Transkript
ERS
Lungenkarzinom-Vorsorge
Zeit zur Implementation von Screening-Programmen
Die Evidenz ist vorhanden: Screening-Programme für Risikopopulationen können die Lungenkrebsmortalität signifikant und erheblich reduzieren. Ungeachtet verbleibender offener Fragen ist es nun an der Zeit, entsprechende Programme auch in der Praxis umzusetzen. Darin waren sich die Experten bei einer Screening-Session am ERS-Kongress 2019 einig.
Vor der Implementierung eines Screening-Programms müssen zunächst dessen Wirksamkeit, ein gutes Nutzen/Risiko-Verhältnis sowie die wirtschaftliche Effizienz nachgewiesen werden. Die NELSON-Studie habe für das Screening auf Lungenkrebs all diese Voraussetzungen erfüllt, so Prof. Harry de Koning aus Rotterdam (NL), der bereits im Rahmen der 19. World Conference on Lung Cancer (WCLC) in Toronto die Ergebnisse der NELSON-Studie erstmals präsentiert hatte (1). Nach zehn Jahren Follow-up zeigte die NELSON-Studie, dass eine Low-dose-Computertomografie (CT) zum Screening von asymptomatischen Männern mit hohem Lungenkrebsrisiko die Lungenkrebstodesfälle um 26 Prozent reduziert. In der kleineren Gruppe der teilnehmenden Frauen (16%) schwankte das relative Risiko, an einem Lungenkarzinom zu versterben, zwischen 0,39 und 0,61 in unterschiedlichen Jahren des Follow-ups. Damit dürfte die Reduktion der Lungenkrebsmortalität bei Frauen noch deutlicher ausfallen als bei Männern, wobei aufgrund der geringen Zahl an Teilnehmerinnen die Signifikanz knapp verfehlt wurde. De Koning: «NELSON war eine Studie zum Lungenkrebs-Screening in einer Population von Männern mit hohem Risiko. Um eine statistisch ebenso aussagekräftige Population von Frauen zu rekrutieren und zu screenen, fehlte uns schlicht und einfach das Geld.» NELSON war eine randomisierte, kontrollierte Studie, die ihre Probanden aus grossen populationsbasierten Kohorten rekrutierte. Verglichen wurde ein Screening in vier Runden über 10 Jahre im Abstand von 1, 2, 4 und 6,5 Jahren nach Randomisierung versus kein Screening. Einschlusskriterien waren ein Alter zwischen 50 und 74 Jahren sowie eine Raucheranamnese von mindestens 30 Pack-Years. Die Compliance in der CTScreening-Gruppe lag bei durchschnittlich 85,6 Prozent. Auch zum Zeitpunkt von de Konings Präsentation im Rahmen des ERS-Kongresses in Madrid waren die Ergebnisse der NELSON-Studie noch nicht voll publiziert, denn die Studie befindet sich gegenwärtig im Review-Prozess. Die Publikation wird sich auf einen Beobachtungszeitraum von insgesamt elf Jahren, also ein Jahr mehr als die aktuell präsentierten Daten, beziehen.
