Transkript
SGAIM
Opiate oder Nichtopiate?
Tipps für eine adäquate Schmerztherapie
Foto: vh
Schmerzen will niemand, aber viele leiden daran und sind dadurch stark eingeschränkt. Soll man bei muskuloskelettalen Schmerzen Opioide oder nicht opioidhaltige Analgetika einsetzen? «Je stärker, desto besser» führt häufig nicht zum Ziel, wie Studien vermehrt zeigen. Worauf zu achten ist, erklärte PD Dr. Maria Wertli, stv. Leiterin Medizinische Poliklinik, Inselspital Bern, am SGAIM-Kongress in Basel.
Muskuloskelettale Schmerzen sind sehr ver-
breitet. Unter den Krankheiten, die die meisten
Lebensjahre mit körperlicher Einschränkung
aufweisen, figurieren in den ersten zehn Rän-
gen vier Schmerzerkrankungen, der Rücken-
schmerz belegt dabei den ersten Platz (1).
Entsprechend gross ist der Schmerzmittelver-
brauch. In der Schweiz stieg er zwischen 2006
und 2013 stetig an, sei es mit Paracetamol,
PD Dr. Maria Wertli
Metamizol, schwachen wie auch starken Opiaten (2). Dabei zeigt der Verbrauch von starken
Opioiden in der Schweiz gemäss Wertli grosse
geografische Unterschiede und scheint eine unterschiedliche
Verschreibungspraxis widerzuspiegeln.
Das WHO-Stufenschema wurde 1990 zur Behandlung von
krebsassoziierten Schmerzen eingeführt. Der Trend verläuft
dahingehend, dass die schwachen Opiate zugunsten von star-
ken übersprungen werden.
Inzwischen wird das Stufenschema auch für nicht tumor-
bedingte Schmerzen angewendet. Die Ansprüche seien auch
gestiegen. Schmerzstillung als Qualitätskriterium für einen
Spitalaufenthalt sei ein Beispiel für die veränderte Haltung
gegenüber dem Einsatz von Schmerzmitteln, illustriert
Wertli. Das Resultat ist bekannt: steigende Opiatverbrauchs-
zahlen in der ganzen westlichen Welt.
KURZ & BÜNDIG
Opiate werden zunehmend bei nicht krebsassoziierten Schmerzen verwendet.
Opiate sind bei muskuloskelettalen Schmerzen anderen Schmerzmedikationen häufig nicht überlegen, haben aber relevante Nebenwirkungen.
Schmerzstärke, Funktion und Lebensqualität können sich nach Reduktion von Opiaten in Langzeittherapie verbessern.
Multimodale Schmerzprogramme können beim Opiatstopp helfen.
Tipps für den Opioideinsatz
Für den Einsatz von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen sollten einige Grundsätze beachtet werden: 1. Kurz wirksame Opioide nur einsetzen, wenn es die
Schmerzstärke rechtfertigt. 2. Mit der tiefstmöglichen Dosis beginnen. 3. Kurz wirksame Opioide höchstens für 3 Tage verschreiben. 4. Missbrauchs- oder Suchtpotenzial evaluieren. 5. Schmerztherapie nicht mit lang wirksamen Opioiden
beginnen. 6. Bei rezidivierenden und chronischen Schmerzen nicht
opioidhaltige Schmerzmittel einsetzen, andere Strategien verfolgen oder zum Spezialisten überweisen (3). Bei akuten Schmerzen, wie etwa nach einem etwa 20-minütigen chirurgischen Eingriff, brauche es in der Regel während 3 bis 4 Stunden eine Analgesie, danach sei der Bedarf an Schmerzmitteln individuell sehr unterschiedlich, ihm solle nur auf Verlangen entsprochen werden, empfahl Wertli. Dafür eignen sich gut Etoricoxib, Celecoxib, Ibuprofen, Naproxen und Diclofenac. Für eine 50-prozentige Schmerzreduktion weisen sie eine Number Needed to Treat (NNT) zwischen 1,5 und 2,7 auf. Die NNT von Morphin liegt im Vergleich dazu bei 2,9, ist also nicht besser (4).
Akute Rückenschmerzen
Bei akuten Rückenschmerzen ist eine Erholung wahrscheinlich. Nach 2 Wochen waren laut einer Untersuchung 30 Prozent der Patienten geheilt, nach 3 Monaten waren 85 Prozent schmerzfrei. Nach diesem Zeitraum ist die Chronifizierung der Schmerzen wahrscheinlich (5). Bei akuten Rückenschmerzen zeigten kurzfristig eingesetzte starke Opiate gegenüber Plazebo gemäss einem CochraneReview einen kleinen Benefit. Für eine 30-prozentige Schmerzreduktion lag die NNT bei 7, die NNH (Number Needed to Harm) für Nausea und Obstipation lag bei 9. Eine langfristige Opiattherapie zeigte dagegen keinen Benefit (6). Eine weitere Studie untersuchte bei akutem Rückenschmerz den Zusatz von Opiaten zu NSAR. Die Patienten erhielten morgens und abends 500 mg Naproxen, dazu Plazebo oder ein Muskelrelaxans oder Oxycodon/Paracetamol. Nach einer Woche waren die Schmerzen und die Funktionalität in allen drei Gruppen etwa in gleichem Mass verbessert. Es waren keine signifikanten Unterschiede sichtbar (7).
