Transkript
LESERBRIEF
Somatisierte Depression als Ursache der Fibromyalgie
Stellungnahme von Dr. Walter Kissel, Luzern, zum Artikel «Fibromyalgie – eine unscharfe Diagnose ist besser als keine Diagnose», erschienen in «CongressSelection Rheumatologie» vom September 2019:
Als Kenner des Leidens Fibromyalgie und anderer ähnlicher Leiden, wie anhaltende somatoforme Schmerzstörung, muss ich an den Kernaussagen von Prof. Geenen fundamentale Kritik erheben. Zunächst einmal will ich klarstellen: «Fibromyalgie» ist keine Diagnose, sondern ein Gemenge von funktionellen und vegetativen Beschwerden, ein undifferenziertes syndromales Gebilde, das bei vielen körperlichen und psychischen Leiden vorkommt und intensiver Abklärungen bedarf. Die ACRKriterien der Fibromyalgie sind derart unübersichtlich und die Zusatzkriterien sind teilweise falsch (ich habe noch nie Hörstörungen und Mundtrockenheit bei einer Fibromyalgie gesehen), dass man an den wissenschaftlichen Fähigkeiten dieser Autorengruppe der ACR zweifeln muss. Das quälendste Leiden der Fibromyalgiepatientinnen und -patienten sind die chronischen Schmerzen. Ich zitiere Prof. Geenen: «Liesse man die Diagnose Fibromyalgie fallen, würde dies die Situation dieser Menschen nicht verbessern. Vermutlich würde dies dazu führen, dass die Betroffenen vermehrt zu ‹alternativen›, nicht evidenzbasierten Therapien greifen.» • Diese Aussage wirkt – obwohl sicher nicht so gemeint – zy-
nisch, sie ist aber zutiefst unwissenschaftlich, was der Hinweis auf die «nicht evidenzbasierten Therapien» belegt. Prof. Geenen und die ACR-Arbeitsgruppe 2010 kennen keine Evidenz, keine Kausalität einer Fibromyalgie, entsprechend schweigen sich alle betreffend Therapie aus – sie kennen ja keine Ursache der Fibromyalgie respektive lehnen die Hauptursache, die somatisierte Depression ab, diskutieren die Depression als mögliche Ursache nicht einmal. • Dementsprechend bleiben die Betroffenen hilflos in ihren Schmerzen gefangen, und ja, sie greifen zu «nicht evidenzbasierten Therapien»(!). Nicht die Patienten greifen zu diesen Therapien, sondern vor allem wir Ärzte in unserer Hilflosigkeit. Und was tun wir? Wir verschreiben fortlaufend Schmerzmittel und Benzodiazepine, greifen stufenweise zu Opioiden, dann Opiaten – wir bemerken nicht, dass diese nicht helfen, wir realisieren nicht, dass bei fehlender Hilfe gegen die Schmerzen das Krankheitsbild der Fibromyalgie durch die Nebenwirkungen der Schmerzmittel verschlimmert wird. Die Schmerzpatienten geraten in den Teufelskreis der Schmerzmittel- und Sedativa-Abhängigkeit – und haben weiterhin ihre Schmerzen.
• Unwissenschaftlicher wie in der Darlegung von Prof. Geenen, «Eine Diagnose, die zu den Symptomen passt», zur Fibromyalgie kann man nicht denken: Aus einem Bündel von Symptomen wird eine Fehldiagnose zusammengeschustert. Man muss umgekehrt denken: Finde ich für das vorliegende Bündel an Symptomen eine Kausalität?
Es gibt mehrere psychische Krankheiten, die mit fibromyalgiformen Schmerzen und Muskelstörungen einhergehen können: • Im Vordergrund steht die somatisierte Depression als häu-
figste Ursache. • Angststörungen: Bereits 1895(!) hat Sigmund Freud in
einer kleinen Studie dargelegt, viele «Rheumatiker» seien eigentlich Angstneurotiker! • Dissoziative Störungen (früher z.T. «Hysterie» genannt): Man lese die Fallgeschichten aus der «Hysterie-Zeit», z.B. von Freud und Binswanger oder im Lehrbuch der Neurologie von Oppenheim um 1905 («Ich habe keine Hysterika gesehen, die nicht an Schmerzen gelitten hätte»). • Pathologische Trauer: Ich habe einen 25-jährigen Mann begutachtet, bei welchem eine Fibromyalgie vorlag und dessen Familiensystem total in einer pathologischen Trauer gefangen war. • Drogenabhängigkeit, speziell von Morphin: Im Lehrbuch «Psychiatrie» von Bleuler werden die intensiven Körperschmerzen dargestellt, an welchen Morphinabhängige leiden können. • Borderline-Störung: Typisch sind die eigenartigen Körperschmerzen und die Besserung seelischer Spannungen durch Schmerzzufügen (Ritzen u.a.). • Autismus-Spektrum-Störungen: eigenartige Fühlstörungen und Schmerzgefühle bei Autisten und Asperger-Patienten. Ich habe solche «Schmerzkrankheiten» 2018 in der «Schweizerischen Ärztezeitung» unter dem von mir entworfenen Titel «Primär-zentrale Schmerzen» publiziert.
Dr. med. Walter Kissel FMH Innere Medizin i.R. Ex Zertifizierter Gutachter SIM Schönbühlring 18, 6005 Luzern Walter.kissel@bluewin.ch
Den Artikel, auf den sich Dr. Kissel hier bezieht, finden Sie in der CongressSelection Rheumatologie vom EULAR 2019, erschienen im September 2019, oder online unter
www.rosenfluh.ch/qr/beitrag-fibromyalgie
16 CongressSelection Rheumatologie | November 2019