Transkript
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Arzneimittelallergie
Desensibilisierung als therapeutische Option
Foto: H.B.
Bei Unverträglichkeit von Medikamenten können Immunphänomene vom Sofort- oder Spättyp involviert sein. Es kann aber auch keine eigentliche Sensibilisierung vorliegen, wie bei der Aspirinintoleranz. Ziel einer Desensibilisierung ist das Erreichen einer Unempfindlichkeit gegenüber der inkriminierten Substanz. Über Voraussetzungen und Durchführung sprach PD Dr. med. Kathrin Scherer-Hofmeier aus Basel am Allergy and Immunology Update in Grindelwald.
Wenn eine Desensibilisierung gegen ein Medikament versucht wird, das zuvor eine Überempfindlichkeitsreaktion hervorgerufen hatte, spricht man zwar von Desensibilisierung, hat aber nicht eine immunologische Toleranz, sondern eine zeitlich begrenzte, vorübergehende «Toleranz» respektive Unempfindlichkeit als Ziel. Die Dauer dieser Toleranz bleibt dabei oft unbekannt. Sie hängt vom Medikament, von Prof. Kathrin Scherer-Hofmeier patientenspezifischen Faktoren und vom Typ der initialen Reaktion ab. Erreicht wird die Unempfindlichkeit gegenüber dem Medikament durch schrittweise Erhöhung von sehr kleinen Dosen in fixen Zeitintervallen, bis schliesslich die Verabreichung der vollen therapeutischen Dosis möglich ist (1). Eine Arzneimitteldesensibilisierung kommt in Betracht, wenn eine (schwere) Erkrankung mit einem problematischen Medikament behandelt werden muss, für das keine gleichwertige therapeutische Alternative vorhanden ist. Zudem sollte die Unverträglichkeitsreaktion gut dokumentiert sein. Als absolute Kontraindikationen für eine Desensibilisierung gelten schwere systemische Überempfindlichkeitsreaktionen (severe cutaneous adverse drug reactions [SCAR], Vaskulitis, drug reactions with eosinophilia and systemic symptoms [DRESS], Zytopenie, schwere Schleimhautbeteiligung), medikamentös induzierte Autoimmunstörungen, medikamentös verursachtes Fieber, Arthritis, generalisierte Lymphadenopathie, ferner arzneimittelverursachte Organbeteiligung (Hepatitis, Nephritis, Pneumonie, Zytopenie, schwere Eosinophilie). Relative Kontraindikationen, die besondere Vorsicht erfordern, sind akute generalisierte exanthematöse Pustulose (AGEP), zugrunde liegende aktive Autoimmunerkrankungen, vorbestehende schwere Nieren- oder Leberinsuffizienz, schwere Herzerkrankung sowie gleichzeitige Behandlung mit Medikamenten, die potenziell interagieren könnten.
Desensibilisierung bei Aspirinintoleranz
Ein Anwendungsgebiet für die Desensibilisierung sind Patienten mit Intoleranz gegenüber nicht steroidalen Entzündungshemmern (nonsteroidal anti-inflammatory drugs, NSAID). Dabei handelt es sich um Patienten, die aus kardiovaskulären Gründen eine Thrombozytenaggregation mit Aspirin benötigen, sowie um eine weitere Gruppe von Patienten mit NSAID-
Überempfindlichkeitsreaktionen in Kombination mit Polyposis nasi und Asthma bronchiale (M. Widal/Samter-Trias, Aspirin-Exacerbated-Respiratory Disease [AERD]). Diesen Fällen liegt kein immunologisches Geschehen zugrunde, sondern eine durch die COX-1-Hemmung verstärkte Dysbalance im Arachidonsäurestoffwechsel bei vorbestehender Atemwegsentzündung (2). Allergologen werden oft kurzfristig von Kardiologen beigezogen, wenn ein Eingriff direkt bevorsteht oder schon durchgeführt wurde und der Patient angibt, Aspirin nicht zu vertragen. Dann muss anhand der anamnestischen Informationen über das weitere Vorgehen entschieden werden. Wichtig ist die Frage, ob jemals zuvor innerhalb von 90 Minuten nach Aspirineinnahme asthmatische respektive respiratorische Symptome aufgetreten sind, denn dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit (≥ 80%) für einen positiven oralen Aspirinprovokationstest (2). Scherer-Hofmeier wendet in solchen Fällen ein fünfstufiges Desensibilisierungsschema an (Kasten 1), das sich als sicher erwiesen hat, aber eine genaue Überwachung erfordert. Bei Patienten mit AERD bestehen die Ziele der Desensibilisierung in einer Verminderung der chronischen Rhinosinusitis, der Verhinderung des erneuten Wachstums von Polypen nach Polypektomie und Sinuschirurgie sowie der Stabilisierung des Asthmas. Die Aspirindesensibilisierung wird 3 bis 4 Wochen postoperativ an 2 aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt. Am Folgetag beginnt die Erhaltungstherapie mit 2 × 600 mg/Tag, die in den folgenden Monaten schrittweise auf etwa 600 mg/Tag reduziert wird. Ein Absetzen der Therapie ist für maximal 48 Stunden möglich.
