Transkript
ERS
«Treatable Traits» statt Asthma und COPD
Brauchen wir überhaupt Diagnosen?
Eine internationale Gruppe schlug im vergangenen Jahr vor, die Diagnosen Asthma und COPD als definierte Entitäten zu streichen und alleine auf eine individualisierte Therapie der Betroffenen und ihrer Symptome zu setzen. Dieser radikale Ansatz wurde von einer Kommission des Journals «The Lancet» aufgegriffen, die ihren Report im Rahmen des ERS 2017 präsentierte.
Die derzeit in der Pulmologie eingesetzte Klassifikation gerät zunehmend in Diskussion. «Asthma und COPD sind komplexe und heterogene Zustandsbilder, die individualisierte Ansätze in der Therapie erfordern», sagt Prof. Alvar Agusti aus Barcelona und schlägt vor, statt von definierten Erkrankungen lieber pragmatisch von «treatable traits» zu sprechen. Treatable Traits sollten den direkten Weg zu einer personalisierten Therapie weisen, ohne dass zuvor ein diagnostisches Etikett gefunden werden müsse. Dieser Schritt weg vom «Oslerschen Paradigma», das Krankheiten entlang anatomisch definierter Organ-
«Die Sprache muss den Bedürfnissen entsprechen. Das
heisst, wir werden breite Termini benötigen, um beispiels-
weise mit unseren Patienten zu kommunizieren oder die
öffentliche Wahrnehmung von Erkrankungen und den
davon Betroffenen zu verbessern.»
systeme klassifizierte, wurde im vergangenen Jahr in einem Positionspapier einer internationalen Gruppe unter Agustis Leitung publiziert (1). Das renommierte Journal «The Lancet» hat mit der Einberufung einer Kommission zum Thema Asthma diesen radikalen Ansatz aufgegriffen. Im Rahmen des diesjährigen ERS-Kongresses präsentierte die Kommission ihr Konsensusdokument, das in nächster Zeit wohl für einige Diskussionen sorgen dürfte (2). Die Publikation «After asthma: redefining airways diseases» schlägt so wie das Positionspapier von 2016 den Abschied von der heute gebräuchlichen Taxonomie der Atemwegserkrankungen vor. Erstautor des Dokuments ist Prof. Ian Pavord aus Oxford, der in seiner Präsentation die zukünftige Rolle der Präzisionsmedizin hervorhob, die zu individualisierten Therapien jenseits der heute gebräuchlichen Diagnosen führen soll. Diese Diagnosen konstruieren Krankheiten nämlich als feste, unveränderliche Entitäten, die nach sehr alten Kriterien abgegrenzt werden, was wiederum zu generischen Therapien und letztlich zu blinder Empirie statt zu wissenschaftlicher Evidenz führe. Stattdessen solle sich das Management von Patienten mit Atemwegserkrankungen «etikettenfrei» gestalten. Statt einer Erkrankung sollen die pulmonalen und extrapulmonalen treatable traits diagnostiziert und behandelt werden.
Dekonstruktion der gewohnten Diagnosen
Pavord unterstrich, dass treatable traits nicht einfach Symptome sind, sondern sowohl phänotypische als auch endotypische Aspekte der Erkrankung umfassen. Das beinhaltet auch bestimmte Laborparameter. Ein und derselbe Patient kann von mehreren treatable traits betroffen sein, und diese können sich im natürlichen Krankheitsverlauf oder unter Therapie verändern. Pavord erläuterte dies am Beispiel der eosinophilen Inflammation und der Erfahrungen mit dem Antikörper Mepolizumab, der zunächst in einer Population von Patienten mit moderatem bis schwerem Asthma untersucht worden war und dabei keinen signifikanten Vorteil gegenüber Plazebo erkennen liess (3). Als man dazu überging, die Studienpopulation auf Patienten mit erhöhter Eosinophilenzahl im Sputum zu reduzieren, erwies sich Mepolizumab als hochwirksam (4). Mit anderen Antikörpern in der Asthmatherapie wurden ähnliche Erfahrungen gemacht. Heute könne man, so Pavord, für alle gezielten Antikörpertherapien genau definieren, bei welchen Patienten mit Wirksamkeit zu rechnen ist. Pavord: «Das gibt Anlass zur Sorge. Es könnte gut sein, dass sinnvolle Ansätze wieder in der Versenkung verschwunden sind, weil die Studienpopulationen suboptimal selektiert waren.» Pavord wies auch darauf hin, dass Eosinophilie auch bei COPD-Patienten gefunden wird und damit einen treatable trait jenseits der bekannten Diagnosen darstellt, der keineswegs immer mit ausgeprägter Atemwegsobstruktion korreliert. Damit gelangt man zu den treatable traits «AtemwegsDysfunktion» und «eosinophile Entzündung», die aus unterschiedlichen Gründen behandelt werden sollten: die Dysfunktion der Atemwege wegen der Symptomatik und die eosinophile Inflammation wegen des Risikos von Exazerbationen. Mit Biomarkern wie dem fraktionierten exhalierten Stickstoffmonoxid (FeNO) sowie der Eosinophilenzahl im Blut als Mass für die Aktivität von IL-5 hat man einfache Tests für die Risikostratifizierung zur Verfügung. Daraus ergibt sich eine Symptom- und eine Risikoachse und damit ausserdem ein Schema aus vier «Boxen», in die die Asthmapopulation eingeteilt werden kann: Benigne, prädominant symptomatische, prädominant entzündliche sowie konkordante Erkrankung, wobei konkordant schweres sowohl entzündliches als auch symptomatisches Asthma bedeutet. Für jede dieser Boxen werden von der Lancet Commission bevorzugte Therapien vorgeschlagen.
