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Polypharmazie bei älteren Patienten
Bei OAB-Therapie Interaktionen vermeiden
Wenn ältere Menschen mit funktionellen Harninkontinenzbeschwerden in die Praxis kommen, werden sie häufig schon wegen anderer Erkrankungen behandelt. Das kann bei der Verschreibung von Medikationen zur Linderung einer überaktiven Blase zum Problem werden. Wie Arzneimittelinteraktionen erkannt und vermieden werden können, erläuterte der Facharzt für Pharmakologie, Prof. Martin Michel, Universitätsmedizin, Institut für Pharmakologie, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, am Jahreskongress der European Association of Urology (EAU).
Die Prävalenz vieler Erkrankungen nimmt mit steigendem Alter zu. Störungen beziehungsweise Erkrankungen wie überaktive Blase (overactive bladder, OAB), benigne Prostatahyperplasie, koronare Herzkrankheit, Typ-2-Diabetes oder viele Tumorarten machen sich in fortgeschrittenem Alter bemerkbar. Die meisten dieser Erkrankungen werden medikamentös behandelt. Im Durchschnitt ist ein Patient mit einer OAB etwa 60 Jahre alt. In dieser Altersklasse haben gemäss aktuellen Krankenkassendaten aus Deutschland 73 Prozent der Patienten bereits mindestens 5 medikamentöse Therapien für andere Indikationen (1), sodass Arzneimittelinteraktionen für weitere medikamentöse Behandlungen in Betracht gezogen werden müssen. Diese sind denn auch der Hauptgrund für 1,2 Prozent aller Spitalbesuche und für fast ein Drittel der Spitalbesuche infolge Nebenwirkungen. Nur gerade 6,5 Prozent der > 65-Jährigen sind noch ohne medikamentöse Verschreibungen (2).
Zwei Sorten Interaktionen
Pharmakodynamische Arzneimittelinteraktionen können aufgrund eines ähnlichen Wirkmechanismus zu einem verstärkten oder einem verminderten Effekt des verschriebenen Medikaments führen. Eine Verstärkung kann beabsichtigt sein, beispielsweise in der Behandlung von Harnwegsinfektionen oder Harnwegstumoren mit einer Kombination von mehreren Antibiotika beziehungsweise Onkologika. Kombi-
KURZ & BÜNDIG
� Eine vollständige Medikationsliste des Patienten ist wichtig zur Entdeckung und Vermeidung von Arzneimittelinteraktionen.
� Bei plötzlichen Veränderungen von Wirksamkeit oder Verträglichkeit eines Medikaments muss an eine Interaktion gedacht werden.
� Vor Absetzen eines Medikaments sollte Rücksprache mit den anderen verschreibenden Ärzten genommen werden.
nationen können sich aber auch gegenseitig in der Wirkung behindern. Werden beispielsweise Acetylcholinesterasehemmer als Antidementivum eingesetzt, kann es zu einer Verstärkung der Harnblasenüberaktivität kommen und damit den Effekt einer anticholinergen OAB-Therapie limitieren. Zu pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen kommt es, wenn eine Substanz Absorption, Distribution, Metabolismus oder Exkretion einer anderen Substanz beeinflusst. Die häufigste Form betrifft die Metabolisierung über die Enzyme des Zytochrom-P450-Systems, die durch gewisse Substanzen induziert oder inhibiert werden können. Als Beispiel dafür nannte der Experte Carbamazepin, das CYP3A4 induziert, welches seinerseits das Immunsuppressivum Ciclosporin verstoffwechselt. Das kann bei gleichzeitigem Gebrauch zu gefährlichen Unterdosierungen von Ciclosporin und bis zum Verlust eines transplantierten Organs führen.
