Transkript
Cardiology Update
Interview mit Prof. Gerhard Hindricks, Leipzig
Neue Player im Bereich der Digitalisierung: Hinsehen allein reicht nicht aus
Foto: vh
Mit zunehmender Digitalisierung melden sich im Gesundheitsbereich Unternehmen zu Wort, die bis dahin nicht speziell für ihre medizinische Expertise bekannt waren. Über die Chancen, aber auch die Risiken solcher Angebote sprachen wir mit Prof. Dr. Gerhard Hindricks vom Herzzentrum Leipzig, der sich seit Jahren für den Einsatz neuer Technologien zum Wohl der Patienten engagiert.
Sie haben über gewaltige Entwicklungen im
Bereich der Digitalisierung gesprochen. Zum
einen über die grosse Apple-Heart-Study mit
mehr als 400 000 Teilnehmern. Eine beeindru-
ckende Dimension …
Prof. Dr. Gerhard Hindricks: Das Beeindru-
ckende an der Apple Heart Study ist, dass sie
erstmals in den Bereich der Bürger gegangen ist,
ein Sektor, dem sich die traditionellen Struktu-
Prof. Gerhard Hindricks
ren im Gesundheitswesen nie wirklich ausreichend intensiv gewidmet haben. Wir haben
immer darauf gewartet, dass kranke Menschen zu uns kom-
men, und nie intensiv genug darauf geschaut, was wir tun
müssen, damit es gar nicht so weit kommt. Das hat Apple
nun anders gemacht.
Apple Heart Study
In Zusammenarbeit mit der Stanford-Universität hat Apple eine USA-
weite Studie lanciert. Alle Personen über 22 Jahre, die eine Apple Watch
Serie 1 bis 3 und ein iPhone 5s oder neuer besitzen, konnten daran teil-
nehmen, indem sie die Apple-Heart-Study-App installiert haben (1). Auf
Basis der Daten, die mittels Apple Watch erhoben wurden, sollten Puls-
unregelmässigkeiten bis hin zu Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflim-
mern identifiziert werden. Bei Auffälligkeiten wurden die Teilnehmer via
Uhr und Handy informiert, sie erhielten das Angebot einer Telekonsulta-
tion und gegebenenfalls einen Patch zur ergänzenden Aufzeichnung
ihres EKG. Innerhalb von 8 Monaten gelang es, mehr als 400 000 Teil-
nehmer zu rekrutieren. Erste Ergebnisse wurden an der 68. ACC-Jahres-
tagung 2019 vorgestellt (2). Alles in allem erhielten rund 2000 Men-
schen (0,52%) eine entsprechende Benachrichtigung (positiver prädikti-
ver Wert 0,84), rund 650 Teilnehmer liessen ein EKG aufzeichnen, 450
EKG konnten analysiert werden. Unter Letzteren wurde bei rund einem
Drittel ein Vorhofflimmern diagnostiziert. Ungefähr die Hälfte derjeni-
gen, die eine Benachrichtigung erhalten hatten, suchten den Rat eines
Arztes.
Mü
Betrachtet man das positiv, und der erste Blick sollte immer positiv sein, dann sind sie auf die Bürger zugegangen, um sehr früh, schon in vorklinischen Stadien einer Erkrankung, Hinweise darauf zu finden und offenlegen zu können. Wann braut sich etwas über einem zusammen? Was kann man im Bereich der Prävention gegebenenfalls machen? Eine Erkrankung zu verhindern ist ja prinzipiell der bessere Ansatz als deren Behandlung.