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ERS
Ungewöhnliche Überlegungen zur Asthmatherapie
Während bei der benignen Erkrankung eine symptomatische Behandlung ausreichend ist, sollte bei prädominant symptomatischen Patienten mit langwirksamen Beta-2-Agonisten oder Antimuscarinica die Symptomlast reduziert werden. In den beiden «Risikogruppen», also beim prädominant entzündlichen sowie bei konkordanten Asthma, bilden inhalative Kortikosteroide die Basis der Therapie. In schweren Fällen und bei entsprechenden Pathologien können Biologika zum Einsatz kommen. Bei Patienten mit konkordanter Erkrankung kann alles erforderlich werden, was heute in der Therapie von Atemwegserkrankungen zur Verfügung steht: LAMA, LABA, inhalative (und unter Umständen auch systemische) Steroide sowie Biologika. Alles in allem weist das Schema der Lancet Commission Ähnlichkeiten mit dem ABCD-Beurteilungsinstrument der Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) auf. In ihrer kürzlich (unter dem Vorsitz von Agusti) publizierten Leitlinie schlägt GOLD ein Assessment von COPD-Patienten nach Symptomatik (x-Achse) und Exazerbationen (y-Achse) unabhängig vom Ausmass der Atemwegsobstruktion vor. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt soll der Therapiealgorithmus der Lancet Commission allerdings nicht als konkrete Therapieempfehlung, sondern lediglich als Denkanstoss angesehen werden. Denn er würde bei Patienten mit benignem oder prädominant symptomatischem Asthma mit niedriger Eosinophilenzahl das Absetzen der Steroide nahelegen. Dies könnte allerdings gefährlich sein. Pavord: «Wir wissen nicht, ob es sicher ist, bei bestimmten Patienten mit vermeintlich mildem Asthma auf das inhalative Steroid zu verzichten. Solange wir dazu keine Daten haben, wollen wir unser Modell ausdrücklich nicht als Therapieempfehlung verstanden wissen.» Mehr Evidenz forderte in diesem Zusammenhang auch Prof. Helen Reddel aus Sydney, die Vorsitzende des wissenschaftlichen Komitees der Global Initiative for Asthma (GINA). Seit 2014 produziert GINA Materialen für das Management von Asthma im allgemeinmedizinischen Alltag – mit den naheliegenden Zielen einer Reduktion sowohl von Symptomen als auch von Komplikationen. Der Weg dorthin führt, so Reddel, von Ideen über Evidenz zur Translation in den klinischen Alltag. Der Schlüssel zu diesem Vorgehen sind Daten aus wissenschaftlichen Studien. Reddel betont, dass die aktuelle Taxonomie der Atemwegserkrankungen über viele Jahre und aus durchaus guten Gründen herausgearbeitet wurde und man auf historische Begriffe wie «Chronic non-specific lung disease» wieder verzichtet habe. Allerdings sieht Reddel durchaus auch die Vorzüge der treatable traits. So seien Daten zum Auftreten eosinophiler Granulozyten bei COPD von der wissenschaftlichen Community viele Jahre abgelehnt und entsprechende Studien im Review-Prozess ausgesondert worden.
