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Interview mit Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich
Bei der Behandlung der Lipide nicht zu viel Zeit verlieren
Foto: zVg
In diesem Jahr fand der jährliche Kongress der European Society of Cardiology zusammen mit demjenigen der World Society of Cardiology statt – diese Kombination erlaubte beizeiten einen etwas anderen Blickwinkel. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Leiterin der Hypertonie-, Lipid- und Tabakentwöhnungssprechstunde am Universitätsspital Zürich, über ihre Kongresshöhepunkte und die Bedeutung der neuen Dyslipidämie-Guidelines.
Was waren Ihre persönlichen Highlights bei diesem ESC-Kongress? Prof. Dr. med. Isabella Sudano: Drei der fünf präsentierten Guidelines sind für meine Praxis sehr relevant: zu Diabetes, zu Dyslipidämien und zur chronischen koronaren Herzerkrankung. Auch die Ergebnisse der DAPA-HF-Studie zur Herzinsuffizienz waren super spannend, sie bestätigen, dass die Gliflozine sich kardiovaskulär extrem günstig auswirken (1).
Prof. Dr. med. Isabella Sudano
Die Studie hat Patienten mit reduzierter Auswurfleistung untersucht. Das Besondere ist, dass sowohl Diabetiker als auch Nichtdiabetiker eingeschlossen waren. Und bei beiden Gruppen hat Dapagliflozin grosse Vorteile gezeigt – ohne bei Nichtdiabetikern Hypoglykämien auszulösen.
Anzahl kardiovaskulärer Erkrankungen in Zukunft allein durch das Bestimmen und Behandeln reduzieren kann (5). Das ist für mich ebenfalls spannend. Und dann sind alle ein bisschen neidisch auf die riesigen Register in Schweden oder anderen nordischen Ländern, die Daten vieler Patienten umfassen. Diese zeigen noch einmal, dass auch der Lebensstil wichtig ist, um kardiovaskulären Krankheiten vorzubeugen. Last, but not least sind natürlich die Daten der PURE-Studie extrem wichtig (6). Auch in dieser Studie gab es eine sehr gemischte Population mit verschiedenen Einkommensgruppen. Das sind natürlich epidemiologische Daten, aber interessant: Wir müssen Salz nicht komplett eliminieren, es gibt den goldenen Mittelweg. Ausserdem kann eine gesunde Ernährung auch etwas Fleisch enthalten. Nüsse sind wichtig. Auch das gehört zu meinen Highlights.
Bleiben wir bei der Herzinsuffizienz ... Sudano: Da wären noch PROVE-HF (2) und EVALUATEHF (3), zwei Phase-IV-Studien, die ebenfalls Patienten mit reduzierter Auswurfleistung untersucht haben. Unter Sacubitril/ Valsartan verbesserte sich in diesen Studien sowohl die kardiale Struktur als auch die Gefässsteifigkeit. Das ist spannend, denn Enalapril allein macht das nicht. Und dann gibt es noch die PARAGON-HF-Studie (4). Sie hat zwar den definierten Endpunkt verpasst, war aber in gewissen Subanalysen doch positiv. So haben zum Beispiel die Frauen stärker profitiert als die Männer. Ich glaube, wir müssen die HFpEF, die Herzinsuffizienz mit erhaltener Auswurffraktion, noch besser definieren – um zu sehen, wer wann von etwas profitieren kann. Wir wissen immer noch zu wenig über die Mechanismen von Valsartan und Sacubitril – nicht alle Patienten können physiopathologisch von dieser Art Medikament profitieren. Die Ergebnisse können zu einer besseren Definition der HFpEF in Zukunft beitragen.
Gab es für Sie noch mehr Höhepunkte? Sudano: Ja, es wurden auch wichtige epidemiologische Studien gezeigt. Zum Beispiel kommt aus der UK-Datenbank eine riesige Studie mit mehr als 100 000 Personen. Sie wurde im JAMA publiziert und zeigt, dass man durch eine bescheidene Reduktion der Risikofaktoren LDL und Blutdruck die
Was davon wird das Handeln in der Praxis verändern? Sudano: Für mich sind die Resultate der DAPA-HF-Studie und die Guidelines praxisverändernd. Ersteres, weil, wir nicht nur Blutzucker und HbA1c reduzieren können, sondern auch das Risiko atherothrombotischer Ereignisse. Bislang hatten wir zur Diabetestherapie gute Medikamente im Sinne der Glukosekontrolle und der Reduktion des HbA1c. Damit hatten Diabetiker aber immer noch ein sehr hohes kardiovaskuläres Risiko. Vielleicht ist es nur ein Traum, aber ich kann mir vorstellen, dass wir durch diese Medikamente das kardiovaskuläre Risiko dieser Patienten wirklich reduzieren können. Auch bei den Nichtdiabetikern, denn schliesslich haben die Gliflozine auch andere Effekte, die für das kardiovaskuläre System positiv sind. Ausserdem werfe ich immer noch ein Auge auf die Entwicklung der PCSK-9-Blockierung auf RNA-Ebene mit Inclisiran. Es wurden neue Daten präsentiert; die Ergebnisse von ORION 11, der ersten randomisierten Phase-III-Studie, sind sehr interessant. In zwei Jahren werden wir mehr erfahren.
