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Cardiology Update
Interview mit Prof. Roger Lehmann, Zürich
Beim Typ-2-Diabetiker Herz und Niere schützen
Foto: vh
Viele Patienten haben zum Zeitpunkt der Typ-2-Diabetes-Diagnosestellung bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung, die jedoch unentdeckt ist. Welche Strategien sich bei diesen Patienten empfehlen, erklärte Prof. Roger Lehmann, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung im Universitätsspital Zürich, im Interview anlässlich des Cardiology Update in Davos.
Wie fühlen Sie sich als Diabetologe an einem
Kardiologenkongress?
Prof. Roger Lehmann: Die zunehmenden vor-
teilhaften Ergebnisse von einigen Antidiabe-
tika auf kardiovaskuläre Outcomes zeigen,
dass eine Zusammenarbeit zwischen Diabeto-
logen und Kardiologen von grossem Nutzen
für die Patienten ist. Sie soll Kardiologen dazu
ermutigen, bei Patienten mit kardiovaskulären
Prof. Roger Lehmann
Erkrankungen und Typ-2-Diabetes ein kardioprotektives Antidiabetikum wie SGLT2-Hem-
mer zu verordnen oder einen GLP-1-Rezeptoragonisten zu
empfehlen, dessen Anwendung durch das Injizieren jedoch
etwas anspruchsvoller ist. Die Behandlung des Diabetes
durch Kardiologen oder Hausärzte ist sinnvoll. Denn es gibt
weit mehr Diabetespatienten als Diabetologen. Die schwieri-
gen Fälle, bei denen eine Insulintherapie etabliert werden
muss, sollten dagegen einem Diabetologen zugewiesen wer-
den. Auch Patienten mit Typ-1-Diabetes sind beim Diabeto-
logen in der Regel besser aufgehoben, weil dieser mit genü-
gend Fällen über eine ausreichende Erfahrung verfügt.
«Wenn die Möglichkeit besteht, die Nierenfunktion zu stabilisieren, sollte man diese nutzen.»
Wie kommt der kardiovaskuläre Nutzen von SGLT2-Hemmern und GLP-1-Rezeptoragonisten zustande? Gut erklärbar ist der Nutzen über die Blutdruck- und Blutzuckersenkung. Alles andere ist eigentlich noch ziemlich unklar. Beispielsweise wird etwa 90 Prozent der Energie in der Niere für die Natriumrückresorption aufgewendet. Lässt sich ein Teil davon vermeiden, spart dies Sauerstoff und Energie und schützt eine eventuell schon angeschlagene Niere zusätzlich. In randomisierten, kontrollierten Studien wurde eine Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen bei naturgemäss sehr
eng selektionierten Patienten gezeigt. Real-World-Studien konnten diesen Effekt bei Patienten im Praxisalltag bestätigen, doch braucht es dafür eine sehr lange Beobachtungszeit, gerade wenn die Nierenfunktion bei Studieneinschluss nicht sehr beeinträchtigt ist.
Welche Patienten sollten ein kardioprotektives Antidiabetikum erhalten? Die Schwierigkeit in der Praxis besteht darin, dass Erkrankungen mit hohem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei vielen Patienten oft gar nicht bekannt sind. Nierenfunktionsstörungen, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Karotisstenosen wie auch Herzerkrankungen selbst, die noch keine grossen Beschwerden verursachen, sind oft gar nicht diagnostiziert. Es stellt sich damit die Frage, ob darauf überhaupt Rücksicht genommen werden soll und ob nicht generell alle Patienten mit Typ-2-Diabetes ein kardioprotektives Antidiabetikum erhalten sollen. Schliesslich hat ein Typ-2Diabetiker per se ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wie beispielsweise auch Herzinsuffizienz. In der Studie DECLARE mit Dapagliflozin hatte es auch einen Anteil Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankungen. Die Beobachtungszeit von vier Jahren war für eine Primärprävention für kardiovaskuläres Outcome zwar kurz, doch waren die bisherigen Resultate vielversprechend. Eigentlich sollten alle Patienten mit Typ-2-Diabetes schon sehr früh zusammen mit Metformin in den Genuss von SGLT2-Hemmern oder GLP-1-Rezeptoragonisten kommen können, das würde die Therapie wesentlich vereinfachen. Wird damit keine ausreichende Blutzuckersenkung erreicht, wäre eine Kombination von allen drei der weitere logische Schritt. Mit dieser Kombination lassen sich Herz und Nieren schützen. Mit SGLT2-Hemmern lässt sich auch das Risiko für eine Herzinsuffizienz senken.
