Transkript
EASD
Diabetisches Fusssyndrom
Fussinspektion in 3 Minuten
Jeder 7. Patient mit Diabetes entwickelt ein diabetisches Fussulkus, dessen Komplikationen zu einer Amputation führen können. Beides ist vermeidbar, wenn die Inspektion der Füsse regelmässig erfolgt und der Patient weiss, worauf er täglich achten soll. Das brauche nicht viel ärztliche Zeit, war am virtuellen Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) zu vernehmen. 3 Minuten seien dafür ausreichend.
Ein wichtiges Thema jenseits der medikamentösen Diabetestherapie sind die Fussprobleme von Diabetespatienten. Mit zunehmender Erkrankungsdauer und steigendem Komplikationsgrad nimmt auch die Wahrscheinlichkeit für Fussulzera zu: 1 von 7 Diabetespatienten entwickle ein diabetisches Fussulkus, die jährliche Inzidenz dafür liege weltweit bei 9 bis 26 Millionen, berichtet Dr. Kristien van Acker, MédecinChef Centre de Santé des Fagnes, Hôpital de Chimay (B). Das Risiko für eine Amputation ist bei Patienten mit Diabeteserkrankung 10- bis 20-mal höher als bei Patienten ohne Diabetes. Neben dem persönlichen Leid, das eine Fussamputation mit sich bringt, sinkt auch die Lebenserwartung drastisch: Fast ein Viertel der Patienten stirbt nach einer Fussamputation innerhalb von 30 Tagen, nahezu die Hälfte innert Jahresfrist und bis zu 80 Prozent im Lauf von 5 Jahren. Die 5-Jahres-Überlebensrate ist damit tiefer als jene von Krebspatienten, was einen Hinweis auf die Gebrechlichkeit dieser Patienten liefert (1). Die Fussamputation ist aber eine vermeidbare Komplikation. Dazu benötigen Fussulzera auch nach ihrer Abheilung kontinuierliche Aufmerksamkeit. Einer Metaanalyse zufolge beträgt die Rezidivrate in Europa 25 Prozent pro Patientenjahr (2).
einer Studie mit Patienten mit peripherer arterieller Erkrankung reduzierte die Kombination aus ASS (1 × 100 mg) und Rivaroxaban (2 × 5 mg) bei einer Behandlung von 21 Monaten das Risiko für Komplikationen der unteren Extremitäten inklusive Amputationen um 46 Prozent (3).
In 3 Minuten einer Amputation vorbeugen
Aber das Wichtigste in der Prävention ist nach Ansicht des Referenten die periodische Fussuntersuchung beim Hausarzt. Diese nehme nur 3 Minuten in Anspruch und sei deshalb praktikabel. In der 1. Minute erfolgt durch gezielte Fragen die Einschätzung der Situation, in der 2. Minute wird der Fuss einer dermatologischen, neurologischen, muskuloskelettalen und vaskulären Inspektion unterzogen. In der 3. Minute werden Ratschläge zu Fusspflege und Schuhwerk erteilt (Kasten) (4).
Risiko vermindern
Die Gefahr für ein diabetisches Fusssyndrom kann durch frühe Intervention und die Reduktion von Risikofaktoren verringert werden. Zu intrinsischen Risikofaktoren gehören beispielsweise diabetische Neuropathie, Ischämie, schlechte Blutzuckerkontrolle, Hyperlipidämie, chronische Nierenerkrankung, Hyperkoagulabilität und die Krankheitsdauer. Extrinsische Riskofaktoren seien unter anderem schlecht sitzende Schuhe, Fussverletzungen von Hitze, Kälte, Schnitten (z. B. beim Nägelschneiden), Malnutrition und Rauchen, so Prof. Edward Jude, Tameside Hospital NHS, University of Manchester (GB). Als Risikofaktoren für eine Amputation gelten eine späte Überweisung und die zu seltene Nutzung von Orthesen. Eine adäquate Prävention bei Diabetespatienten besteht somit laut Jude aus einer guten Kontrolle von Blutzucker, Blutdruck, Lipiden und einer Plättchenhemmung mit Acetylsalicylsäure (ASS) und/oder direkten Antikoagulanzien. In
16 CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | Dezember 2021
Foto: Yolanda Massey/Flickr.com
EASD
Kasten:
3-Minuten-Fusstest
Was ist zu fragen? (1 Minute) Anamnese: • vormalige Bein-/Fussulzera oder Amputationen? • vormalige Angioplastie, Stent, Bypass? • Wunden mit > 3 Wochen Heilungsdauer? • Rauchen? • Diabetes? (wenn ja, aktuelle Blutzuckerwerte)
Was ist zu untersuchen? (1 Minute) Dermatologisch: • verfärbte, eingewachsene oder zu lange Nägel? • Zeichen für Pilzinfekt? • verfärbte und/oder hypertophierte Hautläsionen, Kalli oder
Hühneraugen? • offene Wunden oder Fissuren? • interdigitale Mazerationen?
