Transkript
KHM
«Das Kolonkarzinomrisiko kann massiv reduziert werden»
Tipps zu Screening und Ernährung
Dickdarmprobleme wie das Kolonkarzinom sollten nicht so häufig vorkommen, ebenso funktionelle Beschwerden. Gastroenterologe Prof. Manfred Essig, Chefarzt Medizin, Spital Zweisimmen, fordert am KHM-Kongress mehr Screening und mehr Beachtung für das intestinale Mikrobiom.
Foto: vh
Manfred Essig
Kolonkarzinomscreening ist notwendig, weil das Kolonkarzinom die zweithäufigste Karzinomtodesursache ist. Das Lebenszeitrisiko, an einem Kolonkarzinom zu versterben, wird auf 5 Prozent beziffert. Jährlich werden in der Schweiz 1800 Fälle entdeckt, die Mortalität beträgt bis zu 50 Prozent, die Prognose hängt vom Stadium ab. «Das Kolonkarzinom lässt sich mit Primärprävention und durch frühzeitige Abtragung adenomatöser Polypen verhindern, bei anderen Karzinomarten wie dem Prostata-, dem Mamma- oder dem Bronchuskarzinom klappt die Vorsorge im Vergleich nicht so gut», erklärte Gastroenterologe Essig.
Womit screenen?
Labor-Screeningmethoden sind verbreitet, aber ihre Treffsicherheit ist nicht so gut. Beim kolorektalen Karzinom werden mit dem Hämoccult-Test viele falschpositive Resultate gestellt (Sensitivität 64%), mit dem fäkalen Immunochemietest (FIT) FlexSure OBT etwas weniger (Sensitivität 82%). Beim fortgeschrittenen Adenom liegt die Sensitivität bei beiden Verfahren bei 43 und 33 Prozent (1). Möglicherweise wird der FIT mit der Weiterentwicklung in Zukunft zuverlässiger, doch wird das noch einige Jahre brauchen, so die Literatur. Es gibt auch einen Genexpressionsbluttest, dessen Sensitivität für Kolonkarzinome 78 Prozent beträgt, für Adenome > 1 cm jedoch nur 52 Prozent (2). Auch hier sind in Zukunft sicher noch Verbesserungen zu erwarten. Die Computertomografie Abdomen als Screeningmethode bringt keinen primären Vorteil, denn im Vergleich zur Kolonoskopie ist die Entdeckungsrate von frühen relevanten Befunden schlechter (3). Goldstandard bleibt seit 1993 die Kolonoskopie mit einer Sensitivität für Adenome um 95 Prozent und einer Risikoreduktion für ein kolorektales Karzinom von 76 bis
90 Prozent (4). Allerdings zeigt diese Methode auch keine 100-prozentige Sensitivität für Adenome oder kolorektale Karzinome. Zudem sei sie für den Patienten unangenehm, sedierungspflichtig und invasiv, und darüber hinaus sei die Qualität der Untersuchung in hohem Mass abhängig vom Untersucher selbst sowie von der Güte der Darmreinigung durch den Patienten, schränkt Essig ein. Eine gute Darmreinigung erreicht man mit Macrogol (Klean-Prep®, Moviprep®) oder Natriumpicosulfat (Picoprep®), die Wahl ist je nach Patientensituation anders.
Mehr Zeit für funktionelle Darmbeschwerden
Chronische Abdominalbeschwerden bestehen mindestens drei Monate und haben in bis zu 50 Prozent der Fälle eine funktionelle Ursache. Die häufigste chronische gastrointestinale Erkrankung ist dabei das Reizdarmsyndrom, das bei etwa 5 bis 11 Prozent der Allgemeinbevölkerung verbreitet ist. Etwa ein Fünftel sucht deswegen einen Arzt auf. Wenn der Patient zum ersten Mal kommt, ist eine saubere Abklärung hinsichtlich funktioneller beziehungsweise nicht funktioneller Ursachen bei einem guten Kosten-Nutzen-Verhältnis wichtig. Die Abklärung eines Reizdarmsyndroms ist aufwendig, es fehlen diagnostische Tests, die eine klare Abgrenzung erlauben. Das Erkennen des Symptommusters sowie ein individualisierter Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen ist hier von grosser Bedeutung. Der Calprotectintest diskriminiert gut entzündliche und nicht entzündliche Zustände, der Leukozytenmarker zeigt aber jede Entzündung an und liefert daher auch falschpositive Resultate. Ein erhöhter Calprotectinwert sollte durch einen zweiten Test ein paar Wochen später bestätigt werden, wenn dies die Arzt-Patienten-Beziehung erlaubt, rät der Gastroenterologe. Funktionelle Beschwerden sind zeitaufwendig in der Abklärung und Behandlung.
Definitionen
Präbiotika: Nahrungsbestandteile, die unresorbiert in den Dickdarm gelangen und von der Darmflora abgebaut werden. Sie sind Nahrungsgrundlage bestimmter Bakterien im Darm. Probiotika: lebende Bakterien oder Pilze, die in den Darm gelangen und einen gesundheitlichen Nutzen haben. Beispiele sind Laktobazillen, Bifidobakterien, Enterokokken, Hefepilze.
