Transkript
SGR
Komplexes regionales Schmerzsyndrom
Nach wie vor wenig Evidenz zur Therapie
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom stellt eine facettenreiche Erkrankung dar, bei der die Diagnose rein klinisch gestellt wird. Für die Patienten stehen die Schmerzen im Vordergrund. Evidenz dazu, wie sich diese am besten behandeln lassen, ist jedoch nach wie vor nur wenig vorhanden.
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) war Thema eines Meet-the-Expert-Workshops, der von PD Dr. med. Dr. phil. Florian Brunner, Zürich, geleitet wurde. Er wies zu Beginn auf die Herausforderungen hin, die ein CRPS mit sich bringt: «Das CRPS stellt eine ausgesprochen facettenreiche Erkrankung dar. Die Patienten klagen über ein buntes Bild an Symptomen, wobei vor allem der Schmerz im Vordergrund steht. Der Verlauf des CRPS ist wechselhaft, die sich stets verändernden Befunde sind daher schwierig zu objektivieren.» Zudem gebe es nach wie vor weder für die Diagnose noch für die Therapie einen Goldstandard. «Immer wieder wird auch behauptet, es gebe einen bestimmten Patiententyp mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines CRPS. Dieser wird dann gerne als Sudeck-Persönlichkeit bezeichnet», so Brunner weiter. Wissenschaftlich konnte jedoch bisher kein Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und dem Risiko für die Entwicklung eines CRPS nachgewiesen werden (1). «Daher wehre ich mich gegen solche Bezeichnungen. Das stellt für die Patienten eine unnötige Stigmatisierung dar.» Wie Brunner weiter ausführte, handelt es sich beim CRPS mit einer Inzidenz zwischen 5,5 und 26,2 Fällen pro 100 000 Personenjahre um eine seltene Erkrankung (2, 3). Frauen sind mindestens dreimal häufiger betroffen als Männer. Ein CRPS wird zudem an den oberen Extremitäten doppelt so oft angetroffen wie an den unteren. Die durchschnittlichen Versicherungs- und Behandlungskosten seien bei Patienten mit einem CRPS um ein x-Faches höher als bei Patienten ohne CRPS, machte der Redner deutlich. Damit stelle das CRPS zwar eine seltene, aber teure Erkrankung dar.
Rein klinische Diagnose
Die Diagnose eines CRPS wird mithilfe der modifizierten Budapest-Kriterien gestellt (Tabelle) (4). «Wir haben es hier mit ausschliesslich klinisch basierten Kriterien zu tun, die subjektiv sind und auch nur in der Frühphase der Erkrankung gelten. Es gibt keinen Laborbefund, keinen Befund in einer Bildgebung, der uns bei der Sicherung der Diagnose helfen könnte», betonte Brunner. Seine Erfahrung sei zudem, dass das CRPS im Anfangsstadium immer noch häufig verpasst und im weiteren Verlauf dann als Verlegenheitsdia-
gnose für chronische Schmerzzustände verwendet werde, die sich anderweitig nicht zuordnen liessen. «Auf der anderen Seite sind im klinischen Alltag die Budapest-Kriterien relativ rasch erfüllt, ohne dass ein Patient an einem CRPS leidet. So erfüllen über 80 Prozent der Patienten nach Kniegelenksersatz die Kriterien, haben aber kein CRPS», gab Brunner zu bedenken. «Wir sollten vorsichtig sein mit der Diagnose. Sobald einmal irgendwo in den Patientenunterlagen das Wort CRPS steht, und sei es nur als mögliche Differenzialdiagnose des Radiologen, dann bringen wir das kaum mehr weg.»
Frühe disproportionale Symptome als Risikofaktor
Eines der Frühzeichen für die mögliche Entwicklung eines CRPS stellt die schmerzhafte Schwellung dar. «Verschiedene Studien ergaben, dass Patienten, die posttraumatisch oder postoperativ ein CRPS entwickeln, bereits ab dem Zeitpunkt null übermässige Schmerzen und eine disproportionale Schwellungsneigung aufweisen», erklärte Brunner. So konnten unter anderem Moseley et al. anhand einer Untersuchung mit über 1500 Patienten mit Radiusfraktur zeigen, dass unverhältnismässige Schmerzen mit mindestens 5 Punkten auf der numerischen Schmerzskala (0 = keine Schmerzen, 10 = maximale Schmerzen) innerhalb der ersten Woche nach dem Trauma mit einem stark erhöhten Risiko für die Entwicklung eines CRPS einhergehen (5). «Das stellt für mich eine gute Faustregel dar», meinte der Redner. In eine eigene prospektive Kohortenstudie hat er daher Patienten mit einer schmerzhaften Schwellung nach Trauma oder Operation eingeschlossen und diese über den Zeitraum von einem Jahr nachverfolgt (6). Er konnte dabei zeigen, dass sich bei 35 von 42 eingeschlossenen Patienten innerhalb von 8 Wochen nach dem Ereignis ein CRPS entwickelte. «Im weiteren Verlauf haben sich die Symptome und klinischen Befunde dann verändert», führte Brunner aus. Dies führte dazu, dass gut die Hälfte der 35 Patienten nach 3 Monaten die Kriterien für ein CRPS nicht mehr erfüllten. Diese Gruppe werde gemäss internationalem Konsensus als Patienten mit einem CRPS in partieller Remission bezeichnet, was nicht mit einem Status post CRPS gleichzusetzen sei, erläuterte er. Der Anteil dieser Patienten nahm bis zum Ende der Studie noch weiter zu.