Sie hatten mit Blick auf die Praxis auch noch die Guidelines erwähnt? Sudano: Ja, ich glaube, die Guidelines beeinflussen unsere Praxis. Die neuen Diabetesrichtlinien und, für meine Praxis besonders wichtig, die neuen Guidelines zur Dyslipidämie
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und zur chronisch koronaren Herzkrankheit. Bei Letzterer gibt es wahrscheinlich wenig Widerstand, aber bei der Dyslipidämie wurden die Zielwerte gesenkt. Wir haben das schon erlebt, von 3 auf 2,6 mmol/l, dann auf 1,8 und jetzt wird, ausgehend von 1,8 für Patienten mit sehr hohem Risiko, über eine weitere Reduktion auf 1,4 diskutiert.
Wie kann man diese Ziele in der Praxis erreichen? Sudano: Zuerst sollte jeder Patient, der das braucht, ein Statin erhalten. Abhängig vom Alter und von der klinischen Situation der Patienten können wir mehr oder weniger hoch dosiert anfangen und dann steigern. Diese Basis ist wichtig, denn es gibt immer noch zu viele Patienten in der Sekundärprävention oder mit sehr hohem Risiko, die keine Statine bekommen oder keine Statine nehmen. Bei einer Statinintoleranz oder einem Problem mit einem Statin darf man nicht gleich alle Statine absetzen. Man sollte in diesem Fall eine Pause machen, bis die Beschwerden weg sind, und dann ein anderes Statin probieren oder Ezetimibe ergänzen. Das lohnt sich. Es sind preiswerte Medikamente, und es gibt eine Kombinationstherapie, die wir den Patienten anbieten können: Statin und Ezetimibe in einer Pille. Sie sind effizient und können für viele Patienten eine Lösung sein. Ich habe wirklich viele Patienten, die unter der Kombination die Zielwerte erreichen. Bei den Hochrisikopatienten bin ich sehr dankbar, PCSK-9Hemmer zu haben. Das ist wirklich eine Revolution, denn bis anhin hatten wir nur Statine, Ezetimibe und die Lipidapherese für die schweren Fälle. Eine Injektion alle zwei Wochen ist weit bequemer als eine Lipidapherese und auch günstiger. PCSK-9-Hemmer sind sehr effizient, werden sehr gut toleriert und können gut mit Statinen oder Ezetimibe kombiniert werden. Diese Möglichkeit sollte den Hausärzten bewusst sein, auch wenn nur Spezialisten die Kostengutsprache einreichen dürfen. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Einsatz der PCSK-9-Hemmer mehr Platz bekommen wird, aber ich glaube, wir haben auch noch extrem viel Raum, um Statine und Ezetimibe besser einzusetzen.
Wie lange darf man abwarten, ob eine Therapie wirkt? Sudano: Das hängt auch von den Patienten ab. Patienten mit akutem Koronarsyndrom sollten relativ schnell zum Ziel kommen. Das heisst: hoch dosierte Statine allein oder direkt mit Ezetimibe verordnen, wenn bereits vor dem Ereignis Statine gegeben wurden. Nach vier bis sechs Wochen kontrollieren und bei Bedarf die Therapie anpassen. Bis eine Dreierkombination eingesetzt wird, vergeht in der Realität mehr Zeit, als wir uns wünschen. Unter Statinen sollte man nicht drei bis sechs Monate warten, bis man Ezetimibe dazugibt, und bis zur Gabe von PCSK-9-Hemmern sollte nicht ein Jahr vergehen – sonst verlieren die Patienten zu viel Zeit. Wir wissen, dass sie in den ersten zwei, drei Monaten nach einem Ereignis besonders gefährdet sind, vor allem die Patienten, die innerhalb von ein bis zwei Jahren zwei Ereignisse hatten. Aus den Subanalysen der FOURIER- und der ODYSSEY-Studie ist bekannt, dass diese Patienten am meisten von einer Senkung des LDL durch PCSK-9-Hemmer profitieren.
