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SGAIM
INTERVIEW
«Multimorbidität und Komplexgrundversorgung sind die Spezialität des Allgemeininternisten»
Interview mit Prof. Edouard Battegay, Direktor Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, Universitätsspital Zürich
Fast jeder vierte Mensch ist multimorbid. Im Alter nimmt Multimorbidität zwar zu, doch auch Kinder können bereits mehrere Diagnosen aufweisen. Im Universitätsspital Zürich sind Patienten mit nur einer Diagnose eher selten, es können bis zu deren 30 sein, wie Prof. Edouard Battegay am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) in Lausanne berichtet. Daraus ergibt sich Komplexität. Im Interview erklärt der Multimorbiditätsexperte, wie sich Komplexität im Alltag aus Multimorbidität heraus entwickelt.
Multimorbidität ist Komplexität. Was heisst das für die internistische Grundversorgung in Ambulanz und Spital? Prof. Edouard Battegay: Momentan werden die Medizinstudenten im Konzept der Monomorbidität ausgebildet. Ärzte müssen jedoch Patienten betreuen, die mehrere Erkrankungen gleichzeitig haben. Multimorbidität kann zu Dilemmasituationen führen, beispielsweise dann, wenn sich die Behandlungen zweier Monomorbiditäten gegenseitig kontraindizieren, wie zum Beispiel die Antikoagulation bei Patienten mit tiefer Venenthrombose bei gleichzeitiger Magenblutung.
Sie haben am Kongress der SGAIM auch von Komplexgrundversorgung gesprochen. Was meinen Sie damit? Ein Grundversorger betreut beispielweise einen Patienten mit Hypertonie, den er mit zwei Antihypertonika gut einstellen kann. Komplexgrundversorgung entsteht bei einem Hypertoniepatienten, dessen Blutdruck sich auch mit einer Dreierkombination nicht optimal einstellen lässt, wo also eine Therapieresistenz vorhanden ist. Bei einer sekundären Hypertonie oder einem hypertensiven Notfall ergeben sich ebenfalls komplexe Situationen in der Grundversorgung. Ein anderes Beispiel für Grundversorgung ohne Komplexität wäre die Behebung eines Eisenmangels bei einem Patienten mit neu entdeckter Sprue, bei dem nach glutenfreier Ernährung alles wieder in Ordnung ist. Wenn sich trotz glutenfreier Ernährung weder Müdigkeit noch
Das gibt zu denken
Was sind Ihre komplexgrundversorgerischen Überlegungen in diesen Situationen?
• Soll ein gut eingestellter Hypertoniker, der früher Blutdruckkrisen hatte, mit Dreifachkombination, am Operationstag, den er nüchtern antreten sollte, auf die Bluthochdruckmedikation verzichten?
• Soll bei einem Patienten mit nicht recht stillbarem Nasenbluten die Antikoagulation mit Marcoumar gestoppt oder gar aufgehoben werden?
• Soll ein Patient mit schlecht eingestelltem Diabetes, der wegen einer Polymyalgia rheumatika neu Prednison erhält, hospitalisiert werden?
Eisenmangel beheben lassen, wäre dies aus meiner Sicht ein komplexer Grundversorgungspatient.
Ist das die Zukunft des Hausarztes, das Komplexmanagement? Ja, schon. Teilweise wird das andere durch künstliche Intelligenz, Apps, Internet und so weiter abgenommen, auch wenn wir noch sehr weit davon entfernt sind. Der Hausarzt oder ein Generalist im Spital soll versuchen, die Übersicht zu behalten, das Puzzle zusammenzusetzen, einen Sinn hinter den Symptomen zu finden und dann die Prioritäten der Betreuung zu setzen. In all diesen Aspekten ist künstliche Intelligenz wohl auch auf lange Sicht hin nicht möglich. Manchmal ist es heutzutage allerdings so, dass der Generalist erst am Ende einer Spezialistentour aufgesucht wird, anstatt zu Beginn und auch zwischendurch. Aber je nach Tunnelblick der entsprechenden Fachrichtung werden Diagnosen und Zusammenhänge verpasst. Bei einer Dyspnoe wird vielleicht eine Herzinsuffizienz diagnostiziert, aber die gleichzeitig vorhandene Angststörung verpasst. Viele Aspekte der Versorgung von Multimorbidität und Komplexgrundversorgung sind meines Erachtens die Spezialität des Allgemeininternisten.