Mehr Daten aus grossen Beobachtungsstudien gefordert
Gibt man die Entitäten Asthma und COPD nun wieder auf, so hätte dies gravierende Folgen für das Design von Studien und den Zulassungsprozess neuer Medikamente. Und man müsste sich mit gravierenden Folgen für die ärztliche Kommunikation auseinandersetzen. Reddel: «Die Sprache muss den Bedürfnissen entsprechen. Das heisst, wir werden breite Termini benötigen, um beispielsweise mit unseren Patienten zu kommunizieren
oder die öffentliche Wahrnehmung von Erkrankungen und der davon Betroffenen zu verbessern. Die Verwendung solcher Termini bedeutet jedoch nicht, dass die Therapie nach dem Motto «one size fits all» gestaltet werden solle. Eine präzisere Taxonomie wäre wünschenswert. Dafür benötigen wir allerdings auch präzisere Definitionen.» Und man werde, so Reddel, grosse Beobachtungsstudien benötigen, die klären sollen, wie viele Patienten welche treatable traits aufweisen beziehungsweise zu sehen, ob diese traits langfristig stabil bleiben oder in Bewegung sind. In diesem Sinne müsse auch eine genauere und bessere Validierung der Biomarker gefordert werden. Denn diese sollen ja in Zukunft die Grundlage wichtiger Therapieentscheidungen bilden. Hier müsse man sehr vorsichtig sein. In diesem Zusammenhang wies Reddel besonders
«Wir gehen heute von einem Modell aus, in dem Expo-
som, Mikrobiom, Proteom, Epigenom, Genom und so
weiter Ebenen bilden, deren Interaktion Gesundheit und
Krankheit bestimmen.»
auf die Rolle der inhalativen Steroide hin. So habe eine Fallkontrollstudie gezeigt, dass es bei Asthmapatienten zu mehr Hospitalisierungen kommt, wenn unter einer LABA-Therapie die ICS-Compliance abnahm (6). Agusti, der geistige Vater der treatable traits, erläuterte das Konzept aus der Perspektive des COPD-Experten: «Wir gehen heute von einem Modell aus, in dem Exposom, Mikrobiom, Proteom, Epigenom, Genom und so weiter Ebenen bilden, deren Interaktion Gesundheit und Krankheit bestimmen. Nicht übersehen werden darf dabei aber, dass es auch innerhalb der einzelnen Ebenen komplexe Interaktionen gibt und wir diese Interaktionen verstehen müssen. Das ist schwierig.» In Zukunft sollten Therapieentscheidungen also weniger auf Basis von Phänotypen getroffen werden. Stattdessen gelte es, Endotypen (beispielsweise anhand von Biomarkern) zu identifizieren und möglichst zielgerichtet zu therapieren. Ein solches Konzept, dass die Aufnahme systembiologischer Ansätze in die Pulmologie bedeutet, wurde von Agusti vor wenigen Wochen im «Lancet» publiziert (7).
Reno Barth
Quelle: Session «The Lancet commission on asthma» beim ERS Kongress 2017, 12. September 2017 in Mailand.
Take Home Messages
® Die Diagnosen Asthma und COPD und damit die gesamte Taxonomie der Atemwegs-
erkrankungen werden infrage gestellt.
® Die Lancet Commission fordert neue Wege im Asthmamanagement, basierend auf
«treatable traits».
® Das Management-Schema der Lancet Commission weist Ähnlichkeiten mit dem ABCD-
Beurteilungsinstrument von GOLD auf.
® Die Global Initiative for Asthma (GINA) steht dem Konzept der «treatable traits» mit eini-
ger Skepsis gegenüber und fordert mehr Studien.
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ERS
Referenzen: 1. Agusti A et al.: Treatable traits: toward precision medicine of chronic airway dise-ases. Eur Respir J 2016; 47(2): 410–419. 2. Pavord ID: After asthma: redefining airways diseases. The Lancet, September 11, 2017; doi: 10.1016/S0140-6736(17)30879-6. [Epub ahead of print]. 3. Flood-Page P et al.: A study to evaluate safety and efficacy of mepolizumab in pati-ents with moderate persistent asthma. Am J Respir Crit Care Med 2007; 176(11): 1062–1071. 4. Haldar P et al.: Mepolizumab and exacer-bations of refractory eosinophilic asthma. N Engl J Med 2009; 360(10): 973–984. 5. Pavord ID, Agusti A: Blood eosinophil count: a biomarker of an important trea-table trait in patients with airway disease. Eur Respir J 2016; 47(5): 1299–1303. 6. Sadatsafavi M et al.: Dispensation of long-acting β agonists with or without inhaled corticosteroids, and risk of asthma-related hospitalisation: a population-based study. Thorax 2014; 69(4): 328–334. 7. Agustí A et al.: What does endotyping mean for treatment in chronic obstructive pulmonary disease? Lancet 2017; 390(10098): 980–987.
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