage wird in Publikumsmedien ständig über Lebensmittelunverträglichkeiten berichtet, sodass viele das als Modekrankheit abtun. Weder das eine noch das andere trifft zu. PD Dr. Oliver Fuchs vom Inselspital Bern berichtete über Studien in 8 europäischen Ländern, nach denen die Prävalenz der Sensibilisierung auf Nahrungsmittel (gemessen am IgE-Spiegel) von 8- bis 10-jährigen Kindern bei 20 Prozent liegt. Bei den Erwachsenen wurde eine Sensibilisierungsrate von 16 Prozent festgestellt. In beiden Altersklassen nimmt die Schweiz den Spitzenplatz mit 29 Prozent für die Kinder – das heisst fast jedes dritte Schulkind – und 24 Prozent für die Erwachsenen ein. Allerdings wird nicht aus jeder Sensibilisierung tatsächlich eine manifeste Nahrungsmittelallergie. 1 von 25 sensibilisierten Kindern reagiert auf ein entsprechendes Lebensmittel mit Symptomen. Bei den Erwachsenen liegt die Rate bei 1 von 14 Sensibilisierten.
Damoklesschwert
Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich enorme physische und psychische Belastungen, besonders bei den Kindern. Die Kleinen und vor allem ihre Eltern lebten in der ständigen Angst vor anaphylaktischen Reaktionen, die trotz akribischer Vermeidung des Allergens wie ein Damoklesschwert über einem schweben konnten, so Fuchs.
Leitlinienthema Prävention
Um diese Worst-case-Szenarien zu vermeiden, setzen die Allergologen an der Wurzel an. Es gilt, die Entwicklung einer Nahrungsmittelallergie zu verhüten. Hier hat sich bei den Präventionsstrategien einiges getan. So empfiehlt die Europäische Akademie für Allergie und klinische Immunologie (EAACI) – allerdings nur mit mässigem Evidenzgrad – in ihrer Leitlinie zur Prävention von Nahrungsmittelallergien (1): • bei der Säuglingsernährung Muttermilch • auf Zufütterung von Kuhmilchzubereitungen in der ersten
Lebenswoche zu verzichten • als Teil der Beikost bei Säuglingen ab dem 4. bis 6. Lebens-
monat nur gut gekochtes Hühnerei, nicht aber rohes oder ungekochtes, pasteurisiertes Ei zu verwenden
• in Bevölkerungsgruppen, in denen Erdnussallergien weitverbreitet sind, Erdnüsse in altersgerechter Form als Teil der Beikost in die Ernährung von Säuglingen ab dem 4. Monat aufzunehmen, um die Toleranzentwicklung zu fördern und Erdnussallergien zu verhindern.
Laut EAACI-Leitlinie sei es nicht hilfreich, • den Verzehr potenzieller Lebensmittelallergene während
der Schwangerschaft oder der Stillzeit einzuschränken • in den ersten 6 Lebensmonaten eine Milchnahrung auf
Sojaproteinbasis einzuführen, um Kuhmilchallergien bei Säuglingen und Kleinkindern zu verhindern.
Frühe Allergenzufuhr
Und es gibt weitere Hinweise auf eine diätische Prävention von Nahrungsmittelallergien: Säuglinge, denen bereits ab dem 4. Lebensmonat zusätzlich zur Muttermilch nacheinander 6 allergene Lebensmittel (Kuhmilch, Erdnuss, hartgekochtes Hühnerei, Sesam, Fisch und Weizen) zugefüttert wurden (EIG = early introduction group), wurden mit einer Säuglingsgruppe verglichen, die bis zum 6. Lebensmonat ausschliesslich Muttermilch bekam. Ergebnis: die EIG entwickelte deutlich seltener eine Sensibilisierung auf die allergenen Lebensmittel im Vergleich zur Standardgruppe, auch waren in der EIG weniger Zöliakiefälle zu verzeichnen (2).
Zu viel cremen ist kontraproduktiv
Derzeit gehen Allergologen davon aus, dass die Sensibilisierung auf Nahrungsmitttelallergene nicht nur über den MagenDarm-Trakt, sondern auch über die Haut erfolgt. Um hier mit der Vorbeugung anzusetzen bzw. die Sensibilisierung zu vermeiden, liegt es nahe, die Hautbarriere so gut wie möglich zu unterstützen, um das Eindringen von Allergenen zu verhindern. Praktisch heisst das, Babys häufig einzucremen. Das hat zunächst bei Kindern mit allergischen Ekzemen funktioniert. Doch eine Cochrane-Analyse zeigte, dass allzu viel ungesund ist: Wenn Kinder täglich mit Emollienzien eingecremt werden, ist paradoxerweise ihr transdermaler Wasserverlust über die Haut grösser als bei Kindern, die weniger oft eingecremt werden. Entsprechend häufiger entwickeln Babys mit intensivierter Hautpflege eine atopische Dermatitis.
22 CongressSelection Pneumologie Allergologie | August 2022
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In anderen Studien wurde untersucht, ob eine häufige Hautpflege mit Feuchtigkeitscremes die Sensibilisierung auf Nahrungsmittelallergene verhindern kann. Auch hier erbrachte der Vergleich von häufigem Feuchtigkeitscreme-Gebrauch mit Standardhautpflege keinen wirklichen Nutzen. Im Gegenteil: Nach Angaben der Eltern hatte sich die Zahl der Sofortreaktionen auf ein Nahrungsmittelallergen im Alter von 2 Jahren leicht erhöht. Auch die Zahl der Sensibilisierungen war laut Arzturteil bei der Intensivhautpflege eher grösser (3, 4).