Und wie sind diese Bürger rekrutiert worden? Die Studie ist nach dem Prinzip des Crowdfundings gemacht, wer wollte, konnte dabei mitmachen: «Kauft die Uhr und sign up for the trial!» Bemerkenswert ist auch, dass alles in der Rekrutierungsphase, im Informationsfluss, in der Abwicklung der Studie bis zur Diagnose des Vorhofflimmerns im Wesentlichen von Ferne geschieht. Ich halte das für einen wesentlichen Fortschritt im Gesundheitswesen, um den kommenden Herausforderungen gerecht zu werden. Die Hauptsache ist, dass wir durch diese Automatisierung nicht Pfleger oder Arzt durch irgendwelche Algorithmen ersetzen wollen. Wir wollen Methoden entwickeln, mit denen wir den Menschen im Gesundheitswesen wieder die Zeit geben können, das einzusetzen, wofür sie einzigartig sind: Das sind Empathie und Emotionen.
Zurück zur Apple-Studie, was kann man denn mit den Daten von gesunden Bürgern anfangen? Das macht Apple hier in eindrucksvoller Art und Weise vor, der Doktor in dem Modell heisst nicht zufällig Dr. Appleseed. Nicht zuletzt werden damit Patientenströme vorgebahnt, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem das traditionelle Gesundheitswesen noch gar keinen Zugriff hatte. Durch diese Studie erhält Apple diesen Zugang und kann Risikoprofile mit viel grösserer Präzision und sehr viel vielschichtiger verfolgen, als das bislang möglich war. Man kann das Risikoverhalten ansehen, das EKG mit Bewegungsmustern paaren, mit dem Kaufverhalten, mit Versicherungsverhalten, mit Herzfrequenzen, mit dem Telefonverhalten und – hier wird es wirklich gruselig – dem Frequenzspektrum der Stimme.
6 CongressSelection Kardiologie | Mai 2019
Cardiology Update
Damit können sie herausfinden, was mit dem Menschen pas- lang nicht aufgenommen haben, sei es aus sozialen Gründen,
siert. Ein Beispiel verdeutlicht das auf eindrucksvolle Weise: aus geografischen oder auch aus ökonomischen Gründen.
Heute weiss Walmart anhand des Kaufverhaltens eher, dass Wir sind durchaus ausgrenzend: Gesundheit für dich nicht,
Frauen schwanger sind, als diese selber. Das zeigt, was mit für mich ja. Und da bietet die digitale Medizin gigantische
Datenmapping alles möglich ist und wie intensiv auch das, Möglichkeiten, etwas zu verändern. Mit einfachsten Mitteln
was wir an Verhaltensmustern unter unserem Radar ablie- konnte in Afrika etwa die Gesundheitsfürsorge von schwan-
fern, bei entsprechender Analyse genutzt werden kann, um geren Frauen verändert werden. Innerhalb von Monaten
damit etwas zu machen. Hoffentlich etwas Gutes, aber das konnte die Sterblichkeit reduziert werden. Bei Infektions-
darf man nicht bei allen voraussetzen ...
krankheiten können telemedizinische Informations- und Ver-
sorgungsketten Aufklärung ermöglichen und
Wir wollen Methoden entwickeln, mit denen wir
Epidemien vermeiden helfen. Die Chancen und Risiken der digitalen Medizin sind heraus-
den Menschen im Gesundheitswesen wieder die Zeit
ragend. Beide Seiten der Münze bedürfen unserer zugewandten Betrachtung und aktiven Be-
geben können, das einzusetzen, wofür sie einzigartig gleitung der Entwicklung. Hinsehen allein
sind: Das sind Empathie und Emotionen.
reicht nicht mehr aus.
Was macht Apple mit den erhobenen Daten?
Gibt es ein Feedback, wenn etwas auffällt?
