Transkript
ESC
Stellenwert der Acetylsalicylsäure
Unklarer Nutzen in der Primärprävention
Acetylsalicylsäure gehört in der kardiovaskulären Prävention sozusagen zum Inventar. In der Sekundärprävention ist sie unbestritten. Am ESC-Kongress sind mehrere Studien präsentiert worden, die den Nutzen bei Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankungen hinterfragt haben. Von lieb gewonnenen Gewohnheiten scheint man sich laut den Resultaten verabschieden zu müssen.
Der Nutzen von Acetylsalicylsäure (ASS) ist in der Sekundärprävention gut belegt (1). Ob die präventive Einnahme von ASS auch zur Verhinderung eines kardiovaskulären Erstereignisses bei Personen mit moderatem kardiovaskulärem Risiko (20–30% in 10 Jahren) von Vorteil ist, prüfte die ARRIVE-Studie bei 12 546 55- bis 60-jährigen Teilnehmern, darunter befand sich ein Drittel Frauen. Die Teilnehmer erhielten täglich während 60 Monaten 100 mg ASS oder Plazebo. Als primärer Endpunkt war die Kombination aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt, instabile Angina pectoris, Hirnschlag und transiente ischämische Attacke definiert. In der ASS-Gruppe kam es bei 4,3 Prozent der Teilnehmer zu den definierten Ereignissen, unter Plazebo bei 4,48 Prozent, dies mit nicht signifikantem Unterschied (p = 0,60). ASS reduzierte damit nicht das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen. Die Compliance unter den Teilnehmern war jedoch sehr schlecht (< 60%), sodass die Resultate von jenen, die ihre Tabletten schliesslich regelmässig einnahmen, separat analysiert wurden: In der Per-Protocol-Analyse von ausschliesslich Teilnehmern mit guter Compliance reduzierte ASS das Auftreten des kombinierten Endpunktes trendmässig, das Auftreten von Herzinfarkten jedoch signifikant um 47 Prozent (Hazard Ratio [HR]: 0,53; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,36–0,79; p = 0,0014). Nebenwirkungen wie Verdauungsbeschwerden, Nasenbluten, gastroösophagealer Reflux und Magenschmerzen traten in der ASS-Gruppe signifikant häufiger auf (16,75 vs. 13,54%), ebenso gastrointestinale Blutungen von meist milder Natur (9,97 vs. 0,46%). KURZ & BÜNDIG Im primärpräventiven Einsatz ist der Nutzen von ASS unklar. Bei Diabetikern bringt ASS in der Primärprävention keinen Vorteil. Fischöl schützt Diabetiker nicht vor Herzinfarkt und Hirnschlag. ASS reduzierte das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen in dieser Studie also nicht. Patienten, die ihre ASS-Tablette jedoch einnahmen, hatten allerdings weniger Herzinfarkte, so das Fazit von Studienleiter Prof. J. Michael Gaziano, Brigham and Women’s Hospital, Boston (USA). Die Studie wurde zeitgleich mit ihrer Präsentation am ESC-Kongress im «Lancet» publiziert (2). ASS bei Diabetikern out Die ASCEND-Studie (A Study of Cardiovascular Events iN Diabetes) untersuchte den Nutzen von ASS in der Primärprävention bei Diabetikern. Es wurde getestet, ob ASS 100 mg/ Tag im Vergleich zu Plazebo bei 15 480 Patienten mit Diabetes, aber ohne kardiovaskuläre Vorgeschichte, das Risiko eines ersten ernsten kardiovaskulären Ereignisses (primärer Endpunkt) reduziert. Als primärer Sicherheitsendpunkt war die erste spitalpflichtige oder tödliche Blutung definiert. Nach 7,4 Jahren waren in der ASS-Gruppe, verglichen mit Plazebo, signifikant weniger erste schwere vaskuläre Ereignisse eingetreten (8,5 vs. 9,6%; Rate Ratio 0,88; 95%-KI: 0,79–0,97; p = 0,001). Ernste Blutungen, vor allem gastrointestinale und andere extrakraniale, traten