10 CongressSelection Rheumatologiee | November 2018
SGR
Tabelle:
Diagnose des komplexen regionalen Schmerzsyndroms
nach den modifizierten Budapest-Kriterien (4)
1. Dauerschmerz, disproportional zum auslösenden Ereignis
2. Bericht über mindestens ein Symptom in 3 von 4 Kategorien Sensibel: Hyperästhesie und/oder Allodynie Vasomotorisch: Temperaturdifferenz und/oder Hautverfärbungen und/oder asymmetrische Hautfarbe Sudomotorisch/Ödem: Ödem und/oder Asymmetrie im Schwitzen Motorisch/trophisch: Bewegungseinschränkung und/oder motorische Dysfunktion (Schwäche, Tremor, Dystonie) und/oder trophische Veränderungen (Nägel, Haare, Haut)
3. Anlässlich der Untersuchung Vorliegen von mindestens einem Befund in 2 oder mehr Kategorien* Sensibel: Hyperästhesie und/oder Allodynie Vasomotorisch: Temperaturdifferenz und/oder Hautverfärbungen und/oder asymmetrische Hautfarbe Sudomotorisch/Ödem: Ödem und/oder Asymmetrie im Schwitzen Motorisch/trophisch: Bewegungseinschränkung und/oder motorische Dysfunktion (Schwäche, Tremor, Dystonie) und/oder trophische Veränderungen (Nägel, Haare, Haut)
(* Klinik 2 von 4, Forschung 3 von 4)
4. Es gibt keine andere Diagnose, welche die Symptome und Befunde besser erklärt
Nach 1 Jahr erfüllten insgesamt noch 5 Patienten die Kriterien eines CRPS. «Diese werden als Patienten mit einem floriden CRPS bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die BudapestKriterien nach wie vor erfüllt sind und die Patienten das Vollbild eines CRPS zeigen», so der Redner.
Schmerzlinderung wichtiger als Funktion
Zum Management eines CRPS bei Erwachsenen hat das Royal College of Physicians jüngst neue Richtlinien herausgegeben (7). Wie Brunner erklärte, gibt diese Publikation drei Bereiche an, denen zur Verbesserung des Verlaufs eines CRPS besondere Beachtung geschenkt werden sollte: • Schmerzintensität • Funktionsstörung • Belastung des Patienten. «In der Vergangenheit haben wir uns therapeutisch vor allem darauf konzentriert, die Funktion der betroffenen Gliedmasse zu verbessern», erläuterte er. Eine internationale Umfrage hat jedoch gezeigt, dass für die Patienten selbst die Schmerzfreiheit und nicht die Funktionsverbesserung an erster Stelle steht (8). «Dies sollte zu einem Umdenken führen», meinte er.
Wenig Evidenz zu therapeutischen Optionen
Die wissenschaftliche Evidenz zu den verschiedenen therapeutischen Optionen bei CRPS ist begrenzt. Dies hänge wohl nicht zuletzt auch mit der ausgeprägten Heterogenität des CRPS zusammen, meinte der Redner. Eine in Zürich durch-
geführte Netzwerk-Metaanalyse untersuchte 2014 die Wirk-
samkeit der verschiedenen zum Schmerzmanagement von
Patienten mit CRPS empfohlenen Substanzen (9). «Es gibt
bei dieser Arbeit allerdings einige Einschränkungen. Es han-
delt sich hier um einen strikt epidemiologischen Ansatz.
Zudem war die Anzahl Probanden in den verschiedenen ein-
geschlossenen Studien sehr gering, und für einzelne Stoffklas-
sen liessen sich nur einzelne Studien finden», gab er zu beden-
ken.
Die beste Wirkung im Schmerzmanagement eines CRPS wei-
sen gemäss der Analyse die Bisphosphonate auf, vor Calcito-
nin, NMDA-Analoga, Analgetika, Vasodilatatoren, Steroi-
den, Antikonvulsiva und Radikalfängern. «Eine zeitliche
Stratifizierung ergab für die ersten 12 Monaten der Erkran-
kung das beste Resultat für Bisphosphonate und im zweiten
Jahr für Calcitonin», ergänzte Brunner. Die Wirkung der
Bisphosphonate bei CRPS könnte unter anderem darauf be-
ruhen, dass sie über eine Reduktion der Produktion pro-
inflammatorischer Zytokine einen entzündungshemmenden
Effekt aufweisen (10). Zudem scheinen sie über eine Down-
Regulation bestimmter Ionenkanäle analgetisch zu wirken
(11).