Die Apple Heart Study wird wissenschaftlich
Wie ist das zu verstehen?
von Topwissenschaftlern der digitalen Medizin in Stanford
Ich bin kein Verschwörungstheoretiker und nicht von Ängs- begleitet. Die tun alles dafür, was sie können , dass ethisch und
ten getragen. Meine gesamte berufliche Karriere war getrie- gesellschaftsverträglich mit Daten umgegangen wird. Trotz-
ben von der Idee, durch neue Technologien Dinge besser zu dem glaube ich, dass die gesamte Szene so unterreguliert ist –
machen. Ich bin heute im Wesentlichen «Change Medizi- und so weit unter dem Radar unserer Aufmerksamkeit fliegt
ner», und bemühe mich, Menschen zu bewegen, etwas an- – dass vieles von dem, was mit solchen Daten heute schon ge-
ders zu machen, als sie das früher getan haben. Trotzdem ist macht wird, gar nicht bewusst vorgetragen wird, wohl wis-
dies gleichzeitig das Feld, in dem mich die grössten Sorgen send, dass das Ängste schürt und zur Regulation führt. Die Er-
und Nachdenklichkeiten berühren, die mich in meiner Medi- gebnisse werden einfach sukzessive in die Versorgungssysteme
zinkarriere jemals erreicht haben.
eingespielt – so ähnlich, wie man uns heute aufgrund unserer
Und deshalb bin ich so aufmerksam. Um nicht die Kontrolle Bewegungsmuster im Internet Reisen empfiehlt, Kleidung et
zu verlieren, über das, was passiert, ist es wichtig, dass wir cetera, alles, was zu uns passt. Auch im Gesundheitsbereich
darüber sprechen und Transparenz herstellen und Offenheit gibt es ein sehr grosses Spektrum an möglichen Angeboten,
einfordern. Dass wir zum Beispiel den neu entstehenden Ak- von Lifestyle-Produkten, Lifestyle-Modifikationen bis hin zu
teuren abverlangen, Ziele offenzulegen. Und am Ende glaube Operationen.
ich, und das sage ich als durch und durch liberaler Zeitgeist, Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Patientenströme
dass Regulation hier ein sinnhafter Ansatz ist. Denn die Ge- den Datenströmen folgen werden. Wer die Kontrolle über die
sundheit folgt nicht den Gesetzen des Marktes.
Daten hat, wird die Kontrolle über Patientenströme haben. Je
früher ich den Kontakt herstelle und Men-
Und am Ende glaube ich, und das sage ich als durch und durch liberaler Zeitgeist, dass Regulation hier
schen intensiv an mich binde, solange sie noch Bürger sind, sie mit attraktiven Ange-boten begleite, desto intensiver bleiben diese Kontakte.
ein sinnhafter Ansatz ist. Denn die Gesundheit folgt nicht den Gesetzen des Marktes.
Auch als Patient lässt man sich dann Empfehlungen aussprechen. Die grossen Datenverarbeiter werden sich verstärkt in den Ge-
sundheitsbereich einbringen, in Netzwerke
gehen und präferenzielle Behandlungspfade
Wenn man Apple, Google und Amazon als zukünftige «Big haben, die möglicherweise auch kommerziell getrieben sein
Player» im Gesundheitsbereich sieht, scheint die Marktper- können.
spektive aber doch eine Rolle zu spielen ...
Die Marktperspektive für die grossen Datenverarbeiter und Was passiert denn heute mit den Gesundheitsdaten ausser-
-händler ist herausragend, Gesundheit ist einer der sichersten halb von Studien?
Märkte überhaupt. Egal ob die Wirtschaft boomt oder zu- Milliarden von Einzeldaten werden heute schon unter der
rückgeht, im Gesundheitssektor verdienen Sie aus guten Perspektive der Gesundheitsrelevanz und der gesundheits-
Gründen immer Geld.
orientierten Verwertbarkeit analysiert, von Fitnesstrackern,
Rein wirtschaftlich ist das also eine grosse Dimension. Ich Apple Watches, Smartphones, Tablets und Apps. Und es gibt
möchte das aber nicht zu negativ beladen. Auf der anderen null Kontrolle, was mit den Daten passiert. Die Verknüpfung
Seite ist es ja auch eine grossartige Chance, etwas für eine von Lifestyle, dem «Chic-und-modern-sein»-Gefühl, mit
grosse Zahl von Menschen möglich zu machen, die wir in un- dem ungefragten und in weiten Bereichen illegalen Abfischen
sere Gesundheitsfürsorge aus den vielfältigsten Gründen bis- von Daten, das hat durchaus kriminelles Potenzial.
