Transkript
SGR
Gicht und Hyperurikämie
Wie können die Therapieziele erreicht werden?
Der westliche Lebensstil mit protein- und zuckerreicher Ernährung fördert die Gicht. Entscheidend sind trotzdem genetische Prädispositionen. Kommt es zu Gichtattacken, solle möglichst früh behandelt werden, erklärte an der semi-virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) in Interlaken Frédéric Lioté aus Paris.
Gicht ist weltweit die häufigste Form der inflammatorischen Arthritis – Tendenz steigend. So hat sich deren Prävalenz in Grossbritannien von 1,52 Prozent im Jahr 1997 auf 2,49 Prozent im Jahr 2012 erhöht, in den USA von 2,7 Prozent Anfang der neunziger Jahre auf 3,9 Prozent im Jahr 2008, berichtete Lioté: «Vor 30 Jahren war Gicht in China unbekannt, heute sind dort 1,1 Prozent der Bevölkerung betroffen». Dies entspricht in etwa den Werten aus Frankreich (0,9%), ebenso wie der Schweiz: Gemäss einer aktuellen retrospektiven Beobachtungsstudie des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich und des Universitätsspitals Zürich liegt die Prävalenz für Gicht hierzulande bei 1,0 Prozent und für Hyperurikämie bei 1,2 Prozent (1). In die Analyse wurden die Daten von 15 808 Patienten aus 242 Schweizer Hausarztpraxen eingebunden. Allerdings, so die Autoren, seien vor allem die Häufigkeiten der Hyperurikämie wohl zu niedrig geschätzt, was durch das Fehlen eines systematischen Screenings in dieser «Real-world»-Population erklärt werden könne.
Gene und Ernährung
Heute ist hinlänglich bekannt, dass neben genetischen Faktoren auch die Ernährung eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Gicht spielt. So haben sich heute Länder wie China den westlichen Ernährungsgewohnheiten mit einem deutlich höheren Protein-, Lipid und Fruktosekonsum angepasst. Eine neuere Studie mit den Daten von 16 700 europäischstämmigen Teilnehmern brachte jedoch überraschende Ergebnisse: Einerseits würden Bier, Wein, Kartoffeln, Softdrinks und Fleisch (Rind, Schwein, Schaf) zur Erhöhung der Harnsäurespiegel beitragen. Andererseits würde die Ernährung insgesamt jedoch nur zu 0,3 Prozent die Varianz der Harnsäurelevel erklären; sehr viel bedeutender seien mit 24 Prozent die genetischen Unterschiede der Menschen (2).
Beteiligung der Nieren
Ein altes, aber gemäss den Worten des französischen Rheumatologen «vergessenes» Problem der Gicht ist die Ablagerung von Harnsäurekristallen in der Niere. In einer neuen Studie wurden die Ultraschallergebnisse von 502 unbehandelten Gichtpatienten aus Vietnam und 10 aus Frankreich mit 502 nicht betroffenen Kontrollpersonen verglichen (3). Es zeigte sich bei 36 Prozent der Gichtpatienten ein hyper-
echogenes Muster in den Nieren, im gesunden Kontrollarm traten bei keinem Probanden solche stark reflektierenden Strukturen auf. Sie waren signifikant assoziiert mit der Krankheitsdauer, klinischen Tophi, Harnsäure-Arthropathie, KHK, arterieller Hypertonie, Proteinurie und abnehmender glomerulärer Filtrationsrate (eGFR). Diese Ergebnisse würden die Hypothese einer mikrokristallinen Gicht-Nephropathie wiederbeleben. Die Nephropathie könnte ein wichtiges Argument für Harnsäure-senkende Therapien (ULT) sein, so Lioté. Tatsächlich seien mit einer Allopurinol-Therapie nicht nur die Harnsäurespiegel, sondern auch der Blutdruck wieder normalisiert worden, berichtete der französische Experte (3).
57 Prozent erreichen Therapieziel
In der Deutschschweiz werden rund 96 Prozent der diagnostizierten Gichtpatienten mit Harnsäuresenkern behandelt (1). Bei 41 Prozent wurde mindestens einmal die Harnsäurekonzentration gemessen, bei 15 Prozent vor und nach der ULT. 57,5 Prozent erreichten ihr Behandlungsziel (< 360 µmol/l) mit Allopurinol, was eine guter Wert sei, sagte Lioté. Gemäss der Literatur erlangten dies nämlich im internationalen Vergleich nur 30 bis 35 Prozent. Trotzdem blieben 43 Prozent unter ihrem Ziel. Warum werden solche Ziele nicht erreicht? Die Antwort von Lioté: Oft werde die Gicht nicht als solche erkannt, es sei keine Zeit, um sorgfältige Treat-to-targetTherapien durchzuführen, es würden keine Bluttests und keine Nachuntersuchungen durchgeführt, die Therapieziele seien nicht adäquat (nämlich < 360 µmol/l), die Allopurinoloder Febuxostat(FBX)-Startdosierungen seien zu gering, und es gäbe keine Allopurinol- oder FBX-Titration respektive keine eGFR-Wiederholungsbestimmungen.
So früh wie möglich dagegenhalten
Gemäss den französischen Empfehlungen zur Behandlung der Gicht sind für den Erfolg solcher Massnahmen Information und Edukation der Patienten essenziell. Ziel einer Therapie soll die langfristige Reduktion der Harnsäurekristalle, eine vollständige Auflösung der angereicherten Kristalldepots und ein Verschwinden der Symptome sein (4). Natürlich wird prinzipiell zur entsprechenden Ernährungsumstellung geraten. Bei Gichtattacken sei der Schlüsselpunkt die möglichst frühzeitige Behandlung (deshalb immer eine «Pille»
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dabei haben), nämlich Colchizin in einer Startdosierung 1 mg
und eine Stunde später 0,5 mg. «In vielen Fällen ist das genug,
denn man macht aus einer schweren Attacke eine kleine Atta-
cke», sagte Lioté. Ist die Therapie mit Colchizin nicht ausrei-
chend wirksam, werden über zwei bis fünf Tage NSAR oder
Prednison (30 mg/Tag) empfohlen. Falls nötig, sind auch
IL-1-Inhibitoren möglich. Sobald die Diagnose Gicht gestellt
sei, sollte zur ULT mit einer Allopurinol-Therapie langsam
begonnen werden, «sogar nach der allerersten Attacke», be-
tonte der Rheumatologe. Die Dosierung richte sich dabei
nach der Höhe der eGFR. Der Zielwert für die Serum-Harn-
säure liegt in Frankreich bei 5 mg/dl (300 µmol/l).
s
Referenzen: 1. Meier R et al.: Gout management in Swiss primary care – a retro-
spective observational study. Swiss Med Wkly 2020; 150: w20209. 2. Major TJ et al.: Evaluation of the diet wide contribution to serum urate levels: meta-analysis of population based cohorts. BMJ 2018; 363: 3951. 3. Bardin T et al.: A cross sectional study of 502 patients found a diffuse hyperechoic kidney medulla pattern in patients with severe gout. Kidney International 2020; https://doi.org/10.1016/j. kint.2020.08.024. 4. Latourte A et al.: Recommendations from the French Society of Rheumatology for the management of gout: Management of acute flares. Joint Bone Spine 2020; 87(5): 387–393.
Klaus Duffner
Quelle: Wissenschaftliche Session «Microcrystal disorder: From uric acid crystals to bone erosion» bei der Semi-virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) am 10. September 2020 in Interlaken.
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