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«Barcelona brachte eine unglaubliche Bereicherung unseres Wissens»
Interview mit Prof. Thomas F. Lüscher, London
Wieder einmal hielt der ESC-Jahreskongress ein ausserordentlich umfangreiches Programm parat: Insgesamt wurden mehr als 10 800 Abstracts eingereicht, und fast 32 000 Teilnehmer kamen nach Barcelona, um sich kardiologisch auf den neuesten Stand zu bringen. Wir baten Prof. Dr. Thomas F. Lüscher, seit Kurzem Director of Research, Education & Development und Consultant of Cardiology am Royal Brompton & Harefield Hospital Trust und Imperial College in London, um eine Einordnung der präsentierten Daten.
Thomas Lüscher
«Die Kardiolo ie ist
enorm innovativ, das Gebiet entwickelt sich laufend weiter – es ist fast schon berauschend, dabei sein
zu dürfen.»
CongressSelection: Am Kongress haben ein paar Studien von sich reden gemacht. Dazu zählen auch die COMPASS- und die CANTOS-Studie. Welche Implikationen haben deren Ergebnisse für die Praxis? Was ist von der antientzündlichen Therapie mit Canakinumab zu erwarten? Professor Thomas F. Lüscher: Der CANTOS-Trial mit dem Interleukin-1beta-Antagonisten Canakinumab zeigte erstmals, dass man bei Patienten mit optimal eingestelltem Cholesterin und Zeichen der Inflammation wie einem erhöhten C-reaktiven Protein nicht nur kardiale Ereignisse, sondern auch das Auftreten von Krebserkrankungen vermindern kann – das eröffnet ein völlig neues Kapitel! Das ist die 4S-Studie für das C-reaktive Protein CRP. Eine weitere von den National Institutes of Health gesponserte Studie mit Methotrexat als antiinflammatorischer Substanz sollte auch bald verfügbar sein. Damit ist das «remaining inflammatory risk» angehbar. Das wird sicher die kardiovaskuläre Medizin beeinflussen. Dann hat der COMPASS-Trial auch eine neue Richtung in der Blutverdünnung bei koronarer Herzkrankheit aufgezeigt, die schon der ATLAS-Trial bei Infarktpatienten (1) angedeutet hat, nämlich dass neben der Hemmung der Thrombozyten eine niedrig dosierte Gerinnungshemmung plus Aspirin die kardiovaskulären Ereignisse bei Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit weiter senkt. Allerdings gilt auch hier: There is no free lunch! Natürlich kauft man sich damit auch mehr Blutungen ein (3,1 vs. 1,9%), diese blieben aber doch in einem kleineren Rahmen. Daher ist es klinisch bedeutsam, dass auch eine sanfte Hemmung der Gerinnung mit nur 2 × 2,5 mg Rivaroxaban günstig und protektiv wirkt. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass bei Patienten nach Stenting und Vorhofflimmern ein neues orales Antikoagulans wie Dabigatran zusammen mit einem P2Y12Thrombozytenhemmer und ohne Acetylsalicylsäure weniger Blutungen verursacht als eine bis anhin übliche Tripeltherapie.
Was wäre sonst noch in diesem Kontext zu nennen? Der DETOX-Trial ist auch von Interesse, da er zeigte, dass die bisher übliche sofortige Sauerstoffbehandlung bei Patienten mit Infarkt, die wir seit Jahrzehnten betreiben,
ohne Wirkung ist – auch neutrale Ergebnisse bringen die Medizin weiter oder machen sie immerhin einfacher. Dann gab es – nach bereits früheren wenig überzeugenden Ergebnissen mit Cholesterinester-Transferprotein(CETP-)Hemmern – zu erwartende Enttäuschungen: Im REVEAL-Trial liess sich nun auch mit dem vierten CETPHemmer bei über 30 000 Patienten kaum eine überzeugende Senkung der kardialen Ereignisse erreichen. Dann konnte aber die Ablation des Vorhofflimmerns überzeugen: Im CASTLE-AF-Trial wurden Patienten mit Herzinsuffizienz und Vorhofflimmern kathetertechnisch abladiert. Im Gegensatz zur medikamentös behandelten Gruppe waren die Sterblichkeit und Hospitalisationen für Herzinsuffizienz in der Ablationsgruppe geringer – ein Lichtblick für die interventionelle Behandlung dieser Rhythmusstörung. Somit brachte Barcelona eine unglaubliche Bereicherung unseres Wissens.