CongressSelection Kardiologie | Mai 2019
7
Cardiology Update
Und die Toleranz der Bürger ist erschreckend. Fast alle ma- Das darf bei allem Respekt vor intellektuellem Eigentum
chen mit und geben ihre Daten in irgendwelche Apps ab, von nicht dazu führen, dass Schlüsselelemente in der Gesund-
denen keiner weiss, wem die gehören und was damit ge- heitsfürsorge über grosse kommerzielle Unternehmen so
schieht.
reglementiert werden, dass andere von dem Nutzen dieser
Methoden ausgeschlossen werden. Da gibt es
Die Chancen und Risiken der digitalen Medizin sind herausragend. Beide Seiten der Münze bedürfen
dann einen schmalen Grat zwischen schützenswerten Aspekten der Wirtschaftlichkeit und den einzufordernden allgemeingesellschaftli-
unserer zugewandten Betrachtung und aktiven Begleitung der Entwicklung.
chen Zielen, Erwartungen und Rechten der Bürger. Das Ausmass der eruptiven Entwicklung wird
deutlich, wenn man die Einfachheit des Prozes-
ses sieht. Eines der wesentlichen Hindernisse
Das sind Fitness- und Lifestyle-Apps, die von grossen Kon- im Umgang mit grossen Datenmengen in der Medizin ist der-
zernen gefördert werden, die uns mit bunten Bildern fragen: zeit die Inhomogenität der Datensätze. Es gibt Spitäler, die
«Wie ist denn dein Leben so, bist du lustig oder traurig, wie- mit unterschiedlichen Systemen bereits komplett digital ar-
viel hast du dich bewegt?» Die Antworten werden gekoppelt beiten, andere arbeiten immer noch weitgehend auf Papier.
mit intimsten Daten, wie etwa der Herzfrequenz, die wir ein- Um grosse gepoolte Datenmengen zu analysieren, musste
fach abgeben …
man Hunderte von Menschen involvieren, um die Daten zu-
nächst einmal zusammenzuführen. Das ist heute bei Einsatz
Und was macht nun Google im Gesundheitssektor? Und vor moderner digitaler Infrastruktur im Krankenhaus weitge-
allem, wie schätzen Sie diese Aktivitäten ein?
hend überflüssig. Über die von Google entwickelte Plattform
Google ist lange Zeit in der Gesundheitswelt komplett unter können alle Daten herausgefiltert und einer Analyse zugäng-
dem Radar geflogen, aber eigentlich war schon lange klar, lich gemacht werden. Nicht nur rezeptierte Medikamente,
dass da etwas kommen muss. Die Gesundheit ist ein so rele- durchgeführte Untersuchungen und zu jedem Zeitpunkt der
vanter, gewinnbringender, gesundheitsbringender und fort- Versorgungskette alle biologisch messbaren Daten, nein, son-
schrittlicher Ansatz, bei all den Vorbehalten, die ich eben dern auch handschriftliche Notizen der Ärzte fliessen in die
schon geäussert habe.
Auswertung ein.
Diese Informationen waren bislang nicht greif-
Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Technik befassen,
bar, sind aber für das Verständnis der Erkrankung wirklich wichtig. Und wenn man das noch mit der Selbstevaluation des Patienten
wir werden Möglichkeiten haben, das Leben zu gestalten, im Guten wie im Schlechten, die voll-
verknüpft – die prognostisch wertvollste Frage bleibt: «Wie geht es Ihnen heute?» –, dann wird der prädiktive Wert dessen, was man aus
kommen anders sind als bislang.
diesen Datensätzen herausziehen kann, besser als alles, was wir bislang gesehen haben.