NELSON: Geringe Rate an falsch positiven Ergebnissen
Bemerkenswert an der NELSON-Studie sei, so de Koning, nicht zuletzt die geringe Rate an falsch positiven Ergebnissen. Insgesamt erhielten lediglich 2,1 Prozent der gescreenten Patienten ein positives Resultat. Bei knapp der Hälfte der positiven Screens (0,9%) handle es sich tatsächlich um Krebs, woraus sich ein positiver Prädiktionswert von 44 Prozent ergebe, so de Koning. Der CT-Scan musste wegen unklarer Ergebnisse bei 9,9 Prozent der Patienten wiederholt werden. Intervallkarzinome waren selten. De Koning: «Ungeachtet dieser relativ geringen Rate an Zuweisungen zum Pneumologen konnten wir eine deutliche Reduktion der Lungenkrebs-Mortalität erreichen. Das ist entscheidend für die Zukunft der Screening-Programme. Diese im Vergleich zu älteren Screening-Studien sehr niedrige Rate an falsch positiven Ergebnissen sei, so de Koning, dem Protokoll von NELSON zu verdanken, das neben der Grösse etwaiger Rundherde auch deren Grössenentwicklung berücksichtigte. Insgesamt wurden bei 9,3 Prozent der Teilnehmer suspekte Rundherde gefunden. In diesem Fällen erfolgten innerhalb von zwei Monaten weitere CT-Scans zur Abschätzung der Volumenverdopplungszeit. Nur bei einem signifikanten Wachstum im Sinne einer Volumenänderung von mindestens 25 Prozent wurden die Patienten zur Biopsie zugewiesen. Damit war die Zuweisungsrate deutlich niedriger als in der US-amerikanischen Screening-Studie NLST (National Lung Screening Trial) (2). Das sei für die praktische Umsetzung von Screening-Programmen entscheidend, so de Koning, zumal eine Zuweisungsrate wie in der NLST-Studie im klinischen Alltag schwer zu bewältigen wäre. Die Reduktion der Mortalität erklärt sich aus dem Stadium der Diagnose: Während sich im Screening-Arm rund 55 Prozent der entdeckten Karzinome im resezierbaren Stadium T1A oder T1B befanden und nur etwa 12 Prozent im Stadium T4, wurde im Kontrollarm knapp die Hälfte der Karzinome erst im Stadium T4 gefunden. NELSON hat damit die Effektivität des Lungenkarzinom-Screenings bei einer gleichzeitig sehr niedrigen Rate an falsch positiven Resultaten gezeigt. Für die praktische Umset-
22 CongressSelection Allergologie/Pneumologie | Dezember 2019
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zung in nationalen Screening-Programmen befänden sich die optimalen Einschlusskriterien allerdings noch in Diskussion, wie de Koning betonte. Davon, wie weit die Kriterien gefasst werden, hängt nämlich die Zahl der zu screenenden Personen ab. Screent man Personen zwischen 60 und 80 Jahren und mit 40 Pack-Years-Raucher-Historie, bedeutet das für Europa 11,5 Millionen Screening-Kandidaten. Entscheidet man sich für die Gruppe der 55- bis 80-Jährigen mit 25 Pack-Years, kommt man bereits auf fast 30 Millionen Kandidaten. Als Strategie für den Beginn eines Screening-Programms schlägt de Koning vor, Personen zwischen 60 und 79 Jahren einmal zu fragen, ob sie jemals geraucht hätten. Wer mehr als 40 Pack-Years geraucht hat, derzeit noch raucht oder erst in den vergangenen zehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört hat, sollte zu einer Screening-Untersuchung eingeladen werden. Alternativ könnte man das individuelle Risiko mit einem Risikorechner berechnen und beispielsweise ab einem bestimmten Karzinomrisiko mit dem Screening beginnen. De Koning verweist auf die Ergebnisse einer noch unpublizierten Arbeit, welche die Überlegenheit der Risikokalkulation im Vergleich zum alleinigen Kriterium der Pack-Years gezeigt habe. Als Grenzwert wurde ein Risiko von 1,7 Prozent innerhalb von sechs Jahren empfohlen. Angesichts der heute verfügbaren Daten empfiehlt sich ein jährliches Screening. Aus Kosten- und Praktikabilitätsgründen wird jedoch diskutiert, ob und für wen man die Screening-Intervalle verlängern kann, ohne ein zusätzliches Risiko in Kauf zu nehmen. Die Aussagekraft unterschiedlicher Biomarker wie zum Beispiel MicroRNA im Blut (3) wird in diesem Zusammenhang diskutiert. Insgesamt sei es möglich, so de Koning, in Europa mittels Screening Tausende Krebstodesfälle zu verhindern. Das werde jedoch die verfügbaren Ressourcen belasten. Entsprechende Kapazitäten müssten geschaffen werden. Das betrifft keineswegs nur die Radiologie, sondern beispielsweise die Chirurgie, da mit vermehrten Diagnosen resezierbarer Karzinome vorhersehbar auch die Zahl der Resektionen steigen werde.
