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Urininkontinenz bei Betagten vorsichtig angehen
Bestehende Medikation immer hinterfragen
Foto: vh
Urininkontinenz bei polymorbiden Betagten kann durch vorsichtige Medikation korrigiert werden. Manchmal ist sie auch eine Folgeerscheinung eines anderen Leidens, wie Dr. Cristina Mitrache, Chefärztin Reha Chrischona, Bürgerspital Basel, am KHMKongress erklärte.
Cristina Mitrache
Mit steigendem Alter, Demenz und Immobilität korreliert auch die Urininkontinenz. Bei alten, noch zu Hause lebenden Patienten ist eine Drangsymptomatik mit Nykturie auch mit einer erhöhten Unfallgefahr verbunden. Eine genaue Abwägung der Gegebenheiten bei oft multimorbiden und polymedizierten Patienten sei aber vor jeder Änderung notwendig, rät Mitrache. Betagte unter Schmerzmitteln, Herzinsuffizienzmedikation, Antidepressiva oder Medikationen gegen Dranginkontinenz können verschiedene Probleme entwickeln, die zu korrigieren sind, möglichst ohne neue zu provozieren. Bei pathologischer Restharnbildung und Blasenentleerungsstörung beispielsweise besteht die Möglichkeit, bei beiden Geschlechtern mit Alphablockern wie Tamsulosin (1 × 400 µg) oder Alfuzosin (1 × 10 mg) durch selektive und kompetitive Bindung an Alpha-1-Adrenorezeptoren eine Entspannung der glatten Muskulatur von Prostata und Harnröhre herbeizuführen. Beachtet werden muss dabei die als Nebenwirkung auftretende orthostatische Hypotonie.
Obstipation induziert Drang
Bei gleichzeitig bestehender Obstipation kann eine volle Ampulle durch Druck auf die Blase den Detrusor bis zu einer Dranginkontinenz reizen. Kotballen können auch den Beckenboden überdehnen oder den Blasen-UrethraWinkel verzerren und damit eine Stressinkontinenz auslösen. Ausserdem erzeugen sie Unbehagen, Verwirrtheit und Lethargie, führen zur Schädigung des Nervus pudendus und sind häufig die Ursache für Stuhlinkontinenz mit dünnem Schleim. Als Massnahme bei Betagten empfiehlt Mitrache frühzeitig stimulierende Laxanzien wie Laxoberon®, X-Prep®, Dulcolax®, Feigensirup oder Prontolax®-Suppositorien. Gleichzeitig mit den Laxanzien können Weichmacher wie Duphalac®, Importal®, Macrogol (Transipeg®, Movicol®, Klean-Prep®, Cololyt®) oder Paragol® gegeben werden. Bei Antidepressiva muss eine mögliche anticholinerge Serumaktivität berücksichtigt werden, vor allem wenn gleichzeitig auch anticholinerg wirkende Medikamente gegen die Urininkontinenz eingesetzt werden. Als nicht medikamentöse Massnahmen können ein Spitexeinsatz, Physiotherapie zu Hause, Stützstrümpfe, ein Mahlzeitendienst, Einlagen oder Gehhilfen mögliche Unterstützung bei der selbstständigen Lebensweise bieten.
Risikofaktoren für Inkontinenz
Damit die Inkontinenz gut behandelt werden kann, müssen gemäss Mitrache erst die reversiblen beziehungsweise irreversiblen prädisponierenden Faktoren erfasst werden: • Alter > 75, bei Frauen > 3 Geburten • gynäkologische/urologische Erkrankungen: genitale
Athrophie, Steine, Prostatahyperplasie, Operationen, Strikturen, Bestrahlung, rezidivierende Harnwegsinfekte, Restharn > 100 ml • Koprostase/Obstipation • > 3 Medikamente • > 1 Medikament wie Narkotika, Sedativa, Antidepressiva, Antiparkinsonika, Diuretika, Alphaadrenergika/ -blocker, Neuroleptika, Anticholinergika, Kalziumantagonisten • Polymorbidität: > 3 aktive Diagnosen, > 5 abnorme Laborwerte • Stoffwechselkrankheiten: Diabetes mellitus oder insipidus; Hyperkalziämie • ZNS-Erkrankungen: Demenz, Parkinson, zerebrovaskuläre Insuffizienz, Hydrozephalus, Multiple Sklerose • Autonomieverlust im täglichen Leben. Wichtig sei auch immer die lokale Inspektion, denn die Körperwahrnehmung bei betagten Patienten stimme mitunter nicht mit dem anzutreffenden Bild überein, rät Mitrache. Ein Miktionsprotokoll gibt Aufschluss über Häufigkeiten und Mengen der Blasenentleerung und das Trinkverhalten. Die Pharmakotherapie bei instabiler Blase besteht aus Anticholinergika wie Tolterodin (1 × 4 mg), Trospiumchlorid (2 × 20 mg, Darifenacin 1 × 7,5 mg), Solifenacin (1 × 5 mg), Fesoterodin (4 mg) oder dem nicht anticholinergischen Spasmolytikum Flavoxat (3 × 200 mg). Die entsprechenden Nebenwirkungen müssen berücksichtigt und eventuell behandelt werden. Wenn sich die Symptome noch nicht hinreichend verbessert haben, empfehlen sich Therapiekombinationen, denn Harninkontinenz und hyperaktive Blase haben meist mehrere Ursachen. Einer Primärbehandlung muss auch immer eine Langzeitprophylaxe folgen, so Mitrache. Mit einem Blasentraining können über 35 Prozent der Inkontinenzepisoden reduziert werden, teilweise ist sogar eine Heilung möglich. Es eignet sich bei Senioren mit erhaltenen kognitiven Funktionen mit dem Ziel, die Inter-
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valle der Toilettengänge zu verlängern, so Mitrache. Ein Miktionstraining verlangt bei Harndrang sitzen zu bleiben, den Beckenboden anzuspannen, abzuwarten, bis der
Take Home Messa es
® Nicht nur Harnwegsinfekte suchen und behandeln. ® Reversible und irreversible Risikofaktoren für Inkontinenz
erfassen.
® Miktionsprotokoll erstellen lassen. ® Restharn ausschliessen. ® Ziele festlegen und dranbleiben.
Harndrang abklingt, und erst dann zur Toilette zu gehen. So lässt sich eine Verlängerung der Entleerungsintervalle um etwa 20 Minuten pro Woche erreichen (1). Führt die konservative Therapie nach drei Monaten nicht zu einem befriedigenden Erfolg, sollte eine urodynamische Abklärung folgen. Eventuell ergibt sich eine Indikation für einen chirurgischen Eingriff.
Valérie Herzog
Quelle: «Urininkontinenz: pragmatische Vorgehensweise beim betagten Patienten», 19. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 22./23. Juni 2017 in Luzern.
Referenz: 1. Burgio KL et al.: Behavioral training with and without biofeedback in the treatment of urge incontinence in older women: a randomized controlled trial. JAMA 2002; 288: 2293–2299.
Beifall für die qualitativ hochstehenden Vorträge am KHM-Kongress.
Verdiente Pause mit Seesicht zwischen den Vorträgen. 12 • CongressSelection Hausarztmedizin • September 2017
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