Desensibilisierung bei Reaktionen vom Soforttyp
Urtikaria und Anaphylaxie nach Verabreichung eines essenziellen Medikaments sind Beispiele für Arzneimittelallergien vom Soforttyp. Sie werden zum einen durch IgE vermittelt, daneben kommt aber auch eine nicht durch IgE vermittelte Anaphylaxie vor. Unter Pharmaka, die Reaktionen vom Soforttyp auslösen, finden sich Antibiotika, Chemotherapeutika, intravenöse Eisenpräparate, einige Biologika sowie Progesteron. Vor einer Desensibilisierung sollte wenn immer möglich eine allergologische Abklärung mittels Hauttests, IgE-Bestimmung, Basophilenaktivierungstest sowie Messung der Tryptase erfolgen. Patienten mit negativen Hauttests
CongressSelection Allergologie/Immunologie | Juni 2019
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Kasten 1:
Niederschwellige orale Toleranzinduktion mit Acetylsalicylsäure zur Thrombozytenaggregationshemmung
Schritt 1 2 3 4 5
Zeit 0 30 min 60 min 90 min 120 min
kumulative Dosis: 135 mg ab dem nächsten Tag: 100 mg/Tag
Einzeldosis 5 mg 10 mg 20 mg 50 mg 50 mg
Psychologische Faktoren seien in der Desensibilisierungssituation sehr wichtig, betonte Scherer-Hofmeier. Die Patienten stehen oft unter dem Eindruck sehr schwerwiegender anaphylaktischer Reaktionen, sind ängstlich angespannt und zeigen psychosomatische Symptome, die durch eine aufmerksame Betreuung günstig zu beeinflussen sind. Die Patienten erhalten nur notwendige Routineprämedikationen (z.B. Onkologika), aber keine zusätzlichen antiallergischen Medikamente. Dies, um die ganz frühen Zeichen einer allergischen Reaktion nicht zu überdecken. Diese sind Hautrötungen am Hals, in der Nasolabialfalte oder am Kinn, kurz bevor systemische Reaktionen auftreten. Ausserdem beschreiben die Patienten einen leichten Juckreiz an den Handflächen oder Fusssohlen. Onkologische Patienten berichten auch von neu auftretenden Kreuzschmerzen, deren Genese unklar ist.