Neurologisch: • empfindlich auf den Ipswich-Touch-Test mit Monofilament?
Was ist zu empfehlen? (1 Minute) Tägliche Fusspflege: • beide Füsse anschauen, inklusive Sohle und Zehenzwischen-
räume, entweder selbst oder durch Familienangehörige • Füsse durch regelmässigen Schuh- und Sockenwechsel trocken
halten, Füsse nach dem Duschen oder Baden abtrocknen • neu aufgetretene Läsionen, Verfärbungen oder Schwellungen
dem Arzt melden
Quelle: mod. nach (4)
Beschwerden: • Brennen oder Kribbeln in Beinen oder Füssen? • Schmerzen in Beinen oder Füssen bei Aktivität oder in Ruhe? • veränderte Hautfarbe, Hautläsionen? • Gefühlsverlust in den unteren Extremitäten? • regelmässige podologische Behandlungen?
Muskuloskelettal: • volle Beweglichkeit der Gelenke? • Deformitäten? Seit wann? • heisser, roter oder entzündeter Mittelfuss?
Vaskulär: • Haarbewuchs auf dem Fussrücken oder Oberschenkel vermin-
dert? • Fusspulse an A. dorsalis pedis und A. tibialis posterior palpabel? • Temperaturunterschied zwischen Wade und Fuss oder zwischen
rechtem und linkem Fuss?
Schuhe: • nicht barfuss gehen, auch drinnen (Verletzungsgefahr) • in der Grösse passende, bequeme Schuhe tragen, die nirgends
drücken oder scheuern • Schuhe mindestens einmal jährlich ersetzen
Gesundheit: • Rauchstopp • gute Blutzuckerkontrolle
Bei einer normalen plantaren Empfindung ist das Risiko für
ein diabetisches Fusssyndrom tief. Ein mittelgrosses Risiko
besteht, wenn die plantare Empfindung gestört ist. Liegen
gleichzeitig ein hoher Blutdruck, schlechte Durchblutung,
Fussdeformitäten oder Nagelpilz vor, spricht die internatio-
nale Diabetesgesellschaft (IDF) von einem hohen Risiko (5).
Ein sehr hohes Risiko hat der Patient dagegen nach Ulzera-
tionen, Amputationen oder neuropathischen Frakturen.
Ist das Fussulkus infiziert, sollte laut Jude schnell gehandelt
werden. Flüssigkeitsersatz, Kontrolle der Nierenfunktion
und der Elektrolyte, Antibiose und engmaschige Blutzucker-
kontrolle sind als Sofortmassnahmen innerhalb der ersten
4 Stunden angezeigt. Eine Blutkultur sollte angelegt und die
Antibiose etwa 2 Wochen fortgeführt werden. Innerhalb von
2 Tagen (2. Phase) erfolgt je nach Notwendigkeit ein chir-
urgisches Débridement und eine weitere Korrektur des Blut-
zuckers. Revaskularisierung, Wundheilung und -rekonstruk-
tion zusammen mit der Optimierung des diabetischen Ma-
nagements und der kardiovaskulären Risikofaktoren sind
dann die Ziele in der 3. Phase (6).
s
Quelle: «Diabetic Footulcer». Jahreskongress der European Association for the
Study of Diabetes (EASD), 27. September bis 1. Oktober 2021, virtuell.
Referenzen: 1. Fortington LV, Geertzen JH, van Netten JJ, Postema K, Rommers
GM, Dijkstra PU. Short and long term mortality rates after a lower limb amputation. Eur J Vasc Endovasc Surg. 2013;46(1):124131. doi:10.1016/j.ejvs.2013.03.024 2. Fu XL, Ding H, Miao WW, Mao CX, Zhan MQ, Chen HL. Global recurrence rates in diabetic foot ulcers: A systematic review and meta-analysis. Diabetes Metab Res Rev. 2019;35(6):e3160. doi:10.1002/dmrr.3160 3. Anand SS et al.: Rivaroxaban with or without aspirin in patients with stable peripheral or carotid artery disease: an international, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet. 2018;391(10117):219-229. doi:10.1016/S0140-6736(17)32409-1 4. Miller JD et al.: How to do a 3-minute diabetic foot exam. J Fam Pract. 2014;63(11):646-656. 5. IDF Clinical Practice Recommendations on the Diabetic Foot 2017. https://www.idf.org/e-library/guidelines/119-idf-clinicalpractice-recommendations-on-diabetic-foot-2017.html. Letzter Zugriff: 29.10.21 6. Morbi AHM, Shearman CP: Emergency Management of the Acute Diabetic Foot. In: Shearman CP (Ed.): Management of diabetic foot complications 2015. Springer.
Valérie Herzog
18 CongressSelection Kardiologie | Diabetologie | Dezember 2021