Transkript
SGAIM
Hohe Harnsäurewerte
Gicht ist nicht nur lästig, sondern auch gefährlich
Mit einer adäquaten Therapie lässt sich die Gicht heilen und lassen sich Rezidive verhindern, was auch in Bezug auf die Komorbiditäten relevant ist. Das bedeutet, dass nach einer Anfallstherapie eine Langzeittherapie mit einem Harnsäurespiegelmonitoring etabliert werden muss. Was das bringt, erklärte Prof. Diego Kyburz, Chefarzt Rheumatologie im Universitätsspital Basel, am virtuellen Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM).
Gicht ist eine häufige und zunehmende Erkrankung, vor allem bei Männern, und sie ist ein altersabhängiges Phänomen. Das Problem dabei ist die Harnsäure, die als Endprodukt des Purinstoffwechsels bei erhöhten Spiegeln oberhalb der Löslichkeitsgrenze auszufällen beginnt. In der Folge lagern sich nadelförmige Harnsäurekristalle in den Gelenken ab. Diese können die Produktion von Interleukin-1b des körpereigenen Immunsystems stimulieren und die Entstehung einer akuten Entzündung fördern (1). Hauptgrund für erhöhte Harnsäurespiegel ist häufig eine Harnsäureausscheidungsstörung, jedoch können eine erhöhte Zufuhr durch purinreiche Kost wie auch eine gesteigerte endogene Purinproduktion auch zu hohen Spiegeln beitragen. Gicht geht mit relevanten Komorbiditäten einher, beispielsweise mit kardiovaskulären Erkrankungen, Nierenfunktionsstörungen und Nierensteinbildung sowie metabolischen Störungen wie Typ-2-Diabetes und Adipositas. Ausserdem erhöht sie die Gesamt- wie auch die kardiovaskuläre Mortalität (2). Ein Gichtanfall zeigt sich in der Klinik durch eine akute, in sehr kurzer Zeit aufgetretene Arthritis meist eines einzelnen Gelenks mit einer ausgeprägten Rötung und Schwellung und einer starken Berührungssensibilität. Das Vorhandensein von Tophi ist nicht zwingend. Bei akuten Attacken besteht eine systemische Entzündungsreaktion, was sich mit Fieber und
MERKSÄTZE
� Gicht fördert relevante Komorbiditäten und geht mit einer erhöhten Mortalität einher.
� Der Harnsäurezielwert bei Gichtpatienten liegt bei ≤ 360 µmol/l, bei Tophi ≤ 300 µmol/l.
� Eine Langzeittherapie mit regelmässigem Harnsäuremonitoring und Anpassung der Behandlung verbessert das Outcome.
� Eine korrekt durchgeführte Prophylaxe kann weitere Gichtschübe verhindern.
erhöhten CRP-Werten äussern kann. Die Diagnose kann über die Klinik gestellt werden, die Bestätigung der Gichtdiagnose liefert der Kristallnachweis mittels Ergusspunktion im akut entzündeten Gelenk. Mit der Bildgebung kann dann noch spezifischer diagnostiziert werden: Während auf einer Röntgenaufnahme Knochenerosionen am Ort der Tophi sichtbar werden, können auf einem Dual-Energy-Computertomogramm (DECT) auch Uratdepots ohne Vorhandensein von Tophi dargestellt werden, so Kyburz, was bei früheren Formen ohne Tophi nützlich sei.
Therapie beim akuten Anfall
Im Universitätsspital Basel wird gemäss Kyburz bei einem akuten Gichtanfall als 1. Wahl mit nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) in maximal verträglicher Dosis während 3 bis 5 Tagen behandelt: Diclofenac bis 150 mg/Tag, Ibuprofen bis 2400 mg/Tag, Indometacin bis 150 mg/Tag, Etoricoxib 60 mg/Tag, Celecoxib bis 400 mg/Tag. Protonenpumpenhemmer (PPI) können zur NSAR-Therapie zugegeben werden. Ist die Gabe von NSAR ungünstig, kommt als 2. Wahl Colchizin zum Einsatz. Die Dosierung besteht aus 1 mg sofort, 0,5 mg nach 1 Stunde, ab dem 2. Tag 2 × 0,5 mg pro Tag. Bei Niereninsuffizienz (eGFR 30–60 ml/min/1,73 m2) sowie Leberinsuffizienz (Child A/B) bedarf es einer Dosisanpassung: 1 mg am 1. Tag, 1 × 0,5 mg ab dem 2. Tag. Beim Einsatz von Colchizin ist das Interaktionspotenzial zu beachten: mit starken CYP4A4/PGP-Hemmern wie Ciclosporin, Makroliden, Azolantimykotika und Proteaseinhibitoren sowie mit schwachen CYP4A4/PGP-Hemmern wie Amiodaron und den Kalziumantagonisten Verapamil und Diltiazem. Eine gleichzeitige Therapie von Colchizin und diesen Substanzen ist deshalb zu vermeiden (3). Besteht eine Kontraindikation für Colchizin, kommen als 3. Wahl Steroide zum Zug, vorzugsweise intraartikulär. Bei Befall von mehreren Gelenken oder einer periartikulären Entzündung kann auch eine perorale Steroidtherapie durchgeführt werden. Sind, wie bei Patienten mit schweren Niereninsuffizienzen, weder die Verabreichung von NSAR noch Colchizin oder Steroide möglich, kann der Einsatz des IL-1-Hemmers Cana-
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SGAIM
Akuter Gichtanfall (Anamnese, Trigger, Klinik, Befallsmuster; Diagnose und Differenzialdiagnose)
NSAR möglich? Ja
Nein
Ja Nein
Colchizin möglich? Ja
Nein
Langzeittherapie unter Schubprophylaxe
1. Wahl NSAR: potente Medikamente in maximaler Dosierung für 3–5 Tage auswählen, Kontraindikationen und Nebenwirkungen beachten, ggf. Protonenpumpenhemmer dazugeben
2. Wahl Colchizin: Dosierung und Dosisreduktion, Interaktionen mit CYP3A4 beachten
3. Wahl Steroide: 1 Gelenk ≥ 2 Gelenke
Intraartikulär >> p.o.