Im Weiteren untersuchte eine 2017 publizierte Metaanalyse
die Wirksamkeit der Bisphosphonate bei CRPS (12). Sie
ergab einen positiven kurz- und mittelfristigen Effekt auf die
Schmerzen. Nebenwirkungen traten bei den Patienten unter
Bisphosphonaten signifikant häufiger auf als unter Plazebo
(relatives Risiko 2,1; p = 0,004) mit einer Number-needed-to-
Harm von 4,6. «Die Autoren schliessen daraus, dass ihre
Analyse Hinweise auf eine Wirksamkeit der Bisphosphonate
bei CRPS-bedingten Schmerzen lieferte, sie betonen aber
auch, dass weitere Studien notwendig seien», fügte Brunner
an und verwies darauf, dass zurzeit in drei Studien mit gros-
sen Patientenzahlen intravenöses Neridronat beziehungs-
weise orales Zoledronat bei CRPS untersucht werde: «Die
Evidenz, Bisphosphonate bei CRPS zu empfehlen, ist damit
nach wie vor von schwacher bis mässiger Qualität. Vermut-
lich wird es in Zukunft darauf hinauslaufen, bestimmte Phä-
notypen von Patienten zu identifizieren, die davon profitie-
ren.»
Auch die Datenlage zu Calcitonin ist uneinheitlich (13). «Der
Grund dafür, dass es in der Schweiz eingesetzt wird, ist ver-
mutlich ein historischer, hat doch eine in den 1980er-Jahren
in Lausanne durchgeführte kleine Studie einen Effekt dieser
Substanz gezeigt», führte Brunner aus.
Zu den Steroiden schliesslich meinte er: «Hier gibt es ledig-
lich drei Studien, jedoch von schlechter Qualität. Dies wird
meinen eigenen Erfahrungen allerdings nicht gerecht. Ich bin
ein Verfechter von Steroiden in den ersten ein bis zwei Mona-
ten.»
L
Therese Schwender
Quelle: Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie, 30. bis 31. August 2018 in Interlaken.
12 CongressSelection Rheumatologie | November 2018
Referenzen: 1. Beerthuizen A et al.: The association between psychological fac-
tors and the development of complex regional pain syndrome type 1 (CRPS1) – A prospective multicenter study. Eur J Pain 2011; 15: 971–975. 2. De Mos M et al.: The incidence of complex regional pain syndrome: a population-based study. Pain 2007; 129: 12–20. 3. Sandroni P et al.: Complex regional pain syndrome type I: incidence and prevalence in Olmsted county, a population-based study. Pain 2003; 103: 199–207. 4. Harden RN et al.: Objectification of the Diagnostic Criteria for CRPS. Pain Medicine 2010; 11: 1212–1215. 5. Moseley GL et al.: Intense pain soon after wrist fracture strongly predicts who will develop complex regional pain syndrome: prospective cohort study. J Pain 2014; 15(1): 16–23. 6. Brunner F et al.: Painful swelling after a noxious event and the development of complex regional pain syndrome 1: A one-year prospective study. Eur J Pain 2017; 21: 1611–1617. 7. Goebel A et al.: Complex regional pain syndrome in adults: UK guidelines for diagnosis, referral and management in primary and secondary care. London: Royal College of Physicians 2018. Online verfügbar unter: https://www.rcplondon.ac.uk/guidelinespolicy/complex-regional-pain-syndrome-adults 8. Llewellyn A et al.: Are you better? A multi-centre study of patientdefined recovery from Complex Regional Pain Syndrome. Eur J Pain 2018; 22: 551–564. 9. Wertli MM et al.: Rational pain management in complex regional pain syndrome 1 (CRPS 1) – a network meta-analysis. Pain Med 2014; 15: 1575–1589. 10. Varenna M et al.: Bisphosphonates in Complex Regional Pain syndrome type I: How do they work? Clin Exp Rheumatol 2014; 32: 451–454. 11. White JP et al.: Role of transient receptor potential and acidsensing ion channels in peripheral inflammatory pain. Anesthesiology 2010; 112: 729–741. 12. Chevreau M et al.: Bisphosphonates for treatment of Complex Regional Pain Syndrome type 1: A systematic literature review and meta-analysis of randomized controlled trials versus placebo. Joint Bone Spine 2017; 84(4): 393–399. 13. Perez RS et al.: Evidence based guidelines for complex regional pain syndrome type 1. BMC Neurol 2010; 10: 20.
SGR
CongressSelection Rheumatologie | November 2018
13