Wissenswertes zu Antimuskarinika
Hauptpfeiler der OAB-Therapie sind Antimuskarinika. Sie können zu Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit und Verstopfung führen und je nach Präparat auch zu kognitiven Einbussen (3). Das Risiko für Nebenwirkungen steigt zusätzlich mit der Anzahl gleichzeitig verschriebener Medikationen mit anticholinergem Effekt. Das könnten Analgetika, Antiarrhythmika, Antiemetika, Antihistaminika, Antihypertensiva, Anti-Parkinson-Mittel, Brochodilatatoren, Ulkusmedikamente, viele Antidepressiva oder Antipsychotika sein, so der Referent. Bis auf Trospium werden alle Antimuskarinika über CYP2D6 und/oder CYP3A4 metabolisiert. Eine gleichzeitige Verwendung von Substanzen, die diese Enzyme hemmen, kann die Antimuskarinikum-Exposition demnach verstärken. Die Plasmakonzentration von Darifenacin beispielsweise kann bei gleichzeitiger Verabreichung eines potenten CYP3A4Hemmers wie Ketoconazol bis 10-fach ansteigen (4). Zu den CYP2D6-Hemmern gehören beispielsweise antivirale Proteaseinhibitoren wie Indinavir oder auch SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin oder Paroxetin. Potente CYP3A4-Hemmer sind beispielsweise AzolAntimykotika, Makrolidantibiotika, Proteasehemmer, ein-
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Tabelle 1:
CYP2D6- oder CYP3A4-Hemmer (Auswahl)
Substanz
CYP2D6
CYP3A4
Antiinfektiva Ketoconazol –
+++
Itraconazol –
+++
Erythromycin –
++
Clarithromycin –
++
Indinavir ++ +++
Ritonavir ++ +++
Antidepressiva Fluoxetin
+++
+
Paroxetin +++ +
Nahrungsmittel Grapefruitsaft –
++
Quelle: M. Michel, EAU 2021
Tipps zur Vorbeugung von Interaktionen
Um Interaktionen einerseits zu vermeiden, ist es wichtig, die Übersicht über alle verschriebenen Medikamente zu haben. Das hilft andererseits, die Ursache zu erkennen, wenn sich Wirksamkeiten oder Verträglichkeiten von Medikamenten plötzlich verändern. Das grösste Risiko für klinisch relevante Interaktionen bei OAB-Therapien besteht bei Antimuskarinika: pharmakodynamische bei der ganzen Substanzklasse, pharmakokinetische je nach Substanz. Bei Verdacht auf eine Arzneimittelinteraktion kann es hilfreich sein, das Antimuskarinikum gegen ein anderes auszutauschen, das weniger stark reagiert (Tabelle 1). Bei einer pharmakodynamischen Interaktion sollte jedoch ein Wechsel zu einem Beta-3-Mimetikum erwogen werden, da ein Austausch innerhalb der Antimuskarinikaklasse in diesem Fall nichts bringe, so der Experte. Löst der Substanzwechsel das Problem nicht, sollte ein Stopp des interagierenden Medikaments in Absprache mit dem verschreibenden Arzt erwogen werden.
zelne SSRI und Grapefruitsaft (Tabelle 1). Bei Verwendung einer solchen Substanz muss die Dosis des Antimuskarinikums entsprechend reduziert werden (Tabelle 2).
Beta-3-Mimetika
Im Gegensatz zu Antimuskarinika hat der als einziger zugelassene Beta-3-Rezeptor-Agonist Mirabegron kein klinisch relevantes pharmakodynamisches Interaktionspotenzial. Eine gleichzeitige Verwendung von potenten CYP3A4-Hemmern kann zwar die Mirabegronexposition erhöhen, doch stellt das bei nierengesunden Patienten laut Michel kein klinisch relevantes Problem dar. Sei die Nierenfunktion jedoch eingeschränkt (eGFR [geschätzte glomeruläre Filtrationsrate] 89–30 ml/min/1,73m2), sollte die Mirabegrondosis bei gleichzeitiger Anwendung eines potenten CYP3A4-Hemmers auf 25 mg limitiert werden, so der Referent weiter.
Valérie Herzog
Quelle: «Plenary session 2». Jahreskongress der European Association of Urology (EAU), 8. bis 12. Juli, virtuell.
Referenzen: 1. Dechanont S et al.: Hospital admissions/visits associated with
drug-drug interactions: a systematic review and meta-analysis. Pharmacoepidemiol Drug Saf. 2014;23(5):489-497. doi:10.1002/ pds.3592 2. Selke Krulichová I et al.: Trends and patterns in EU(7)-PIM prescribing to elderly patients in Germany. Eur J Clin Pharmacol. 2021;10.1007/s00228-021-03148-3. doi:10.1007/s00228-021-03148-3 3. Gray SL et al.: Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia: a prospective cohort study. JAMA Intern Med. 2015;175(3):401-407. doi:10.1001/jamainternmed.2014.7663 4. Skerjanec A: The clinical pharmacokinetics of darifenacin. ClinPharmacokinet.2006;45(4):325-350.doi:10.2165/00003088200645040-00001
Tabelle 2:
Dosisanpassung von Antimuskarinika bei gleichzeitig verwendeten CYP3A4- und/oder CYP2D6-Hemmern
Substanz Darifenacin (7,5/15 mg)
Fesoterodin (4/8 mg)
Oxybutynin (5–30 mg) Propiverin (5/15/30/45 mg)
Solifenacin (5/10 mg) Tolterodin (1/2/4 mg) Trospium (40 mg)
Quelle: M. Michel, EAU 2021
Komedikation
Konsequenz
CYP2D6-Hemmer
moderate CYP3A4-Hemmer potente CYP3A4-Hemmer
Startdosis 7,5 mg; titrieren auf 15 mg, sofern verträglich Startdosis 7,5 mg nicht anwenden
CYP2D6-Hemmer potente CYP3A4-Hemmer
Startdosis 4 mg Maximaldosis 4 mg
potente und moderate CYP3A4-Hemmer Vorsicht
potente CYP3A4-Hemmer
nur In-vitro-Daten mit Hinweis auf mögliche Interaktionen
potente CYP3A4-Hemmer
Maximaldosis 5 mg
potente CYP3A4-Hemmer
Maximaldosis 2 × 1 mg IR oder 2 mg ER
keine pharmakokinetischen Interaktionen
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