Kasten 2:
Beispiel für eine rasche intravenöse Desensibilisierung zu 1 g Ceftazidim bei einem Patienten mit zystischer Fibrose
Schritt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Lösung* Lösung 1 Lösung 1 Lösung 1 Lösung 1 Lösung 2 Lösung 2 Lösung 2 Lösung 2 Lösung 3 Lösung 3 Lösung 3 Lösung 3
Infusionsrate 2 ml/h 5 ml/h 10 ml/h 20 ml/h 5 ml/h 10 ml/h 20 ml/h 40 ml/h 10 ml/h 20 ml/h 40 ml/h 75 ml/h
Zeit 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 15 min 186 min
* Lösung 1: 250 ml mit 0,040 mg/ml; Lösung 2 : 250 ml mit 0,400 mg/ml; Lösung 3: 250 ml mit 4,00 mg/ml. Gesamtzeit: 351 Minuten Gesamtdosis: 1000 mg
nach (2)
haben ein deutlich geringeres Risiko für die Auslösung einer Sofortreaktion während der Densensibilisierung. Für diese Situation gibt es eine ganze Reihe von verschiedenen Protokollen. Ein gebräuchliches Protokoll illustriert Kasten 2 (3). Bei Patienten, die besonders stark reagieren, können die Protokolle variiert werden. In Basel erfolgt die Desensibilisierung in einer Tagesklinik in Anwesenheit eines Assistenten, der maximal einen Desensibilisierungspatienten aufs Mal zu betreuen hat, und mehrerer Schwestern. Während der Durchführung besteht ein intravenöser Zugang, und Sauerstoffmessung und Blutdruck werden überwacht. Als möglicher Wirkungsmechanismus der Desensibilisierung wird eine Neuanordnung der Rezeptoren auf der Zellmembran der Mastozyten diskutiert, welche die verschiedenen Aspekte der Mastzellaktivierung (Kalziumeinstrom, Degranulation mit Freisetzung vorgebildeter Mediatoren, De-novo-Synthese von Lipidmediatoren) blockiert (4).
Desensibilisierung bei Reaktionen vom Spättyp
In der Literatur finden sich gegen 200 Berichte über Desensibilisierungen bei Medikamentenallergien vom Spättyp, mehrheitlich Fallserien und Einzelberichte. Klinisch handelt es sich in den Berichten um verschiedene Hauterscheinungen, wie morbilliforme und makulopapuläre Exantheme, fixe Arzneimittelexantheme, Exantheme mit Beteiligung innerer Organe, bis hin zu Stevens-Johnson-Syndrom, toxischer epidermaler Nekrolyse und AGEP. Zwei Drittel der Publikationen dokumentierten keine allergologische Abklärung. Bis anhin gibt es jedoch im Gegensatz zu Reaktionen vom Soforttyp kein universelles Protokoll. Im Allgemeinen scheinen Desensibilisierungen bei Spättypreaktionen schwieriger zu sein, und erfordern besonders langsame Protokolle. Oft waren Patienten mit HIV-Infektion oder zystischer Fibrose betroffen, entsprechend erfolgte die Desensibilisierung mehrheitlich gegen eine Reihe von Antibiotika sowie auch gegen Virustatika; vereinzelt waren ganz unterschiedliche Medikamente betroffen wie Allopurinol, Carbamazepin, Colchizin, Methylphenidat oder Onkologika. Noch bleiben viele Fragen offen. Hinsichtlich Verabreichungsroute, Dosiserhöhung und Intervallen herrscht keine Übereinstimmung. Bisher vorgeschlagene Protokolle umfassten 12 Schritte mit Verdoppelung der Dosis oder 7 Schritte mit zehnfacher Dosissteigerung, und die Dauer des Prozederes variierte von vielen Tagen bis zu Wochen. Bei sehr langsamen Protokollen zur Antibiotikadesensibilisierung steht die Frage nach möglichen Resistenzentwicklungen im Raum. Auch hinsichtlich Prämedikation besteht kein Konsens. L
Halid Bas
Referenzen: 1. Scherer K et al.: Desensitization in delayed drug hypersensitivity
reactions — an EAACI position paper of the Drug Allergy Interest Group. Allergy 2013; 68(7): 844–852. 2. Castells M: Desensitization for drug allergy. Curr Opin Allergy Clin Immunol 2006; 6(6): 476–481. 3. White AA et al.: Aspirin-exacerbated respiratory disease. N Engl J Med 2018; 379(11): 1060–1070. 4. de Las Vecillas Sánchez L et al.: Drug hypersensitivity and desensitizations: mechanisms and new approaches. Int J Mol Sci 2017; 18(6), pii: E1316.
Quelle: «Desensitization in drug hypersensitivity», 21st Course, Allergy and Immunology Update (AIU), 25. bis 27. Januar 2019 in Grindelwald.
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