Die SGLT2-Hemmer-Studien haben eine unterschiedliche Positionierung. Sind die einen SGLT2-Hemmer gut für die Sekundärprävention, die anderen für die Primärprävention? Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Studien mit den
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drei SGLT2-Hemmern Empagliflozin, Dapagliflozin und Canagliflozin nicht miteinander vergleichen lassen. Die Einschlusskriterien waren in jeder Studie anders. Dennoch glaube ich, dass es sich bei den beobachteten Effekten auf Herz und Niere um einen Klasseneffekt handelt und es keine Rolle spielt, welcher SGLT2-Hemmer angewendet wird.
Stimmt das auch für GLP-1-Rezeptoragonisten? Bei dieser Substanzklasse gilt dies für die humanen Vertreter wie Semaglutid, Liraglutid und Dulaglutid. Dies konnte bei den kurzwirksamen von Exenatid abgeleiteten Substanzen bisher nicht nachgewiesen werden. Das Ausmass der Gewichtsreduktion hängt wiederum von der Molekülgrösse und der Passage durch die Blut-Hirn-Schranke ab. Je kleiner das Molekül, desto besser die Penetration ins Hirn und die Appetithemmung. Die Wirkung auf das HbA1c ist jedoch überall ähnlich.
«Je tiefer der Wert der eGFR, desto mehr Fibrose entsteht im Myokard.»
Wann ist der beste Zeitpunkt für die Gabe von SGLT2-Hemmern oder humanen GLP-1-Rezeptoragonisten? Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen einer sich verschlechternden Nierenfunktion und dem ansteigenden kardiovaskulären Risiko. Wenn die Möglichkeit besteht, die Nierenfunktion zu stabilisieren, sollte man diese nutzen. Ein direkter Zusammenhang besteht auch zwischen Typ-2-Diabetes und Herzinsuffizienz. Und nicht jeder Typ-2-Diabetiker erhält routinemässig ein Echokardiogramm. Deshalb kommt es meiner Meinung nach nicht darauf an, ob der Patient in die Klasse der Primär- oder der Sekundärprävention gehört. Der beste Zeitpunkt für eine Therapie mit kardioprotektiven Antidiabetika beim Typ-2-Diabetiker ist zweifellos der Beginn der Medikationspflichtigkeit nach erfolglos gebliebenen Lebensstilmassnahmen.
«Die erste Frage, die man sich stellen sollte, ist jene, ob der Patient Insulin braucht.»
Typ-2-Diabetes kann direkt zu einer Herzinsuffizienz führen. Wie funktioniert das? Man hat früher bereits gesehen, dass Frauen mit Typ-2-Diabetes viel weniger an koronarer Herzkrankheit leiden, aber trotzdem eine Herzinsuffizienz entwickeln, ohne sichtbare Spuren in den Koronarien. Das führte zur Annahme, dass es sich bei Frauen um eine andere Erkrankung handelt, eine der kleinen Gefässe und der Fibrosierung des Myokards.
Bei sehr früher Entdeckung des Typ-2-Diabetes, lässt sich zwar durch die Gabe von Statinen, der Kontrolle des Blutdrucks und des Blutzuckers die Entwicklung der koronaren Herzerkrankung bremsen. Doch die Myokardfibrosierung beeinflusst dies nicht. Man konnte des Weiteren beobachten, dass je tiefer der Wert der geschätzten glomerulären Filtrationsrate liegt, desto mehr Fibrose im Myokard entsteht. Wenn man sich vor Augen hält, dass die häufigste Ursache von chronischer Nierenerkrankung der Typ-2-Diabetes ist, ist es sinnvoll, an diesen Zusammenhang zu denken.
