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Fibromyalgie
Eine unscharfe Diagnose ist besser als keine Diagnose
Das Fibromyalgie-Syndrom bleibt rätselhaft – so rätselhaft, dass zunehmend die Frage laut wird, ob es sich dabei überhaupt um eine sinnvolle Diagnose handelt. Doch die Situation der Betroffenen sowie praktische Überlegungen sprechen dafür, den Terminus «Fibromyalgie» weiter zu verwenden.
Ein erhebliches Problem in der Diagnostik der Fibromyalgie stellt zunächst die breite Überlappung mit anderen Zustandsbildern dar, so Prof. Rinie Geenen von der Universität Utrecht (NL). Käme ein Patient mit exakt denselben Beschwerden zu einem Gastroenterologen, einem Infektiologen und einem Rheumatologen, so erhielte er drei unterschiedliche Diagnosen: Reizdarmsyndrom, Chronic Fatigue Syndrom und Fibromyalgie (1). Diese unterschiedlichen Entitäten zeigen in der Tat eine breite Überlappung, so Geenen. Dies beträfe sowohl die Symptome als auch die diagnostischen Kriterien und eine Reihe weiterer Faktoren wie zum Beispiel das häufigere Auftreten beim weiblichen Geschlecht. Nicht zuletzt sind auch die Therapievorschläge ähnlich. Vor rund zehn Jahren wurde der Versuch unternommen, die Fibromyalgie und einige verwandte Zustandsbilder unter dem Sammelbegriff «Central Sensitivity Syndromes» zusammenzufassen (2). Dieses Konzept gehe, so Geenen, von einer Disposition zur Somatisierung bei bestimmten Personen aus, deren Gehirne auf Stress unterschiedlicher Art mit somatischen Beschwerden reagieren. In diese Kategorie falle neben der Fibromyalgie und dem Reizdarmsyndrom unter anderem auch der Spannungskopfschmerz. In eine ähnliche Richtung weisen neue Diagnosekriterien für die Fibromyalgie, die auf einem multidimensionalen Raster basieren, in dem die verschiedenen genannten Erkrankungen an unterschiedlichen Koordinaten verortet werden können. Ausschlaggebend sind dabei fünf Dimensionen: 1. somatische Symptome 2. weitere typische Zeichen 3. häufige Komorbiditäten 4. neurobiologische, psychosoziale und funktionelle Konse-
quenzen sowie 5. vermutete neurobiologische und psychosoziale Krankheits-
mechanismen, Risikofaktoren und protektive Faktoren. Geenen: «Alle diese fünf Dimensionen gemeinsam sagen mehr über den Patienten aus als beispielsweise nur die Schmerzkriterien. Auf manche Patienten werden alle Dimensionen zutreffen, auf andere nur eine oder zwei.» Allerdings müssen die «Core Criteria», Schmerzen an mindestens sechs von neun definierten Körperarealen, sowie Schlafstörungen oder Fatigue für mindestens drei Monate erfüllt sein, damit von einem Fibromyalgie-Syndrom gesprochen werden kann (3).
Warum der Terminus «Fibromyalgie» gebraucht wird
In der aktuellen Situation spräche nun einiges tatsächlich dafür, den Terminus «Fibromyalgie» aufzugeben. Geenen nennt hier vor allem das Risiko, dass die Zuschreibung eines genauer umrissenen diagnostischen «Labels» dazu führen könne, bestimmte Dimensionen der Erkrankung des konkreten, individuellen Patienten zu übersehen oder zu negieren. Dem stellt Geenen jedoch das Problem der Differenzialdiagnostik gegenüber. Rheumatologen würden die Diagnose Fibromyalgie benötigen, um in der klinischen Praxis eine Abgrenzung gegenüber anderen rheumatischen oder muskuloskeletalen Erkrankungen treffen zu können. Dies benötige sowohl Inklusions- (Schmerz an multiplen Lokalisationen) als auch Exklusionskriterien (Entzündungszeichen, radiografischer Schaden). Liesse man die Diagnose Fibromyalgie fallen, würde dies die Situation dieser Menschen nicht verbessern. Vermutlich würde es auch dazu führen, dass die Betroffenen vermehrt zu «alternativen», nicht evidenzbasierten Therapien greifen. Hinzu komme der psychologische Aspekt aus Patientensicht. Eine Diagnose, die zu den Symptomen passt, bedeutet für die Betroffenen eine Legitimation. Im Gegensatz dazu führe eine (gelegentlich vorgeschlagene) Bezeichnung wie «medizinisch unerklärte Symptome» zu Frustration und Stigmatisierung. Die Anerkennung, dass ihre Erkrankung «echt» ist, sei für die Patienten bedeutsam. Geenen: «Fibromyalgie ist eine akzeptable Diagnose, da sie echte und belastende Symptome und Probleme echter Menschen beschreibt.» Diese Diagnose solle daher weiterhin verwendet werden, obwohl sie auf unscharfen Kriterien basiere, mit anderen Diagnosen überlappe, nicht auf starken, objektiven und messbaren Parametern beruhe, eher deskriptiv als explanatorisch bleibe und eine heterogene Population beschreibe. Darüber hinaus sei eine Diagnose wichtig, um Populationen für Studien zu definieren, die Zulassung von Therapien zu ermöglichen und Empfehlungen zu erarbeiten. L
Reno Barth
Quelle: Clinical Science Session «Primary and secondary fibromyalgia; are they different?» beim Jahreskongress der European League against Rheumatism (EULAR) 2019, am 14. Juni 2019 in Madrid.
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Referenzen: 1. Wessely S et al.: Functional somatic syndromes: one or many?
Lancet 1999; 354(9182): 936–939. 2. Yunus MB: Central sensitivity syndromes: a new paradigm and
group nosology for fibromyalgia and overlapping conditions, and the related issue of disease versus illness. Semin Arthritis Rheum 2008; 37(6): 339–352. 3. Arnold LM et al.: AAPT Diagnostic Criteria for Fibromyalgia. J Pain 2019; 20(6): 611–628.
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