Sollte man heute auf Vorhofflimmern screenen? Zahlen aus Japan stellen zum Beispiel ein erfolgreiches Screening von geschulten Laien mit einer Smartphone-App vor. Es ist in der Tat so, dass Patienten Episoden von Vorhofflimmern häufig nicht bemerken und sich dennoch einem Embolie- und Hirnschlagrisiko aussetzen. Eine blinde Antikoagulation ist aber aufgrund des Blutungsrisikos auch nicht angezeigt. Daher sind Screeningmethoden sicher sinnvoll. Am besten ist vermutlich das implantierbare REVEAL-Device, das auch unbemerkte Vorhofflimmerepisoden diagnostizierbar macht. Das zündholzgrosse Device kann allerdings nicht breit eingesetzt werden, da es doch einen kleinen Eingriff erfordert. Daher ist vielleicht auch eine Smartphone-App wirksam. Sicher besteht hier ein diagnostischer Bedarf.
PSCK9-Hemmer schneiden bezüglich kardiovaskulärer Morbidität sehr gut ab. Sollten sie allen Herzinfarktpatienten gegeben werden? Wie tief sollen die LDL-Werte wirklich gesenkt werden? Beim LDL-Cholesterin gilt weiterhin und nun umso mehr: The lower, the better! Der Mensch ist das einzige Tier in der Evolution, das so hohe LDL-Werte hat, und daher ist die Arteriosklerose auch die häufigste Krankheit des Menschen. Vor allem wenn man das Lebenszeitrisiko und
2 • CongressSelection Kardiologie/Diabetologie • Dezember 2017
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nicht nur 5 bis 10 Jahre betrachtet, wie dies genetische Veränderungen im PCSK9-Gen erlauben, ist ein sehr tiefes LDL von 1,5 mmol oder tiefer sicher sehr protektiv. Ein Schwellenwert ist nicht erkennbar, da erstens viele Tiere mit sehr tiefen LDL-Spiegeln leben, zweitens das Cholesterin im Nervensystem nicht beeinflusst wird und drittens die neusten Studien auch keine Sicherheitsbedenken ergaben. Allerdings sind die Kosten zu beachten, und daher sind PCSK9-Hemmer im Moment bei diesen Preisen nur bei familiärer Hypercholesterinämie und Hochrisikopatienten angezeigt, die die Zielwerte von 1,8 mmol/l oder tiefer trotz hoch dosiertem Statin und Ezetimib nicht erreichen.
Ist die Kritik an der mangelnden Mortalitätsreduktion gerechtfertigt? Ich glaube nicht – dazu waren die Behandlungsdauer zu kurz und das Ausgangscholesterin zu tief. Wenn wir Studien aus ethischen Überlegungen frühzeitig abbrechen, dann ist es schwierig, eine Mortalitätsreduktion zu zeigen.
Was ist von Inclisiran zu erwarten? Wie beurteilen Sie diesen Ansatz zum Eingriff in das PCSK9-System? Das ist ein völlig neues Kapitel der Therapie – wir werden nun vermehrt RNA-Interference oder RNA-Silencing als Therapieansatz sehen. Das ist sicher ein Durchbruch und hat Vorteile: Die Wirkung hält lange an und Compliance ist kein Problem. Weiter ist die Wirkung sehr selektiv, und die Nebenwirkungen sind daher wahrscheinlich deutlich geringer. Allerdings hält bei Unverträglichkeit die Wirkung auch lange an.
Die Blutdrucksenkung mit dem Ziel von 120 mmHg hat bei Patienten mit über 160 mmHg Baseline in der SPRINT-Studie zu einer erhöhten Gesamtmortalität geführt – was heisst das für die Praxis? Welche Zielwerte soll man nun anstreben? In der SPRINT-Studie wurde der Blutdruck sehr viel genauer gemessen als in anderen Studien, nämlich unbeobachtet über mehrere Minuten – entsprechend sind die Werte im Vergleich etwas tiefer. Daher entspricht 120 mmHg in SPRINT wohl 130 mmHg in anderen Studien und in der Praxis, ein Zielwert, den auch die neuen USBlood pressure Guidelines 2017 (2) nun empfehlen. Auch eine Metaanalyse, die im «Lancet» publiziert wurde, hält 130 mmHg für den optimalen Blutdruck. Nicht zu vergessen ist aber, dass Naturvölker auch im höheren Alter Blutdruckwerte um 110/70 mmHg haben – so gesehen haben wir wohl alle etwas zu hohe Werte. Wenn Patienten ausser dem hohen Blutdruck gesund sind und keine Komorbiditäten wie Diabetes et cetera haben, dürfte wohl auch ein Wert von 120 mmHg gut sein.