Kann ein SGLT2-Hemmer auch Herz und Nieren von Typ-1Diabetikern schützen? Typ-1-Diabetiker würden profitieren zur Verhinderung einer Herzinsuffizienz, doch ist die Therapie hier viel anspruchsvoller. Es bedarf einer sehr hohen Compliance, und die Insulinmenge darf trotz des sinkenden Blutzuckers nicht allzustark reduziert werden, sonst droht eine Ketoazidose. In Studien hat man gesehen, dass Ketoazidosen bei Patienten mit Typ-1-Diabetes unter SGLT2-Hemmern dreimal häufiger auftreten. Der potenzielle Nutzen wiegt das hohe Risiko bei einem breiten Einsatz somit nicht auf. Bei sehr zuverlässigen Typ-1-Diabetikern, die in der Lage sind, die «sick day rule» zu befolgen, ist ein Einsatz von SGLT2-Hemmern denkbar. Diese besagt, dass SGLT2-Hemmer und Metformin bei Krankheit, Erbrechen, Durchfall oder geplanten Operationen sistiert werden sollen. Während dieser Zeit kann der Blutzucker mit Insulin gesenkt werden, falls eine Entgleisung droht.
Was ist wichtig bei der Diabetesbehandlung? Die erste Frage, die man sich stellen sollte, ist jene, ob der Patient Insulin braucht. Auch mit 60 Jahren kann man noch einen Typ-1-Diabetes entwickeln. Diese Patienten werden häufig fälschlicherweise als Typ-2-Diabetiker diagnostiziert und therapiert. Ein mit Antidiabetika schwer beherrschbarer Blutzucker und ein rasch zunehmender Insulinbedarf sollten jedoch hellhörig machen.
SGLT2-Hemmer begünstigen Genitalmykosen mit Candida. Lässt sich diesen vorbeugen? Eine gute Hygiene nach dem Wasserlassen mittels Trockentupfen des Genitalbereichs hilft sicher. Beschnittene Männer haben beispielsweise keine Genitalmykosen, da die Urinaustrittsstelle sofort abtrocknet. Nicht beschnittene Männer soll man darauf hinweisen, dass der Resturin auf der Glans penis abgewischt werden soll, damit kein Flüssigkeitsfilm zwischen Vorhaut und Glans entstehen kann. Frauen soll ebenfalls empfohlen werden, den Genitalbereich trocken zu tupfen. Bei Stressinkontinenz reicht es dennoch nicht immer, alles trocken zu halten und bei ausgeprägter Problematik muss auf den SGLT2-Hemmer verzichtet werden. In den übrigen Fällen empfiehlt sich eine vorsorgliche Zusatzverordnung von Canesten®, Ovula plus Creme für Frauen und Creme für Männer, damit die Patienten bei den geringsten Anzeichen sofort und überall, auch in den Ferien, mit der antimykotischen Therapie beginnen können, wenn es die Situation erfordert. Bei einer sofortigen Therapie ist das Problem meist in zwei Tagen erledigt. Daher soll das Antimykotikum proaktiv verschrieben werden.
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In Deutschland gab es einen «Rote-Hand-Brief» betreffend Fournier-Gangrän unter Dapagliflozin. Betrifft das die SGLT2-Hemmer allgemein? Es ist unter Dapagliflozin beobachtet worden, kommt aber insgesamt sehr selten vor. Man muss jedoch sehen, dass entzündete, bis in die Leistengegend ausgedehnte Candida-Genitalinfekte eine Eintrittspforte für andere Bakterien darstellen. Daher ist es wichtig, die Patienten darauf vorzubereiten, dass sie bei einer Candidainfektion frühzeitig behandeln oder den Arzt aufsuchen sollen, bevor die Haut entzündet ist. Dann scheint mir das kein Problem zu sein. Das FournierGangrän ist kein substanz- oder substanzklassenspezifisches Phänomen, es kann auch bei Patienten ohne SGLT2-Hemmer auftreten.