Diagnostik
Haben alle Präventionsmassnahmen nichts genützt und zeigen die Kinder Symptome, was ja nicht immer gleich eine anaphylaktische Reaktion sein muss, setzt die klassische Diagnostik ein: ausführliche Anamnese zur Identifikation verdächtiger Allergene, IgE-Bestimmung und Haut-Prick-Test, gegebenenfalls eine entsprechende Auslassdiät. In der Regel ist aber doch ein Provokationstest erforderlich. Derzeit wird noch untersucht, ob dieser Expositionstest offen oder unter doppelblinden, plazebokontrollierten Bedingungen stattfinden sollte. Allerdings sei Letzteres nur in spezialisierten Zentren zu leisten, schränkte Fuchs ein.
Pathophysiologie fördert Therapieforschung
Nicht nur bei der Diagnostik, sondern auch bei der Therapie wird mit Hochdruck geforscht. Das Verständnis der Pathophysiologie von Nahrungsmittelallergien hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Lokale Gewebefaktoren, einschliesslich der Zusammensetzung der Mikrobiota von Haut und Magen-Darm-Trakt und der Produktion von TH2-induzierenden Zytokinen (TSLP, IL-33 und IL-25) an den Barrierestellen, trügen nachweislich zur Entstehung von Lebensmittelallergien bei, wie Fuchs erläuterte. Auch die Beteiligung von IL-13 zur Induktion von hoch affinem IgE und die Rolle der T-Zellen bei der Aufrechterhaltung von langlebigem IgE werden zunehmend verstanden. Damit sind Biologika, die sowohl auf IL-4 als auch auf IL-13 abzielen, wie sie bereits bei atopischer Dermatitis erfolgreich eingesetzt werden, bei der Behandlung von etablierten Nahrungsmittelallergien vielversprechende Therapieoptionen. Verschiedene Formen der Allergen-Immuntherapie bei Nahrungsmittelallergien haben eindeutig gezeigt, dass niedriges spezifisches IgE und erhöhtes spezifisches IgG4 für einen nachhaltigen Behandlungseffekt prädiktiv sind. Behandlungen, die diese Immunreaktion nachahmten, z. B. die Senkung von IgE mit monoklonalen Antikörpern wie Omalizumab oder die Verabreichung von allergenspezifischem IgG,
befänden sich in verschiedenen Stadien der Forschung, so Fuchs (5).
Heutige Therapieoptionen
Doch diese Optionen sind vorläufig noch Zukunftsmusik.
Eine Therapieoption ist allerdings in Reichweite: die orale
Immuntherapie bei Erdnussallergie. Nicht nur in den USA
sind Erdnüsse der Hauptauslöser für Nahrungsmittel-
allergien, auch in Europa lässt sich heute bei 8,5 Prozent der
Kinder von 0 bis 17 Jahren eine IgE-Sensibilisierung gegen
Erdnussallergene nachweisen.
Die wichtigste Massnahme – nicht nur bei Erdnussallergie –
ist die Allergenkarenz. In der Praxis ist das jedoch nicht so
einfach: Gerade Kinder können nicht abschätzen, ob sich in
Kuchen oder Süssigkeiten doch Erdnussspuren verbergen.
Die Konsequenz ist beispielsweise, dass Eltern aus Angst vor
einer anaphylaktischen Reaktion ihre Kinder keine Kinder-
geburtstage besuchen lassen.
Diese Angst kann nun abgemildert werden – mit einer oralen
Immuntherapie (OIT) für Erdnussallergiker. Die Patienten
werden mit definierten Allergenmengen sukzessiv an das
Allergen gewöhnt. Nach 1 Jahr tolerierte etwa die Hälfte der
Patienten eine Allergenmenge von 1000 mg, was etwa 3 bis
4 Erdnüssen entspricht. Eine Tüte Erdnussflips können die
Patienten zwar immer noch nicht essen, aber sie brauchen
keine Angst mehr vor Erdnussspuren zu haben (6).
Das Erdnussallergen-Präparat ist unter dem Namen Palforzia®
in der Schweiz bereits zugelassen und seit Kurzem auf dem
Markt verfügbar.
s
Angelika Ramm-Fischer
Quelle: Allergy and Immunology Update (AIU) 2022, 28.–29. Januar 2022, online
Referenzen: 1. Halken S et al.: EAACI guideline: Preventing the development of
food allergy in infants and young children (2020 update), Paediatric Allergy and Immunlogy. 2021;32(5):805-1132. 2. Perkin M et al.: Efficacy of the Enquiring About Tolerance (EAT) study among infants at high risk of developing food allergy. Food allergy and gastrointestinal disease. 2019;144(6):1606-1614.e2. 3. Kelleher MM et al.: Skin care interventions in infants for preventing eczema and food allergy. Cochrane Database of Systematic Reviews. 2021, Issue 2. Art. No.: CD013534. 4. Perkin MR et al.: EAT Study Team. Association of frequent moisturizer use in early infancy with the development of food allergy. J Allergy Clin Immunol. 2021;147(3):967-976.e1. 5. Ramsey N et al.: Pathogenesis of IgE-mediated food allergy and implications for future immunotherapeutics. Paediatric Allergy and Immunlogy. 2021;32(7):1416-1425. 6. Vickery BP et al, PALISADE Group of Clinical Investigators: AR101 oral immunotherapy for peanut allergy. N Engl J Med. 2018;379(21):1991-2001.
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