Auch zur renalen Denervation gibt es mit der SPYRALStudie Neuigkeiten. Was ist Ihr Kommentar dazu? Ja, die Prävention ging nicht ganz leer aus: Im SPYRALHTN-OFF-MED-Trial zeigte die Nierennervenablation nun erneut – und im Gegensatz zum missglückten SYMPLCITY-HTN-3-Trial, der 2015 im «NEJM» publiziert wurde – ihre Wirksamkeit, nun bei unbehandelten Hypertonikern. Die Wirkung ist geringer als in den Registern, aber es handelte sich ja auch um nicht schwere Hypertoniker, bei denen die Drucksenkung in der Regel geringer ist. Ich habe selber über 70 solche Eingriffe durchgeführt und bin überzeugt, dass die Intervention
Neue Substanz unterbindet PCSK9-Synthese
In der multizentrischen, plazebokontrollierten, doppelblind randomisierten Phase-II-Studie
Orion 1 wurden bei 501 Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko mit dem subkutan zu
injizierenden Wirkstoff Inclisiran erhöhte LDL-Werte bis zu einem Jahr lang gesenkt (1). Die
Substanz, die aus N-Acetylgalactosamin sowie einer kurzen Ribonukleinsäure (siRNA, small
interfering RNA) besteht, unterbindet als erster Vertreter einer neuen Klasse die PCSK9-Syn-
these in der Leber und muss nur zweimal jährlich gegeben werden. Am ESC-Jahrestreffen
konnten die Forscher Einjahresdaten zur Senkung des LDL-Cholesterins (sekundärer End-
punkt) präsentieren; auf diesen Zeitraum bezogen konnten die LDL-Werte zusätzlich zu Sta-
tinen (73%) mit oder ohne Ezetimib (31%) unter einer einzelnen Dosis von 200, 300 oder 500
mg Inclisiran um 31,6, 38,1 und 39,8 Prozent gesenkt werden. Unter 100, 200 oder 300 mg
Inclisiran zweimal jährlich wurden Reduktionen um 31,0, 41,1 und 46,8 Prozent erzielt. Ab-
gesehen von vermehrten lokalen Reaktionen war die Sicherheit in beiden Gruppen vergleich-
bar. Die Einjahresdaten bestätigen und erweitern die Sechsmonatszahlen (2): Die grösste
Reduktion konnte nebenwirkungsfrei unter zweimal jährlicher Injektion von Inclisiran
300 mg erzielt werden. Phase-III-Studien zur LDL-C-Senkung laufen bereits, eine grosse Stu-
die zu kardiovaskulären Endpunkten ist in Vorbereitung.
Mü
Quellen: 1. Ray KK: Impact of a single or two dose regimen of inclisiran, a novel siRNA inhibitor to PCSK9 on time averaged reductions in LDL-C over 1 year. ORION 1. Präsentiert im Rahmen der Hot Line: Late-Breaking Clinical Trials 2, ESC 2017, 26. bis 31. August 2017 in Barcelona. 2. Ray KK et al.: Inclisiran in patients at high cardiovascular risk with elevated LDL cholesterol. N Engl J Med 2017; 376 (15): 1430–1440.
wirkt, bei einigen Patienten sogar beeindruckend – wahrscheinlich bei jenen, bei welchen der Sympathikus eine wesentliche Rolle spielt.
Welche Patienten sind Kandidaten für die renale Ablation? Im Moment machen wir den Eingriff bei Hypertonikern, welche trotz dreier gut dosierter Antihypertensiva einen systolischen Blutdruck > 140 mmHg haben. Patienten mit systolischer Hypertonie ziehen wir nicht in Betracht.
Gelten Patienten, die keine Medikamente nehmen wollen, schon als geeignet? Das ist sicher nicht die heutige Meinung – in ausgewählten Fällen könnte man das aber in Betracht ziehen –, eine renale Ablation ist besser als ein Hirnschlag.
Haben Sie noch eine Botschaft vom diesjährigen Kongress für die Ärzte in der Praxis? Die Kardiologie ist enorm innovativ, das Gebiet entwickelt sich laufend weiter – es ist fast schon berauschend, dabei sein zu dürfen. Das zeigt sich auch beim «European Heart Journal», das wir in Zürich herausgeben dürfen: Für mich und das Editorial-Team des «European Heart Journals» war das Editorial-Meeting mit zahlreichen Teilnehmern aus Europa, den USA und Asien das persönliche Highlight. Wir konnten den unglaublichen Erfolg des «European Heart Journals» feiern mit einem ImpactFactor von über 20 und dem ersten Platz weltweit unter den kardiovaskulären Zeitschriften. Besonders ausgezeichnet haben wir die besten Gutachter und Redaktoren aus vielen Ländern.
Das Interview führte Christine Mücke.
Referenz: 1. Mega JL et al.: Rivaroxaban in patients with a recent acute coronary syndrome. N Engl J Med 2012; 366: 9–19. 2. Whelton PK et al.: ACC/AHA/AAPA/ABC/ACPM/AGS/APhA/ASH/ASPC/NMA/PCNA guideline for the prevention, detection, evaluation, and management of high blood pressure in adults: A report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on clinical practice guidelines. Hypertension. 2017 Jan 1; HYP.0000000000000065.
Die neuen amerikanischen Blutdruckleitlinien propagieren u.a. einen Blutdruckzielwert von 130/80 mmHG. Zugriff via QR-Code oder online unter: https://www.rosenfluh.ch/qr/ us-blutdruckleitlinie-2017
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