Sudano: Nein, überhaupt nicht. Ein Fokus der neuen Guidelines liegt auf der familiären Dyslipidämie, der Diagnose und der Behandlung dieser Personen mit Risiko. Da ist noch extrem viel zu machen. Wichtig ist dabei das Konzept: Je länger ein hohes LDL besteht, desto höher ist das Risiko. Wir sprechen nicht von LDL-Pack-Years, aber es ist etwas völlig anderes, ob ich im Alter von 40 Jahren ein LDL von 4,5 mmol/l erreiche oder ob ich bereits mit einem solchen Wert geboren wurde.
Gibt es etwas Neues zu den Apolipoproteinen? Sudano: Lipoprotein(a) ist ein zusätzlicher Risikofaktor, und es ist besonders wichtig, das zu bestimmen, wenn die Patienten früh eine koronare Herzkrankheit gehabt haben oder eine Familienanamnese für frühzeitige koronare Herzkrankheit besteht. Es gibt viele Patienten, die hohe Cholesterin-, hohe LDL- und erhöhte Lipoprotein(a)-Werte haben. Aber es gibt auch Patienten mit isoliert erhöhtem Lipoprotein(a). Das Problem ist, dass wir im Moment mit Ausnahme der Lipidapherese keine Therapie haben. PCSK-9-Hemmer können das Lipoprotein(a) zwar um bis zu 20 Prozent senken, aber ob das von Bedeutung ist, wissen wir nicht. Was wir wissen: Wenn das Lipoprotein(a) erhöht ist, lohnt es sich, Statine einzusetzen. Aber in der Therapie ist einiges in Entwicklung, da gibt es Potenzial.
Gab es noch heisse Eisen, sprich, viel Diskutiertes? Sudano: Ein wirklich spannender Teil der Sessions am Kongress waren die Kontroversen, zum Beispiel «Wie schnell soll ich den Blutdruck reduzieren?» oder «Auf welches Niveau soll ich den Blutdruck reduzieren?», «Hat die WeisskittelHypertonie doch eine prognostische Bedeutung?» oder «Die Rolle des Lebensstils». Auch spannend sind die neuen Risikofaktoren: Luftverschmutzung, Lärm, Stress per se. Da gab es sehr interessante Sessions, aber immer noch kontrovers diskutiert.
Die Klimadiskussion berührt auch die Medizin ...
Sudano: Es geht nicht so sehr ums Klima, vielmehr um die
Qualität der Luft. Wir können uns hier kaum vorstellen, wie
ausgeprägt die Luftverschmutzung beispielsweise in Ländern
wie Indien ist. Es wurden Bilder von Dehli und anderen gros-
sen Städten gezeigt, wo man nichts sieht ausser Nebel. Eine
massive Luftverschmutzung also, und die ist kardiovaskulär
sehr bedeutend. Ein weiteres spannendes Thema ist die Defi-
nition von gesunder Ernährung – und eine Definition von ge-
sunder Ernährung, die zu meinem Land passt. Die gesunde
mediterrane Ernährung ist heute in der Schweiz beliebt. Aber
in Afrika kann ich keine mediterrane Diät praktizieren. Also
sollte man für Afrika eine gesunde Ernährung finden, eine für
Indien, eine für Bangladesch.
L
Das Interview führte Christine Mücke.
Werden die Möglichkeiten zur Verschreibung von PCSK-9Hemmern bei Patienten mit familiärem Risiko ausgeschöpft?
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Zum Weiterlesen: 1. McMurray JJV et al.: Dapagliflozin in patients with heart failure
and reduced ejection fraction. N Engl J Med 2019; DOI: 10.1056/NEJMoa1911303. 2. Januzzi JL Jr et al.: PROVE-HF Investigators. Association of change in N-terminal pro–B-type natriuretic peptide following initiation of sacubitril-valsartan treatment with cardiac structure and function in patients with heart failure with reduced ejection fraction. JAMA 2019; doi:10.1001/jama.2019.12821. 3. Desai AS et al.: EVALUATE-HF Investigators. Effect of sacubitrilvalsartan vs enalapril on aortic stiffness in patients with heart failure and reduced ejection fraction: a randomized clinical trial. JAMA 2019; doi:10.1001/jama.2019.12843. 4. Solomon SD et al.: Angiotensin–neprilysin inhibition in heart failure with preserved ejection fraction. N Engl J Med 2019; 381: 1609–1620. 5. Ference BA: Association of genetic variants related to combined exposure to lower low-density lipoproteins and lower systolic blood pressure with lifetime risk of cardiovascular disease. JAMA 2019; Sep 2. doi: 10.1001/jama.2019.14120. 6. Yusuf S et al.: Modifiable risk factors, cardiovascular disease, and mortality in 155 722 individuals from 21 high-income, middleincome, and low-income countries (PURE): a prospective cohort study. Lancet 2019; Sep 3. pii: S0140-6736(19)32008-2.
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