«Ein Antimykotikum soll proaktiv verschrieben werden.»
sätzlich zu Metformin beispielsweise ein SGLT2-Hemmer verordnet werden, was im Hinblick auf die Herzinsuffizienzentwicklung sinnvoll wäre. Es kann aber auch ein GLP-1-Rezeptoragonist verschrieben werden. Ist der Blutzucker damit noch nicht im Zielbereich, macht eine Dreierkombination mit der verbleibenden Substanzklasse Sinn. Lässt sich damit keine ausreichende Blutzuckersenkung erreichen, wird eine Insulintherapie notwendig.
Lässt sich mit der Kombination der verschiedenen Substanzklassen die Zeit bis zur Insulinpflichtigkeit verlängern? Mit Metformin lässt sich die Insulinresistenz senken. Damit und mit einer guten Blutzuckereinstellung lässt sich die Zerstörung der Betazellen durchaus hinauszögern. Denn sobald der Nüchternzucker ansteigt, fehlt die schnelle Insulinsekretion. Je schlechter dann die Blutzuckereinstellung ist, umso toxischer wirkt die Hyperglykämie auch auf die Betazellen. Die Insulinpflichtigkeit lässt sich beim Typ-2-Diabetiker mit einer guten Blutzuckereinstellung und mit adäquatem Lebensstil zwar nicht aufhalten, aber dennoch hinausschieben.
Wann wird es die neuen Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie zur Behandlung des Typ-2-Diabetes geben? Momentan werden sie überarbeitet. Ich bin jedoch sehr stolz darauf, dass die neuen amerikanischen und die neuen europäischen Konsensus Statements, die im letzten Jahr publiziert worden sind, neu auf die Präsenz von Komorbiditäten ausgerichtet wurden – so wie wir es in der Schweiz schon seit drei Jahren in den Empfehlungen haben. Vermutlich wird aber in den neuen Schweizer Empfehlungen die Unterscheidung von Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung wie auch mit Herzinsuffizienz bei Behandlungsbeginn keine Rolle mehr spielen. Denn viele Patienten haben zum Zeitpunkt der Typ2-Diabetes Diagnosestellung bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung, die jedoch unentdeckt ist. SGLT2-Hemmer wie auch GLP-1-Rezeptoragonisten sind gute Medikamente, die sich positiv auf die Nierenfunktion und positiv auf die Entwicklung von kardiovaskulären Ereignissen, SGLT2-Hemmer zusätzlich positiv auf die Herzinsuffizienz auswirken. Hat ein Typ-2-Diabetespatient beispielsweise bereits eine chronische Nierenerkrankung, kann zu-
Kann eine rigorose Low-carb-Diät den Typ-2-Diabetes ver-
schwinden lassen?
Mit einer Gewichtsabnahme lässt sich einiges bewirken. Ich
propagiere schon seit über zehn Jahren eine kohlenhydrat-
arme Ernährung. Praktikabel scheint mir beispielsweise das
Auslassen von Kohlenhydraten bei einer der täglichen Mahl-
zeiten. Das spart bereits ein Drittel oder gar die Hälfte der
Kohlenhydrate ein. Eine mediterrane Ernährung eignet sich
ebenso, weil sie ausgewogen ist, aber mit einem Änderungs-
vorschlag: Die Pasta soll anstatt zu Beginn erst als zweiter
Gang gegessen werden. Damit braucht es eine kleinere Por-
tion davon, weil der Hunger schon etwas gestillt ist. Das
spart auch Kohlenhydrate. Mein Rat an die Patienten ist es,
qualitativ hochstehende Nahrungsmittel zu essen, dafür
etwas weniger davon. Eine Ernährungsumstellung lässt sich
bei jungen Patienten noch eher erwirken als bei Patienten, die
schon vierzig Jahre dasselbe gegessen haben. Ich frage solche
Patienten, womit sie sich vorstellen könnten, Kalorien zu ein-
sparen, ohne ihr Lebensgefühl komplett zu zerstören. Vor-
schläge, die von den Patienten selbst kommen, sind in der
Regel nachhaltiger als diktierte Verhaltensregeln.
L
Das Interview führten Valérie Herzog und Christine Mücke.
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