Transkript
Sport fürs Herz
Implementierung eines täglichen Übungsprogramms
ESC
Die Daten bezüglich des Nutzens sportlicher Aktivität zeichneten ein eindeutiges Bild, sowohl für gesunde Menschen als auch für solche mit kardiovaskulären Erkrankungen, berichten Experten am ESC-Kongress 2017 in Barcelona. Doch wie verschreibt man das tägliche Medikament «Sport» in der Praxis?
Die Vorteile eines aktiven Lebensstils seien hinreichend bekannt. Eine der grössten Studien zu diesem Thema sei beispielsweise 2011 im «Lancet» veröffentlicht worden, sagte Prof. Dr. Matthias Wilhelm, Leiter Ambulante und Präventive Kardiologie der Universitätsklinik für Kardiologie am Inselspital Bern, einleitend zu seinem Vortrag.
«Je aktiver, desto besser» gilt für alle
In dieser Studie wurden knapp 200 000 Männer und 217 000 Frauen im Rahmen eines Gesundheitsscreenings zwischen 1996 und 2008 zu ihren körperlichen Aktivitäten befragt und dementsprechend in fünf Kategorien unterteilt: nicht aktiv, geringe, moderate, hohe oder sehr hohe körperliche Aktivität (1). Verglichen mit den Personen der inaktiven Gruppe, hatten jene in der nächsten Stufe (geringe Aktivität = 15 Minuten/Tag bzw. 92 Minuten/Woche) bereits ein um 14 Prozent geringeres Gesamtmortalitätsrisiko und eine um drei Jahre längere Lebenserwartung. Für jede zusätzliche Einheit von 15 Minuten täglicher Bewegung (über das Minimum von 15 Minuten täglich hinaus) zeigte sich eine weitere Reduktion der Gesamtmortalität um 4 Prozent sowie eine Reduktion der krebsbezogenen Gesamtmortalität um 1 Prozent. Diese Vorteile waren für alle Altersgruppen und beide Geschlechter sowie für Personen mit kardiovaskulären Risiken zu beobachten.
ESC: Förderung der körperlichen Aktivität in der Praxis
Die Guidelines 2016 zur kardiovaskulären Krankheitsprävention der European Society of Cardiology empfählen die regelmässige Evaluierung und Beratung der Patienten über körperliche Aktivität (physical activity [PA]), berichtet Dr. Monica Tiberi vom Centro Clinico Diagnostico in Persaro (I) (3). «Das Ziel ist die Förderung des sportlichen Engagements des Patienten beziehungsweise ihn dabei zu unterstützen, sein PA-Volumen zu erhöhen.» Für die Praxis bedeutet das: Ärzte sollten ihre Patienten dabei ermutigen, die PA in das tägliche Leben zu integrieren beziehungsweise eine Sportart aufzunehmen, an der sie tatsächlich Gefallen finden – in diesen Fällen ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die PA auch nachhaltig in das Leben eingebaut wird. Dazu noch ein evidenzbasierter Tipp: «Diese kurzen Empfehlungen über körperliche Aktivität im Rahmen eines Arztgesprächs scheinen sogar kosteneffektiver zu sein als betreute Klassen im Fitness-
center», zitiert die Expertin aus einer neuseeländischen Studie (2).
Was, wie viel, wie oft?
Bezüglich Ausmass und Durchführung der PA lauten die ESC-Empfehlungen: • Gesunde Erwachsene: 150 Minuten pro Woche mode-
rate oder 75 Minuten intensive aerobe PA oder eine Kombination. Zur Erinnerung: • Eine moderate PA liegt vor bei 50 bis 63 Prozent der maximalen Herzfrequenz (HRmax); die Atemfrequenz ist erhöht, jedoch mit dem Sprechen ganzer Sätze vereinbar. • Bei einer intensiven PA liegt die HRmax bei 77 bis 93 Prozent, die Atemfrequenz ist stark erhöht, eine normale Konversation ist nicht mehr möglich. • Für einen zusätzlichen Nutzen bei gesunden Erwachsenen wird eine allmähliche Steigerung der aeroben PA auf 300 Minuten moderate beziehungsweise 150 Minuten intensive PA pro Woche oder eine Kombination empfohlen. • Die Sitzungen sollten dabei mindestens 10 Minuten dauern und über die Woche verteilt sein: 4 bis 5 Tage pro Woche, vorzugsweise täglich. • Zudem sollten Übungen zur Stärkung der Muskelkraft durchgeführt werden (Widerstandstraining). Diese sollten zumindest 2- bis 3-mal/Woche durchgeführt werden: 8 bis 10 Übungen, 1- bis 3-mal wiederholen. Für Diabetiker ist zudem die Tatsache interessant, dass laut gewisser Evidenz die Kombination aus aerobem und Widerstandstraining die Blutzuckerkontrolle stärker verbessern kann als jede der Modalitäten für sich; die ESC betont allerdings auch, dass die Auswahl der Modalität weniger wichtig zu sein scheint, als sich überhaupt einmal für die PA zu interessieren. Soll der Sport der Lipidkontrolle beziehungsweise der Kontrolle des Körpergewichts dienen, scheinen laut einer amerikanischen Studie länger dauernde Trainingseinheiten von 40 bis 90 Minuten täglich günstiger zu sein (4).