p.o. << intraartikulär Quelle: mod. nach D. Kyburz/SGAIM 2021 kinumab 150 mg erwogen werden. Dieser zeigte in einer Studie im Vergleich zu Triamcinolon eine signifikant überlegene Schmerzlinderung auf der visuellen Analogskala (VAS) (25,0 vs. 35,7 mm) nach 72 Stunden. Die stärkere Wirkung hielt auch bis zum 7. Tag an (4). Harnsäuresenkung als Anfallsprophylaxe Um Rezidive zu verhindern, bedarf es bei Gichtpatienten einer prophylaktischen Harnsäuresenkung. Die Ziele dabei sind die Verhinderung der Bildung von Uratkristallen und die Auflösung von bereits bestehenden Kristalldepots und Tophi. Dafür muss die Harnsäurekonzentration unter die Löslichkeitsgrenze von 360 µmol/l und bei Vorhandensein von Tophi unter 300 µmol/l gesenkt werden. Eine korrekt durchgeführte Prophylaxe kann weitere Gichtschübe verhindern. Zur Harnsäuresenkung kann auch eine Modifikation des Speisezettels beitragen. Dabei sollte der Anteil an fruktosehaltigen Getränken, Alkohol (vor allem Bier) und purinreichen Lebensmitteln (z. B. rotes Fleisch, Innereien, Schalentiere und Hülsenfrüchte) verringert werden, das zugunsten von mehr purinsynthesesenkenden Lebensmitteln wie fettarmen Milchprodukten (Milch, Joghurt), pflanzlichem Eiweiss, Kirschen, Kaffee und Vitamin C. Eine Reduktion des Körpergewichts ist ebenfalls von Vorteil, Diäten mit hohem tierischem Proteinanteil sollten dabei allerdings vermieden werden. Das Potenzial solcher Lebensstilanpassungen liegt in einer Harnsäurespiegelsenkung von 10 bis 15 Prozent. Für eine stärkere Reduktion bedarf es einer medikamentösen Senkung. Diese ist indiziert bei Patienten mit mehr als 2 Gichtanfällen pro Jahr, bei Auftreten von Tophi und Nephrolithiasis. Bei jungen Patienten unter 40 Jahre mit hohem Harnsäurespiegel (> 480 µmol/l) und/oder Komorbiditäten sollte die Therapie jedoch bereits nach der Erstmanifestation begonnen werden. Die Schubprophylaxe soll 2 Wochen nach dem akuten Schub einsetzen. Erhöhte Harnsäurespiegel ohne vorausgegangenen Schub seien dagegen keine Indikation für eine Prophylaxe, präzisiert Kyburz.