Neues White Paper kurz vor der Publikation
Die europäische Pneumologengesellschaft (ERS) und die europäische Radiologengesellschaft (ESR = European Society of Radiology) veröffentlichten im Jahr 2015 erstmals eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie sowohl die Implementation von Programmen zum Screening auf Lungenkrebs als auch die vermehrte Forschung auf diesem Gebiet forderten (4), so Prof. Hans-Ulrich Kauczor, Radiologe an der Universität Heidelberg (D) und Erstautor dieses Dokuments. Ein Update dieses White Papers befindet sich im Publikationsprozess. Die Autoren versuchten darin, so Kauczor, möglichst klare und praxisnahe Empfehlungen für ScreeningProgramme zu geben. Diese umfassen neben Fragen nach Nutzen und Risiko des Screenings oder nach dem Problem der Überdiagnose auch Überlegungen zur Identifikation geeigneter Patienten oder zu den strukturellen und institutionellen Voraussetzungen für erfolgreiche Reihenuntersuchungen. Nicht zuletzt werden Vorschläge für regionale, nationale und europäische Aktionspläne gemacht. Kauczor betont jedoch, dass es sich aus methodischen Gründen um ein Statement im Sinne eines narrativen, nicht systematischen Reviews und nicht um eine Leitlinie handle.
Handlungsbedarf besteht. Kauczor betonte, dass es derzeit in Europa kein einziges organisiertes, landesweites ScreeningProgramm für Lungenkrebs gebe. Angesichts der positiven Ergebnisse der NELSON-Studie haben jedoch in mehreren Ländern Gespräche begonnen, und in Grossbritannien, Russland, Kroatien und Polen wurden Pilotprojekte gestartet. Kroatien könnte, so Kauczor, das erste europäische Land werden, das ein landesweites Screeningprogramm auf den Weg bringe. Zur Frage, wer wie oft und wie lange gescreent werden solle, geben die Autoren des White Papers eindeutig den verschiedenen Modellen zur individuellen Risikokalkulation den Vorzug gegenüber einem Fokus auf ausschliesslich den PackYears. Für Personen mit relevantem Risiko wird ein jährliches Screening über 20 Jahre ab dem Alter von 55 empfohlen. Kauczor räumte allerdings ein, dass das in der Praxis nicht leicht umzusetzen sei. Deshalb wird diskutiert, unter welchen Umständen die Intervalle verlängert werden können. Eine Evidenzlücke besteht im Hinblick auf die Auswirkungen von E-Zigaretten und Umweltverschmutzung. Diese werden deshalb nicht in die Kalkulation einbezogen.
Nikotinstopp-Intervention in Kombination
mit Screening
Screening-Untersuchungen sollen immer mit Interventionen
in Richtung Nikotinstopp kombiniert werden. Jedem ge-
screenten Patienten soll Unterstützung beim Nikotinstopp
angeboten werden. Angesichts von derzeit geschätzten 192
Millionen Rauchern und mehr als 380 000 Lungenkrebs-
toten pro Jahr in Europa besteht auf diesem Gebiet noch
erheblicher Verbesserungsbedarf. Kauczor: «Wenn es uns
gelingt, nur einen Teil dieser Todesfälle zu vermeiden, dann
sind das bereits sehr grosse Zahlen.» Um Personen mit hohem
Risiko erreichen zu können, werden gezielte Kampagnen er-
forderlich sein, an deren Gestaltung Patienten beteiligt sein
sollten.
s
Reno Barth
Quelle: Session «NELSON: the Trafalgar of lung cancer screening?» beim 29. Jahreskongress der European Respiratory Society (ERS) am 29. September 2019 in Madrid.
Referenzen: 1. De Koning HJ et al.: Effects of volume CT lung cancer scree-
ning: mortality results of the NELSON randomised, controlled population based trial. WCLC 2018, Oral Presentation & Abstract PL02.05 2. National Lung Screening Trial Research Team: Reduced lung-cancer mortality with lowdose computed tomographic screening. N Engl J Med 2011; 365(5): 395–409. 3. Pastorino U et al. Blood MicroRNA and LDCT Reduce Unnecessary LDCT Repeats in Lung Cancer Screening: Results of Prospective BioMILD Trial. ASCO 2019, PL02.04. 4. Kauczor HU et al. ESR/ERS white paper on lung cancer screening. Eur Respir J 2015; 46(1): 28–39.
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