Sport bei Übergewicht: erfolgreich, aber schwierig
Zum Thema Sport und zur Verbesserung kardiovaskulärer Risikofaktoren bei Übergewicht stellten spanische Forscher des Universitätsspitals Severo Ochoa in Madrid ein Poster
CongressSelection Kardiologie/Diabetologie • Dezember 2017 • 29
ESC
Patientenschulung und Beratung
vor (5). Eingeschlossen waren 511 übergewichtige oder adipöse junge Erwachsene, die sich einem 6-monatigen Gesundheitsprogramm unterzogen (personalisierte Ernährungsempfehlungen plus ein betreutes PA-Programm; medikamentöse Behandlung wurde, falls erforderlich, fortgesetzt). Nach 6 Monaten lag der mittlere BMI-Verlust bei 10,1 Prozent (Senkung des mittleren Körpergewichts von 97,21 auf 87,41 kg), der mittlere Blutdruck war von 129,01/80,96 auf 126,26/76,01 mmHg und die mittlere Herzfrequenz von 72 auf 68,57 bpm gesunken (alle p < 0,001). Allerdings: Nur rund ein Drittel der Teilnehmer (37,57%) schloss das Programm ab. Ins «Schnuufe» kommen mit «Paprica» Dass sportliche Aktivität auch einer grossen Zahl von Schweizern schwerfällt, zeigen Daten des Schweizer Bundesamts für Statistik. «Demnach ist rund ein Viertel aller Schweizer überhaupt nicht körperlich aktiv», so Prof. Wilhelm. Die gute Nachricht: Die Zahl der Personen, die mehrmals pro Woche Sport betreibt, stieg von 22 Prozent im Jahr 1978 auf 52 Prozent im Jahr 2014. Die zweite gute Nachricht: In der Schweiz steht mit «Paprica» ein Ansatz speziell für die Bewegungsförderung über die Arztpraxis zur Verfügung (Abbildung). Paprica steht dabei für «Physical activity promotion in primary care», das Programm wird seit 2009 im Kanton Waadt und seit 2012 in ersten Kantonen in der Deutschschweiz umgesetzt. «Paprica» baue auf einer Pyramide von Empfehlungen für den Patienten auf, erklärt Prof. Wilhelm: Grundebene: Es gilt, im Alltag jede Gelegenheit zu ergreifen, sich zu bewegen und lang dauerndes Sitzen öfter zu unterbrechen. 2. Ebene: «Ins Schnuufe» kommen, jeweils während mindestens 10 Minuten pro Episode: zügig gehen, mit dem Velo fahren, tanzen. Insgesamt sollte man mindestens 2½ Stunden pro Woche ins Schwitzen kommen, zum Beispiel 5 × ½ Stunde pro Woche. 3. Ebene: Training von Kraft und Beweglichkeit 2-mal pro Woche, bei älteren Personen zusammen mit Gleichgewichtstraining (3 ×). Gesunde und motivierte Patienten sollten 3 ×/Woche 20 Minuten joggen, Rad fahren, schwimmen oder wandern. 4. Ebene: Bei Wunsch nach Steigerung und Abwechslung können intensivere Sportaktivitäten gewählt werden. Persönliche Beratung Laut einer Cochrane-Übersichtsarbeit von 10 Studien mit knapp 6300 gesunden Erwachsenen sind Interventionen wie persönliche Beratung, Rückmeldungen, eine Auswahl von Übungen und Supervision jedenfalls dazu geeignet, Erwachsene dabei zu unterstützen, aktiver und fitter zu werden, berichtet Prof. Wilhelm weiter (6). «Bessere Ergebnisse werden erzielt, wenn die Intervention eine definierte Art von körperlicher Betätigung beinhaltet und von nicht medizinischem Personal sowohl in Gruppen als auch individuell begleitet wird», heisst es in der Cochrane-Arbeit. Die neu aufgenommene körperliche Aktivität werde dabei bis zu einem Jahr und länger aufrechterhalten und erhöhe ausserdem nicht das Risiko von Stürzen oder sportbedingten Verletzungen. Die Cochrane-Autoren fordern weitere Studien, um herauszufinden, welche Methoden zur Bewegungsförderung langfristig am wirksamsten sind. Dadurch könnten definierte Bevölkerungsgruppen besser zu körperlicher Aktivität angeregt werden. Prof. Wilhelm ergänzt noch seine persönlichen Ratschläge: «Empfehlungen für ein körperliches Training sollten dem jeweiligen Patienten persönlich angepasst sein und seine Präferenzen und Fähigkeiten berücksichtigen. Die Ziele sollten realistisch sein; bei eher wenig aktiven Personen könnte weniger mehr» sein. Und: «Die körperliche Aktivität ist bei Risikopatienten als Supplementierung zu sehen, nicht als Ersatz für die evidenzbasierte Medikation», schliesst der Experte. Lydia Unger-Hunt Quellen: 1. Wen CP et al.: Minimum amount of physical activity for reduced mortality and extended life expectancy: a prospective cohort study. Lancet 2011; 378: 1244–1253. 2. Garrett S et al.: Are physical activity interventions in primary care and the community cost-effective? A systematic review of the evidence. Br J Gen Pract 2011; 61: e125–133. 3. www.escardio.org/guidelines 4. Donnelly JE et al.: American College of Sports Medicine Position Stand. Appropriate physical activity intervention strategies for weight loss and prevention of weight regain for adults. Med Sci Sports Exerc 2009; 41: 459–471. 5. Gascueña R et al.: Improvement in cardiovascular risk scores by a a diet and exercise programme for obese and overweight young adults; ESC 2017; P5138. 6. Richards J et al.: Face-to-face interventions for promoting physical activity. Cochrane Database Syst Rev 2013; 9: CD010392. 30 • CongressSelection Kardiologie/Diabetologie • Dezember 2017