in der ASS-Gruppe bei 4,1 versus 3,2% unter Plazebo auf (p = 0,003). «ASS reduziert zwar auch in der Primärprävention bei Diabetikern vaskuläre Ereignisse, doch ist dieser Vorteil durch die erhöhten Blutungsrate konterkariert», erklärte Studienleiterin Prof. Jane Armitage, Nuffield Department of Population Health, University of Oxford (UK). Mit der gleichen Studie wurde auch die Frage nach der möglichen Reduktion der Tumorinzidenz unter ASS beantwortet: Diese war in beiden Gruppen gleich hoch (11,6 vs. 11,5%), auch bei gastrointestinalen Tumoren (2,0 vs. 2,0%). Die Studie wurde zeitgleich mit ihrer Präsentation am ESC-Kongress im «New England Journal of Medicine» publiziert (3). Fischöl ohne Nutzen bei Diabetikern Die ASCEND-Studiengruppe verlieh noch einer zweiten, sehr weit verbreiteten Massnahme endlich mehr Evidenz: dem Nutzen von Fischöl in der kardiovaskulären Primär- 22 CongressSelection Kardiologie | Pneumologie | Diabetologie | Dezember 2018 ESC prävention bei Diabetikern. Dazu erhielten die 15 480 ASCEND-Teilnehmer täglich Fischölkapseln zu 1 g oder olivenölhaltige Plazebokapseln. Nach 7,4 Jahren war bezüglich Auftreten von schweren vaskulären Ereignissen, wie nicht tödlicher Hirnschlag, transiente ischämische Attacke oder nichttödlicher Herzinfarkt, zwischen den Gruppen kein signifikanter Unterschied auszumachen (8,9 vs. 9,2%; p = 0,55). «Das Resultat ist enttäuschend, aber konsistent mit früheren randomisierten Studien, die ebenfalls keinen kardiovaskulären Nutzen für Fischölsupplemente gezeigt hatten», resümierte Studienleiterin Dr. Louise Bowman, Nuffield Department of Population Health, University of Oxford (UK). Die Studie wurde ebenfalls zeitgleich mit ihrer Präsentation am ESC-Kongress im «New England Journal of Medicine» publiziert (4). Fischkonsum beziehungsweise eine Omega-3-Fettsäure-reiche Ernährung scheint gemäss Beobachtungsstudien einen kardiovaskulären Nutzen zu haben, so der Kommentar von Prof. Chirstopher Paul Cannon, Boston (USA). Eine niedrig dosierte Supplementierung mit Omega-3-Fettsäuren wie in der ASCEND-Studie mit einer 1-g-Dosis konnte den Vorteil jedoch nicht reproduzieren. Spannend ist deshalb, welche Resultate zurzeit laufende Studien mit höheren Dosierungen bringen werden. L Valérie Herzog Referenzen: 1. Piepoli MF et al.: 2016 European Guidelines on cardiovascular di- sease prevention in clinical practice. Eur Heart J 2016; 37: 2315– 2381. 2. Gaziano JM et al.: Use of aspirin to reduce risk of initial vascular events in patients at moderate risk of cardiovascular disease (ARRIVE): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2018, Aug 26; Epub ahead of print. 3. ASCEND Study Collaborative Group: Effects of Aspirin for Primary Prevention in Persons with Diabetes Mellitus. N Engl J Med 2018, Aug 26; Epub ahead of print. 4. ASCEND Study Collaborative Group: Effects of Aspirin for Primary Prevention in Persons with Diabetes Mellitus. N Engl J Med 2018, Aug 26; Epub ahead of print. Quellen: «Hotline Session 1 & 2», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2018, 25. bis 29. August in München. Sicherheitscheck mit Bodyscannern auch für Patienten mit Schrittmacher Weltweit benötigen mehr als 4 Millionen Patienten mit Herzinsuffizienz oder Rhythmusstörungen einen implantierten Schrittmacher oder Defibrillator. Einer Umfrage unter 800 Patienten gemäss sind acht von zehn Betroffenen unsicher, ob sie die Ganzkörperbodyscanner, die an Flughäfen oder öffentlichen Gebäuden