Transkript
Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2019
Der kardiologische Nabel der Welt war Paris
ESC
Foto: vh
Einen europäischen Kardiologiekongress inhaltlich so vorzubereiten, dass er für möglichst viele der über 33 500 Teilnehmer, die aus 86 Ländern nach Paris strömten, ein Optimum bietet, ist eine grosse Leistung. Diese vollbrachte in diesem Jahr Prof. Marco Roffi vom Universitätsspital Genf zusammen mit Prof. Silvana Priori aus Pavia (I) und einem achtzigköpfigen Team. Die wichtigsten Eckpunkte des Programms skizzierte Roffi im Interview.
Was war am diesjährigen ESC wichtig für den
Hausarzt?
Prof. Marco Roffi: Der ESC-Kongress ist welt-
weit der grösste im kardiovaskulären Bereich.
Er bietet ein Update für ein breites Spektrum
von Teilnehmern, vom hoch spezialisierten Spi-
talkardiologen bis zum niedergelassenen Spe-
zialisten, Internisten und Hausarzt. Für den
Hausarzt wichtig sind zum Beispiel die am dies-
Prof. Marco Roffi
jährigen Kongress vorgestellten fünf neuen Guidelines im Bereich der Dyslipidämie, des
Diabetes, der supraventrikulären Rhythmusstörungen, der
akuten Lungenembolie sowie zur Behandlung des chroni-
schen koronaren Syndroms.
Es gab eine neue Krankheitskategorie: chronisches Koronarsyndrom. Wie ist diese definiert? Roffi: Das chronische Koronarsyndrom ist ein neuer Begriff für die stabile koronare Herzkrankheit (KHK). Die Krankheit ist dieselbe, doch ist sie durch den neuen Begriff besser charakterisiert. Denn die KHK durchläuft verschiedene Phasen: Bei einem akuten Ereignis wie einem Herzinfarkt nennt sie sich «akutes Koronarsyndrom», dann gibt es wieder stabile Phasen, während deren der Patient asymptomatisch ist oder eine stabile Angina pectoris haben kann und die keine weiteren Interventionen erfordern. Diese Phase nennt man neu chronisches Koronarsyndrom.
Die zweite Studie ist die DAPA-HF-Studie. Sie zeigte, dass der bis jetzt antidiabetisch eingesetzte SGLT2-Hemmer Dapagliflozin Hospitalisationen und Tod bei Patienten mit Herzinsuffizienz mit verminderter Auswurffraktion mit und auch ohne Typ-2-Diabetes reduziert. Diese Resultate eröffnen ganz neue therapeutische Möglichkeiten.
Was gab es zum Thema Prävention von Koronarereignissen? Roffi: Eine weitere Studie beantwortete die wichtige Frage, ob Patienten mit Typ-2-Diabetes, die per se ein höheres kardiovaskuläres Risiko haben, von einer dualen Plättchenhemmertherapie (DAPT), namentlich Ticagrelor zusätzlich zu Acetylsalicylsäure, profitieren. Diese THEMIS-Studie war sehr gross, sie umfasste 19 000 Patienten mit Typ-2-Diabetes und stabiler koronarer Herzkrankheit. Die Patienten unter DAPT hatten zwar weniger Ereignisse im Vergleich zu solchen, die nur Acetylsalicylsäure einnahmen, doch wurde dieser Vorteil durch mehr Blutungsereignisse aufgewogen. Des Weiteren wurde in der NZOTACS-Studie die interessante Frage beantwortet, ob die Gabe von Sauerstoff beim Verdacht auf akuten Infarkt von Nutzen ist. Dazu gab es in der Vergangenheit bereits kleinere Untersuchungen, die das infrage gestellt haben. Die am Kongress präsentierte Studie aus Neuseeland umfasste 40 000 Patienten und konnte die Diskussion darüber nun beenden. Denn sie zeigte, dass im Akutfall eine Sauerstoffgabe bei Patienten mit normaler Sauerstoffsättigung nicht nützlich ist.