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Wirksamkeit bei akuten Schmerzen: Number Needed to Treat (NNT) für mindestens 50 Prozent Schmerzreduktion innerhalb von 4 bis 6 Stunden bei moderaten bis starken Schmerzen (4)
Etoricoxib 120 mg Valdecoxib 40 mg Celecoxib 400 mg Paracetamol/Codein 1000/60 mg Rofecoxib 50 mg Ibuprofen 400 mg Lumiracoxib 400 mg Naproxen 500/550 mg Diclofenac 50 mg Morphin 10 mg i.m. Paracetamol 1000 mg Aspirin 600/650 mg Tramadol 100 mg
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95%-KI der NNT für mindestens 50% Schmerzreduktion im Vergleich zu Plazebo
Chronische Rückenschmerzen
Der Opiateinsatz empfiehlt sich auch bei nicht chronischen Rücken-, Hüft- oder Knieschmerzen, wie eine neue Studie zeigte. Hier erhielten 240 Patienten mit mehr als 6 Monaten Schmerzdauer während eines Jahres je eine dreistufige Therapie mit Opioiden (1. kurz wirksames Opiat, 2. lang wirksames Opiat, 3. Fentanyl TTS) oder Nichtopioiden (1. Paracetamol oder NSAR, 2. + Nortriptylin, Amitriptylin, Gabapentin, topische Analgetika wie Capsaicin oder Lidocain, 3. Pregabalin oder Duloxetin und Tramadol nach Rücksprache). Die Medikationen konnten hochtitriert, ausgetauscht, aber auch kombiniert werden. Es zeigte sich, dass die Behandlung mit Opioiden jener mit Nichtopioiden bezüglich der schmerzbezogenen Funktionalität über 12 Monate nicht überlegen war. Nebenwirkungen traten in der Opioidgruppe signifikant häufiger auf (8). Eine Opioidtherapie sei bei Schmerzen, die bei degenerativen Gelenkerkrankungen aufträten, demnach nicht angezeigt, so Wertli.
Ausstieg schwierig, aber möglich
Die Nebenwirkungen von Opiaten belasteten die Patienten, insbesondere die Obstipation, berichtete Wertli von einer Befragung bei 500 Patienten. Weitere nicht zu unterschätzende Nebenwirkungen betreffen die opiatinduzierten Neurotoxizitäten wie Delirium, Halluzinationen, Myoklonie, epileptische Anfälle sowie Hyperalgesie. Ein Ausstieg aus einer Langzeitopiattherapie gestaltet sich schwierig, ist aber möglich, wie ein systematischer Review über 67 Studien von allerdings mehrheitlich tiefer Qualität darlegt. Mit interdisziplinären Schmerzprogrammen, buprenophinunterstützter Dosisreduktion, Verhaltenstherapie oder anderen ambulanten Programmen gelang der Ausstieg mehr
oder weniger gut (20–87%). Gemeinsam war den Program-
men, dass Schmerzen, Funktion und Lebensqualität mit der
Dosisreduktion besser wurden (9).
L
Valérie Herzog
Referenzen 1. Vos T et al.: Global, regional, and national incidence, prevalence,
and years lived with disability for 301 acute and chronic diseases and injuries in 188 countries, 1990–2013: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. Lancet 2015; 386: 743– 800. 2. Wertli M et al.: Changes over time in prescription practices of pain medications in Switzerland between 2006 und 2013. BMC Health Serv Res 2017; 17: 167. 3. Kunins HV et al.: Guidelines for opioid prescription. Ann Intern Med 2013; 158: 841–842. 4. http://w w w.bandolier.org.uk/booth/painpag /Acutrev/ Analgesics/Leagtab.html 5. Henschke N et al.: Prognosis in patients with recent onset low back pain in Australian primary care: inception cohort study. BMJ 2008; 337: a171. 6. Chaparro et al.: Opioids compared to placebo or other treatments for chronic low-back pain. Cochrane Database Syst Rev 2013; 8: CD004959. 7. Friedman BW et al.: Naproxen with Cyclobenzaprine, Oxycodone/ Acetaminophen, or placebo for treating acute low back pain: a randomized clinical trial. JAMA 2015; 314: 1572–1580 8. Krebs EE et al.: Effect of opioid vs nonopioid medications on painrelated function in patients with chronic back pain or hip or knee osteoarthritis pain: the SPACE randomized clinical trial. JAMA 2018; 319: 872–882. 9. Frank JW et al.: Patient Outcomes in Dose Reduction or Discontinuation of Long-Term Opioid Therapy: A Systematic Review. Ann Intern Med 2017; 167: 181–191.
Quelle: «Therapie von nicht krebsassoziierten Schmerzen – Update», Jahresver-
sammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Innere Medizin
(SGAIM), 30. Mai bis 1. Juni 2018, Basel.
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