Dass das jetzt so ein «Bäng» ist – der wiederum völlig unter dem Radar bleibt – das hat mich schon überrascht. Die Tatsache, dass Google einen Patentantrag für einen Prozess zur Bearbeitung von Routinedaten aus dem Gesundheitssystem gestellt hat, sollte aufhorchen lassen. Da geht es um Claims und um Geld.
Googles Patentantrag
Ende Januar publizierte das US-Patentamt einen Patentantrag von Google, der Hinweise darauf gibt, wie Google im Bereich der elektronischen Gesundheitsakte durch den Einsatz von Deep Learning zukünftig Informationen generieren möchte. Mithilfe der von Google entwickelten Technologie ist es möglich, verschiedenste Daten eines Patienten zu einem einzigen chronologischen Dokument zusammenzufassen. Diese Datensammlung soll dazu dienen, zukünftige Ereignisse besser vorhersagen zu können und die Behandlungsqualität zu verbessern (3). Mü
Was würde denn das in der Konsequenz für uns bedeuten? Das rollt supertolle Perspektiven für chronisch Kranke aus und macht prädiktive, präventive Medizin in einem bislang unvorstellbaren Ausmass möglich. Es ermöglicht, die Menschen zu begleiten, Engagement, inklusive Gesundungsprogramme, die Möglichkeiten sind herausragend. Genauso sind die Möglichkeiten erschütternd, bestimmten Menschen und Gruppen aufgrund ihrer Risikoprofile unangemessene Nachteile zuzumuten. Menschen, von denen wir heute schon genau wissen, dass sie schwerstkrank werden, können entrechtet und von sozialer Beteiligung und Versorgung ausgeschlossen werden. Wir dürfen ja nicht so naiv sein zu glauben, dass das nicht passiert. Das passiert ja heute schon, und dem stellen wir uns ja gesellschaftlich viel zu wenig. Die Möglichkeit der vorgeburtlichen Diagnose von Erbkrankheiten beispielsweise verändert unser Verhalten, die Diagnose Trisomie ist heute eine der tödlichsten Diagnosen im Gesundheitssystem. Vielleicht definieren wir bald einen IQ-Grenzwert oder eine Grösse, die uns nicht behagen? Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Technik befassen,
8 CongressSelection Kardiologie | Mai 2019
Cardiology Update
wir werden Möglichkeiten haben, das Leben zu gestalten, im Wearables haben das herausragende Potenzial, die Last der
Guten wie im Schlechten, die vollkommen anders sind als bis- Patienten durch die Behandlung geringer zu halten – dieser
lang. Der potenzielle Verlust der Vielfalt ist dabei eines der «Treatment Burden» ist eine ganz wichtige Stellgrösse im
grössten gesellschaftlichen Risiken.
Verständnis von Patientenwerten. Wenn ich, um meine Ge-
sundung zu unterstützen, nicht mehr zum Arzt gehen muss,
Wie können diese Entwicklungen die notwendige Aufmerk- um mir EKG ableiten zu lassen, sondern das auch über ein
samkeit erhalten?
T-Shirt funktioniert, komplett, sicher und qualitativ vielleicht
Als Erstes ist es wichtig, dass wir uns offen und interessiert sogar wertvoller als in den fünf Minuten in der Praxis, dann
damit beschäftigen, und uns zugewandt um diese Entwick- ist das ein wesentlicher Fortschritt.
lungen kümmern. Das ist ein Thema, das sowohl den nieder- Ich würde dabei zwei Dinge fragen: Woher kommt die Tech-
gelassenen Hausarzt als auch den hochspezialisierten Exper- nologie und welche absehbaren Zwecke sind damit verbun-
ten in der Uniklinik betrifft.