für Sicherheitschecks verwendet werden, ohne gesundheitliches Risiko benutzen dürfen. Carsten Lennerz und Kollegen vom Münchner Herzzentrum untersuchten daher anlässlich eines Routinechecks bei 300 Patienten mit entsprechenden Implantaten die Sicherheit der Bodyscanner. Sie nutzten dabei in kontrollierter Spitalumgebung Geräte mit denselben Wellenlängen und elektromagnetischen Feldern, wie sie im Alltag zur Anwendung kommen, um herauszufinden, ob deren Signale von den Devices missinterpretiert werden und die Funktion fälschlich unterbrechen könnten. Die Forscher fanden jedoch weder elektromagnetische Interferenzen noch Anzeichen einer Malfunktion der Devices. Ihrer Ansicht nach stellen die Geräte keine Bedrohung dar und können auch von Patienten mit implantierten Devices ohne Restriktionen genutzt werden. Mü Quelle: «Security body scanners and electromagnetic interference with cardiac implantable devices: a cross-sectional study», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2018, 25. bis 29. August in München. LLL GLOBAL-LEADERS-Studie: Kein Vorteil von Ticagrelor nach Stent im zweiten Jahr Bei knapp 16 000 Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK) oder akutem Koronarsyndrom (ACS) wurden nach Einlage eines Biolimus-freisetzenden Stents randomisiert zwei verschiedene Plättchenhemmerregimes während 2 Jahren getestet. Die eine Gruppe erhielt Acetylsalicylsäure (ASS) plus Ticagrelor im ersten Monat, gefolgt von 23 Monaten Ticagrelor allein. Die zweite Gruppe erhielt 12 Monate die Standardtherapie mit dualer Plättchenhemmung (DAPT): mit ASS/Clopidogrel bei den KHK- und mit ASS/Ticagrelor bei den ACS-Patienten. Die weiteren 12 Monate erhielten sie ASS als Monotherapie. Als primärer Endpunkt war der kombinierte Endpunkt aus Gesamtmortalität oder neuen Q-Wellen-Myokardinfarkten definiert, als sekundärer Endpunkt galt die Rate an moderaten bis schweren Blutungen. Nach 12 Monaten war der primäre Endpunkt in der 2-Jahres-Ticagrelorgruppe signifikant seltener eingetreten als in der DAPT-Gruppe (1,95 vs. 2,47%; p = 0,028). Auch die Blutungsgrate war tiefer, jedoch nur trendmässig. Der Vorteil der 2-Jahres-Ticagrelormonotherapie war aber nicht anhaltend. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen war in Bezug auf die Gesamtmortalität und die Q-Wellen-Herzinfarkte nach 2 Jahren nicht mehr länger signifikant. Die Blutungsrate war auch im zweiten Jahr nicht unterschiedlich. Dass die Überlegenheit der Ticagrelortherapie vom ersten Jahr nicht auf das zweite übertragen werden konnte, erstaunt, so der Kommentar von Studienleiter Prof. Patrick Serrys, Imperial College London (UK). Möglicherweise könnte dies an der im zweiten Jahr schlechter gewordenen Adhärenz liegen. Eine Per-Protocol-Analyse werde diesen Umstand ausleuchten. Die Studie wurde gleichzeitig mit der Präsentation am Kongress in der Zeitschrift «Lancet» publiziert (1). vh Referenz: 1. Vranckx P et al.: Ticagrelor plus aspirin for 1 month, followed by ticagrelor monotherapy for 23 months vs aspirin plus clopidogrel or ticagrelor for 12 months, followed by aspirin monotherapy for 12 months after implantation of a drug-eluting stent: a multicentre, open-label, randomised superiority trial. Lancet 2018 Aug 24; pii: S0140–6736(18)31858-0. Epub ahead of print. Quelle: «Hotline 3», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) 2018, 25. bis 29. August in München. LLL CongressSelection Kardiologie | Pneumologie | Diabetologie | Dezember 2018 23