Transkript
SGAIM
Kopfschmerzen
Denken Sie an die Migräne!
Bei Patienten, die wegen ihrer Kopfschmerzen den Weg bis in die Hausarztpraxis finden, lohnt es sich, genauer nachzufragen. Denn oft entpuppt sich als Migräne, was zunächst wie ein Spannungskopfschmerz ausgesehen hat. Das habe Konsequenzen für die Therapiewahl, wie Prof. Peter Sandor, Ärztlicher Direktor Neurologie, Zurzach Care, am virtuellen Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) erklärte.
Eine 32-jährige Anwältin leidet seit ihrem 25. Altersjahr an Kopfschmerzen. Diese werden durch Stress, meist beruflicher Art, ausgelöst und treten etwa zweimal pro Monat holozephal während 4 bis 5 Stunden auf. Die Kopfschmerzen sind von mittelstarker Intensität, ohne begleitende Foto- und Phonophobie, lediglich von einem Unwohlsein begleitet, das beim Treppensteigen schlimmer wird. Die Remission ist spontan. Was im ersten Augenblick wie ein Kopfschmerz vom Spannungstyp aussehen mag, entspricht in Wirklichkeit der Definition der International Classification of Headache Disorders von 2018 (ICHD-3) (siehe QR-Link) der Migräne ohne Aura (Kasten) (1), so Sandor. Migräne ohne Aura ist eine der wichtigsten Entitäten im Bereich Kopfschmerz, weil diese primäre Kopfschmerzerkrankung sehr häufig ist (10% Männer, 20% Frauen) und die Beeinträchtigung so stark ist, dass die Betroffenen einen Arzt aufsuchen. Die Diagnose der Migräne eröffnet eine ganz andere Therapie, als wenn die Kopfschmerzen als solche vom Spannungstyp taxiert worden wären. Eine korrekte Diagnose lohnte sich also, betont Sandor. Typischer zeigt sich die Migräne beispielsweise bei Patienten mit meist starken, periorbitalen Migränekopfschmerzen an mehr als 8 Tagen pro Monat, mit ausgeprägter Foto- und
MERKSÄTZE
� Beeinträchtigende Kopfschmerzen erfüllen nicht selten die Kriterien einer Migräne.
� CGRP-Antikörper sind eine wirksame und nebenwirkungsarme Prophylaxe.
� Externe trigeminale Neurostimulation eignet sich zur prophylaktischen wie auch zur Akuttherapie der Migräne.
Phonophobie, deren Kopfschmerzen mindestens 4 Stunden andauern und schlecht auf die Akuttherapie ansprechen.
Neue Prophylaxemöglichkeiten bei Migräne
Ob eine Therapie mit den neuen CGRP-Antikörpern Galcanezumab, Fremanezumab und Erenumab eine mögliche Option darstellt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Diese Antikörper sind eine mittlerweile etablierte Prophylaxe, sie reduzierten in den Zulassungstudien ungefähr bei der Hälfte der Patienten die Migränetage um etwa 50 Prozent, in praxi scheine die Wirksamkeit jedoch höher zu sein, so Sandor. Sie werden einmal monatlich subkutan appliziert, sind sehr gut verträglich, aber auch sehr teuer. Die Verschreibung bedarf einer Kostengutsprache der Krankenkasse, die aber vorläufig nur von Neurologen eingeholt werden kann. Eine der Voraussetzungen für eine Übernahme ist die lückenlose Dokumentation der Kopfschmerzen während der letzten 3 Monate. Eine Kostengutsprache wird für 12 Monate erteilt, eine anschliessende Therapiepause von 6 Monaten ist zwingend und für die Patienten häufig eine grosse Herausforderung. Die weitere Betreuung der Patienten erfolge durch die Hausärzte, allerdings müssten die von den Krankenkassen verlangten Kontrollen beim Neurologen durchgeführt werden, wie Sandor berichtet. Als nicht pharmakologische Therapie eignet sich die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die beispielsweise mit portablen Geräten wie dem supraorbitalen transkutanen Stimulator Cefaly® durchgeführt werden kann. Das Gerät interferiert mit dem Nervus trigeminus und moduliert die Schmerzverarbeitung im trigeminovaskulären System im Kopf und im oberen Nackenbereich. Die Patienten schätzten dieses System der externen trigeminalen Neurostimulation, weil es selbstwirksam sei und als Nebenwirkung höchstens eine entspannende Wirkung habe, wie Sandor aus seiner Erfahrung berichtet. Diese TENS-Form wird 20 Minuten pro Tag als Prophylaxe angewendet. Eine doppelblind randomisierte Sham-kontrollierte Studie mit 67 Migränepatienten zeigte in der Verumgruppe nach 3 Monaten einen signifikan-
18 CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | Hausarztmedizin | September 2021
SGAIM
ten Rückgang der Migränetage, der Kopfschmerztage sowie
der Einnahme von Anfallsmedikamenten, während in der
Kontrollgruppe diese Parameter unverändert blieben. Ne-
benwirkungen traten keine auf (2).
Die trigeminale Neurostimulation scheint aber auch im Mi-
gräneanfall schmerzlindernd zu wirken, wie eine Studie mit
106 Patienten zeigte. Darin reduzierte die TENS nach ein-
stündiger Applikation während eines Migräneanfalls im Ver-
gleich zur Kontrollgruppe mit Sham-Anwendung die Schmer-
zen, gemessen mit der visuellen Analogskala, signifikant (–59
vs. –30%). Auch in dieser Studie traten keine Nebenwirkun-
gen auf (3).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Migräne – was ist neu?», Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 19. bis 21. Mai 2021, virtuell.
Referenzen: 3. Chou DE et al.: Acute migraine therapy with external trigeminal
neurostimulation (ACME): A randomized controlled trial. Cephalalgia. 2019;39(1):3-14.
Kasten:
Migräne ohne Aura (ICHD-3)
A. Mindestens 5 Attacken, die die Kriterien B–D erfüllen: B. Kopfschmerzdauer 4–72 Stunden (unbehandelt oder
erfolglos behandelt) C. Kopfschmerz mindestens ≥ 2 der folgenden Kriterien: a. unilateral b. pulsierend c. moderate bis starke Schmerzintensität d. Verschlimmerung bei Alltagsaktivitäten
(z. B. Gehen, Treppensteigen) D. Während des Kopfschmerzes ≥ 1 Kriterium: a. Nausea und/oder Erbrechen b. Foto- und Phonophobie
Internationale Klassifikation der Kopfschmerzstörungen (ICHD-3)
www.rosenfluh.ch/qr/ichd
CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | Hausarztmedizin | September 2021
19