Welche Studien waren wichtig für den Hausarzt? Roffi: Neben den neuen Guidelines wurden mehrere Studien vorgestellt, die Auswirkungen auf die Therapie im Alltag haben. Im Bereich der Herzinsuffizienz gab es zwei wichtige Studien: Die PARAGON-HF-Studie testete bei Patienten mit erhaltener Ventrikelfunktion die Kombination Valsartan/ Sacubitril versus Valsartan allein. Die Kombination zeigte bezüglich Hospitalisationen und Tod entgegen den angedeuteten Ergebnissen aus der PARADIGM-HF-Studie, durchgeführt mit Patienten mit eingeschränkter Ventrikelfuktion, keine signifikante Verbesserung. Für Patienten mit Herzinsuffizienz und erhaltener Ventrikelfuktion gibt es somit weiterhin keine Behandlung, die die Prognose verbessert.
Und bei der Bluthochdruckprävention? Roffi: Auf der Präventionsseite sehr interessant ist die Studie, die den Effekt einer Salzrestriktion beziehungsweise den Effekt durch das Salzersatzprodukt mit Kaliumchlorid auf den Blutdruck untersucht hat. Dabei mussten über 2300 Bewohner aus sechs peruanischen Dörfern ihr Speisesalz gegen das Ersatzprodukt, das aus 75 Prozent Natriumchlorid und 25 Prozent Kaliumchlorid bestand, austauschen. Nach zweieinhalb Jahren war im Vergleich zu den Ausgangswerten eine Reduktion der neuen Hypertoniefälle um 55 Prozent sichtbar. Der Blutdruck sank durchschnittlich um 1,2/0,7 mmHg, bei Patienten mit bereits vorhandener Hypertonie war die Reduktion mit 1,7/1,2 mmHg sogar noch grösser. Das bedeu-
CongressSelection Diabetologie | Kardiologie | Dezember 2019
19
ESC
tet, dass sich mit einer Salzrestriktion auf Populationsebene der Schweregrad und die Inzidenz der Hypertonie positiv beeinflussen lassen.
Sie waren in diesem Jahr verantwortlich für das Kongressprogramm. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Roffi: Als Programmverantwortlicher zusammen mit Prof. Silvana Priori haben wir mit unserem achtzigköpfigen Team mehr als 600 Sessions organisiert und über 11 000 Abstracts aus 111 Ländern gesichtet. Davon konnten 4500 akzeptiert werden. Das wissenschaftliche Programm umfasste 14 Themengebiete. Mit der Vorbereitung haben wir mehr als ein Jahr zuvor begonnen, um diesen Kongress inhaltlich auf die Beine zu stellen.
Was war dabei Ihr Schwerpunkt? Roffi: In diesem Jahr wollten wir mehr Leute dazu bringen, sich am Kongress zu beteiligen. Da die Konkurrenz gross ist, können nur wenige Teilnehmer ihre Forschungsresultate in Form von Abstracts präsentieren. Um eine aktive Teilnahme am Kongress zu fördern, haben wir mit den «Case-based-Sessions» ein neues Gefäss geschaffen, mit dem praktizierende
Kardiologen und junge Ärzte einen besonders lehrreichen Fall aus ihrer Praxis präsentieren können, der auch für die Zuhörer von Interesse ist. Die Referenten mussten ihre Fälle beim Programmkomitee einreichen, daraus wurden die besten ausgewählt.
Was war am Kongress Ihr persönliches Highlight?
Roffi: Ich konnte zwei für die städtische Rettung verantwort-
liche Notfallmediziner aus Paris und Nizza gewinnen, einen
Vortrag über das Rettungssystem in Frankreich bei terroris-
tischen Angriffen zu halten. Sie erzählten, wie die Rettungs-
arbeiten in Paris und in Nizza funktioniert haben und was
dabei die Probleme waren. In Paris haben in den letzten drei
Jahren 21 terroristische Attacken stattgefunden. Die Erfah-
rung zeigte, wie die Referenten betonten, dass man auch bei
der besten Vorbereitung nie für das gewappnet ist, was pas-
siert. Resultat dieser Attacken ist neben vielen interdiszipli-
nären Trainings beispielsweise auch ein obligatorischer vier-
tägiger Kurs für alle Medizinstudenten. Der Vortrag war sehr
bewegend.
L
Das Interview führte Valérie Herzog.
20 CongressSelection Diabetologie | Kardiologie | Dezember 2019