Das Mikrobiom entscheidet mit
Funktionellen Beschwerden auf die Spur zu kommen, ist sehr komplex. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist dabei die Darmflora, denn diese wird je nach Zusammensetzung der Nahrung unterschiedlich beeinflusst. Die Darmflora wird heute als Bestandteil des Mikrobioms verstanden, einer körpereigenen Ansammlung von Billionen von Mikroorganismen, die je nach Gesundheitszustand anders zusammengesetzt sind und diesen vielleicht
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sogar auch entscheidend beeinflussen. Nebst der Synthetisierung von Vitaminen (K und B), Darmhormonen, Zytokinen und zahlreichen Proteinen, verhindert das intestinale Mikrobiom durch Produktion von Peroxiden und spezifischen bakterienhemmenden und -abtötenden Proteinen bis zu einem gewissen Grad eine Kolonisation pathogener Keime durch Kompetition um Bindungsstellen und Substrat. Heute werden verschiedene neurologische Erkrankungen, wie zum Beispiel kognitive Einschränkungen, Diabetes, Autismus oder Parkinson, mit dem Einfluss aus dem Darm in Verbindung gebracht.
Gute Laune vom Joghurt
Durch eine Änderung der Ernährungsweise wie beispielsweise bei einer Diät oder einer Auslandsreise ändert sich die quantitative Zusammensetzung des intestinalen Mikrobioms sehr schnell und führt zu entsprechenden Reaktionen wie Durchfall oder Verstopfung. Der Grundsatz «Cook it, peel it or leave it» auf Tropenreisen dient somit der Aufrechterhaltung der gewohnten «normalen» Zusammensetzung der Darmflora, bis das Immunsystem adaptiert ist. Aufgrund der Interaktion gewisser Prä- und Probiotika kann durch die Darm-HirnAchse das zentrale sowie das enterische Nervensystem beeinflusst werden (5). Einer Diät mit fermentierten Milchprodukten wie Joghurt wird so beispielsweise eine stimmungsaufhellende Wirkung nachgesagt. Die Antwort auf die Frage, warum nach einem Rauchstopp bei fast allen eine Gewichtszunahme erfolgt, könnte nicht nur in der kompensatorischen Nahrungsaufnahme liegen, sondern auch in der Veränderung des intestinalen Mikrobioms durch Vergrösserung des Anteils an FirmicutesBakterien, die noch 10 Prozent mehr Energie aus den Kohlenhydraten herausholen können. Was zur Zeit des Jäger-und-Sammler-Daseins des Menschen als Überlebensvorteil galt, ist heute bei überwiegend sitzender Tätigkeit eher nachteilig.
Wie ernährt man sein Mikrobiom richtig?
Heute wird ein grosser Teil der Nahrung gekocht, was einer Vorverdauung gleichkommt, denn die Nahrungsbestandteile für den Körper werden durch den Kochvor-
Präbiotikareiche Nahrungsmittel
• Avocado • Chicorée • Zichorienwurzel • Topinambur • Artischocken • Pastinaken • Löwenzahnwurzel • Lauch • Zwiebeln • Schwarzwurzeln • Hülsenfrüchte
gang schneller verfügbar macht. Rohe Nahrungsmittel benötigen mehr Energie zur Verdauung als gekochte. Gekochte Karotten haben beispielsweise einen höheren glykämischen Index als rohe. Polysaccharide sind die wichtigsten Substrate der Darmbakterien und werden aus pflanzlichen Zellwänden zur Verfügung gestellt – die sogenannten Ballaststoffe. Diese bekommen somit eine neue Bedeutung und werden grösstenteils durch das intestinale Mikrobiom verwertet. Fermentierbare wasserlösliche oder -unlösliche Ballaststoffe, sogenannte Präbiotika (Kasten), sind demnach die ideale Nahrung für die Bakterien im Mikrobiom. Man findet wasserlösliche Ballaststoffe wie Inulin und Guar zum Beispiel in Salat und Haferfasern. Probiotika, beispielsweise Bakterien vom Typ Lactobacillus bulgaricus, Streptococcus thermophilus, sind auf Oberflächen von Früchten und Beeren zu finden. Eine Umstellung der Ernährung wirkt sich immer auf das Mikrobiom aus. Herauszufinden, was letztlich das Wohlbefinden steigert oder die Beschwerden lindert, braucht demnach viel Zeit, die sich der Patient dafür nehmen sollte, so der abschliessende Rat des Gastroenterologen Essig.
Valérie Herzog
Quelle: «Dickdarm», 19. Fortbildungstagung des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 22./23. Juni 2017 in Luzern.
Take Home Messa es
® Jede Art von Screening vermindert die Inzidenz
von kolorektalem Karzinom.
® Als Screeningtest ist die Kolonoskopie Goldstandard.
® Funktionelle Abdominalbeschwerden brauchen Zeit;
initial gut abklären.
Referenzen: 1. Allison JE et al.: Screening for colorectal neoplasms with new fecal occult blood tests: update on performance characteristics. J Natl Cancer Inst 2007; 99: 1462–1470. 2. Ciarloni L et al.: Development and clinical validation of a blood test based on 29-gene expression for early detection of colorectal cancer. Clin Cancer Res 2016; 22: 4604–4611. 3. Rockey DC: Computed tomographic colonography: current perspectives and future directions. Gastroenterology 2009; 137: 7–14. 4. Winawer S et al.: Prevention of colorectal cancer by colonoscopic polypectomy. The National Polyp Study Workgroup. N Engl J Med 1993; 329: 1977–1981. 5. Mayer EA et al.: Gut/brain axis and the microbiota. J Clin Invest 2015; 125: 926–938.
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Fotos: creativ-collection
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