den? Werden die Wearables von einem Pharmahersteller an-
geboten, der möchte, dass bestimmte Medi-
Wir werden im Zuge dieser Regulation möglicherweise
kamente stärker in den Markt kommen? Oder sind das Produkte, deren Kosten von
als forschungsverhindernde Rückständler beschimpft den Kostenträgern übernommen werden
werden – damit kann ich gut leben. Eine gewisse Entschleunigung dieser Prozesse, bis
oder an denen ich mich beteiligen kann? Wenn sie meiner Gesundheit gut tun, und meine Daten sehr wahrscheinlich weitge-
wir deren Auswirkungen auf unser Leben projizieren können, muss nicht unbedingt schlecht sein.
hend sicher sind, vernünftig und vertretbar behandelt werden, dann spricht nichts dagegen, Wearables einzusetzen.
Ich würde allen empfehlen, sich zunächst einmal zu den Möglichkeiten digitaler Datenmengen, künstlicher Intelligenz und Maschinen lernen zu belesen. Ein wirklich einfacher und auch unterhaltsamer Einstieg in die Materie bietet sich mit dem Aufsatz von Thomas Ramge «Mensch und Maschine: wie künstliche Intelligenz und Roboter unser Leben verändern» – erschienen im Reclam Verlag. Davon ausgehend fällt es dann leichter, mitzudiskutieren, nachzufragen und Dinge nicht einfach abzublocken, von denen wir nichts verstehen. Dann ist es eine Frage der Transparenz und Offenheit und ein Stück weit auch eine Frage der Regulation und Kontrolle. Wir müssen Methoden entwickeln, die dabei helfen, gesamtgesellschaftliche Interessen vor Partikularinteressen Einzelner zu stellen und durchzusetzen. Wir werden im Zuge dieser Regulation möglicherweise als forschungsverhindernde Rückständler beschimpft werden – damit kann ich gut leben. Eine gewisse Entschleunigung dieser Prozesse, bis wir deren Auswirkungen auf unser Leben projizieren können, muss nicht unbedingt schlecht sein.
Müsste man vor diesem Hintergrund den Patienten von Wearables besser abraten? Nein, meiner Meinung nach gibt es gute Gründe, sich mit Wearables zu beschäftigen. Sie haben ein hohes Potenzial, Gesundung zu unterstützen und Krankheitsverschlechterung frühzeitig zu erkennen, früher als mit traditionellen Methoden.
Überwiegen in Ihren Augen die Chancen
oder die Risiken?
Der nicht reflektierte Run birgt Risiken. Aber in erster Linie
sehe ich die grossartigen Möglichkeiten dieser Technologien,
gerade auch der Wearables und Sensoren, insbesondere im
Bereich der chronischen Erkrankungen. Zum Schluss drei
Beispiele, die das verdeutlichen: Die grossen endemischen Er-
krankungen, die uns im Bereich der Inneren Medizin in den
nächsten 30 bis 50 Jahren begleiten werden, sind Überge-
wicht, metabolisches Syndrom, Bluthochdruck und Diabe-
tes. Diese wesentlichen Treiber für Herzinfarkte, Schlagan-
fälle und vieles, was gesundheitlich bedrohlich ist, sind in
idealer Weise geschaffen für den begleitenden Einsatz von
Wearables und Sensoren. Zur Behandlung und Patientenfüh-
rung in diesen Bereichen gibt es grosse und herausragende
Chancen, um die Patientenwerte «du lebst besser» oder «du
lebst länger» nachhaltig zu bedienen.
L
Das Interview führten Christine Mücke und Valérie Herzog.
Literatur: 1. ClinicalTrials.gov. Identifier: NCT03335800. 2. Turakhia M and Perez M: Results of a large-scale, App-based
study to identify atrial fibrillation using a smartwatch: The Apple Heart Study, präsentiert am 16. März im Rahmen des ACC 2019. 3. Rajkomar A et al.: Scalable and accurate deep learning with electronic health records. npj Digital Medicine (2018)1:18; doi:10.1038/s41746-018-0029-1.
CongressSelection Kardiologie | Mai 2019
9