zum Einsatz. Die initiale Dosierung beträgt 100 mg/Tag, gefolgt von eine Steigerung um 100 mg alle 2 bis 4 Wochen bis zum Erreichen der Zieldosis gemäss Harnsäurespiegel; in der Regel sind das 300 mg/Tag. Liegt der Harnsäurespiegel noch immer ≥ 360 µmol/l, kann die Allopurinoldosis auf maximal 900 mg/Tag gesteigert werden, sofern die Nierenfunktion normal ist. Bei einer Niereninsuffizienz muss die Dosis angepasst werden, ebenso bei einer gleichzeitigen Therapie mit Azathioprin und 6-Mercaptopurin. Bei ungenügender Wirkung von Allopurinol oder einer Kontraindikation kann Febuxostat eingesetzt werden. Der nicht purinbasierte Xanthinoxidasehemmer wird vorwiegend hepatisch metabolisiert und erfordert keine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz, bei schwerer Niereninsuffizienz (eGFR < 30) existieren allerdings laut Kyburz wenig Daten. Febuxostat wird in einer Dosis von 40 mg/Tag verabreicht und nach 2 bis 4 Wochen auf 80 mg/Tag gesteigert, falls der Harnsäurespiegel noch immer über 360 µmol/l liegt. Eine gleichzeitige Therapie mit Azathioprin oder 6-Mercaptopurin ist kontraindiziert, bei Leberinsuffizienz (Child C) ist Vorsicht angebracht. Die in den Zulassungsstudien aufgekommenen Bedenken, wonach Febuxostat das kardiovaskuläre Risiko erhöhen könnte, konnten nun in einer eigens für diese Fragestellung entworfenen Studie ausgeräumt werden. Die randomisierte, offene Nichtunterlegenheitsstudie FAST mit 6120 Gichtpatienten unter Allopurinol 100 bis 900 mg oder Febuxostat 80 bis 120 mg untersuchte das kardiovaskuläre Risiko während etwa 4 Jahren. Der primäre Endpunkt setzte sich dabei aus der Hospitalisierung wegen nicht tödlichen Myokardinfarkts, akuten Koronarsyndroms, nicht tödlichen Hirnschlags und kardiovaskulären Tods zusammen. Das Ergebnis habe gezeigt, dass Febuxostat bezüglich des primären Endpunkts Allopurinol nicht unterlegen sei und eine Langzeitanwendung im Vergleich zu Allopurinol zu keiner Erhöhung des Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse führe (6), so Kyburz. Vorgehen konkret Gemäss den Empfehlungen der European League Against Rheumatism (EULAR) (5) kommt als 1. Wahl Allopurinol Gicht ist eigentlich heilbar Bei einer adäquaten Harnsäuresenkung unter die Löslichkeitsgrenze ist Gicht heilbar, und es können weitere Gicht- 16 CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | Hausarztmedizin | September 2021 SGAIM schübe verhindert werden. Viele Patienten sind jedoch ungenügend eingestellt, was auch an der tiefen Therapieadhärenz liegt. Deshalb sind Patienteninformation, -schulung und -begleitung entscheidend, wie eine Studie zeigte. In dieser Untersuchung erhielten 517 Gichtpatienten mit Harnsäurespiegeln um 440 µmol/l entweder die übliche Routinebehandlung durch den Hausarzt plus eine Informationsbroschüre oder sie wurden durch eine Pflegefachperson über ihre Erkrankung und Behandlung informiert und regelmässig besucht, mit anfänglich monatlicher Messung der Harnsäurespiegel in den ersten 6 Monaten, dann etwa alle 2 bis 3 Monate. Nach dem ersten wie auch nach dem zweiten Jahr zeigte sich, dass die Harnsäurespiegel in der Hausarztgruppe mit jährlicher Messung nicht gesunken waren, während sie in der betreuten Gruppe bereits nach 2 Monaten auf < 360 µmol/l gefallen waren und ab dem 3. Monat bis zu Studienende auf < 300 µmol/l blieben. Zudem traten in der begleiteten Gruppe nach 2 Jahren weniger Rezidive und weniger Tophi auf. Alle Unterschiede waren signifikant. Trotz Mehraufwand fielen die Kosten in der Betreuungsgruppe tiefer aus, wie ein weiterer Endpunkt der Studie ergab (7). Ein intensives Harnsäuremonitoring mit Treat-to-target-Strategie lohne sich somit für den Patienten mit Gicht auch in Bezug auf die Komorbiditäten, so Kyburz. Eine erfolgreiche Harnsäuresenkung bestehe demnach aus der Etablierung einer Langzeittherapie, aus einer regelmässigen Messung der Harnsäure bis zum Erreichen des Zielbe- reichs und einer daraus folgenden Therapieanpassung, fasste Kyburz abschliessend zusammen. s Valérie Herzog Quelle: «Gicht – was ist neu?», Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 19. bis 21. Mai 2021, virtuell. Referenzen: 1. Terkeltaub R: Update on gout: new therapeutic strategies and options. Nat Rev Rheumatol. 2010;6(1):30-38. 2. Richette P et al.: Improving cardiovascular and renal outcomes in gout: what should we target? Nat Rev Rheumatol. 2014;10(11):654661. 3. Ankli B, Krähenbühl S: Therapie der Gicht (Gout management: an update). Ther Umsch. 2016;73(3):115-124. 4. Schlesinger N et al.: Canakinumab for acute gouty arthritis in patients with limited treatment options: results from two randomised, multicentre, active-controlled, double-blind trials and their initial extensions. Ann Rheum Dis. 2012;71(11):1839-1848. 5. Richette P et al.: 2016 updated EULAR evidence-based recommendations for the management of gout. Ann Rheum Dis. 2017;76(1):29-42. 6. Mackenzie IS et al.: Long-term cardiovascular safety of febuxostat compared with allopurinol in patients with gout (FAST): a multicentre, prospective, randomised, open-label, non-inferiority trial. Lancet. 2020;396(10264):1745-1757. 7. Doherty M et al.: Efficacy and cost-effectiveness of nurse-led care involving education and engagement of patients and a treat-to-target urate-lowering strategy versus usual care for gout: a randomised controlled trial. Lancet. 2018;392(10156):14031412. CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | Hausarztmedizin | September 2021 17