Welche Diagnosen sind am häufigsten? Hypertonie ist mit Abstand die häufigste Diagnose in der ambulanten Praxis. Entweder als primäres oder auch als nicht prioritäres Gesundheitsproblem. Zu den zehn häufigsten Herausforderungen gehören Symptome wie Bauchschmerzen oder Brustschmerzen, ein Check-up, aber auch koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, Diabetes, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Depression und Demenz. Einzeln treten letztere Erkrankungen jedoch selten auf.
Welche Diagnosen treten gerne zusammen beziehungsweise in Clustern auf? Chronischer Schmerz und Depression gehören in einem häufigen Cluster relativ eng zusammen. Die Depression wird hier meist erst spät oder zu spät erkannt, trägt aber wesentlich zur Einschränkung der Lebensqualität bei. Ein
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anderer Cluster ist das metabolische Syndrom mit abdominal betonter Adipositas, Hypertonie, Glukoseintoleranz oder Diabetes und Dyslipidämie. Dieses kann in Kombination mit einem anderen Cluster aus der kardiovaskulären Ecke, zum Beispiel mit koronarer Herzkrankheit, Vorhofflimmern oder Herzinsuffizienz, auftreten.
Ein Patient kommt wegen Dyspnoe zum Arzt. In seiner Krankengeschichte befindet sich ein kardiovaskulärer Cluster aus Hypertonie, koronarer Herzerkrankung und Linksherzinsuffizienz. Zusätzlich besteht eine exazerbierte COPD und ein Pleuraerguss mit Bronchuskarzinom. Wie ist die Herangehensweise, um der Dyspnoe auf die Spur zu kommen? Das ist eben komplex und manchmal nicht sauber auflösbar. Neben der Anamnese und der klinischen Untersuchung ist das BNP zwar ein sehr guter Hinweis für eine Herzinsuffizienz. Die vorhandene Herzinsuffizienz schliesst aber weitere Gründe für die Dyspnoe nicht aus. Ein maligner Pleuraerguss könnte ein weiterer Grund für die Dyspnoe sein. Der maligne Plauraerguss wie auch die Herzinsuffizienz können beide unabhängig voneinander Angst und in der Folge Dyspnoe auslösen. Der Patient hat als differenzialdiagnostische Herausforderung mehrere Probleme gleichzeitig.
Wie ist hier das differenzialdiagnostische Management? Das ist ganz schwierig. Aufgrund der Anamnese, der Laborbefunde und der Bildgebung kann man zwar ermitteln, was im Vordergrund steht, doch wird man hier alle die Dyspnoe verursachenden Erkrankungen angehen müssen. Das ist dann differenzialdiagnostisches Komplexmanagement.
Wo gibt es Fallgruben? Es lauern Denkfehler, die auf bestimmte Denkmuster zurückzuführen sind. Als Kardiologe denkt man hier als erstes an ein kardiales Problem und ignoriert vielleicht die Tatsache, dass der Pleuraerguss auch maligne sein könnte. Die Abnahme der Dyspnoe auf ein Diuretikum bei Herzinsuffizienz lässt uns vielleicht frühe und unvollständige Schlüsse ziehen. Oder der Patient fragt Sie, ob seine Kurzatmigkeit nicht vom Herz kommen könnte, und lenkt Sie damit in eine bestimmte Richtung. So etwas nennt man Ankerheuristik, ein Anker wird gesetzt – «könnte es nicht das Herz sein?» –, und schon ist unser Denken in eine andere Richtung blockiert. Dies führt häufig zu Fehlern. Unter Verfügbarkeitsheuristik versteht man dann, dass man nur in Kategorien denkt, die einem zur Verfügung stehen. Damit würde in unserem Fall die Diagnose Angst oder Depression als Folge der Krebserkrankung unter den Tisch fallen, weil die Abklärungstools vielleicht nicht vorhanden sind. Oder wir vergessen ein paraneoplastisches Syndrom, das ebenfalls zu Dyspnoe führen kann, weil wir uns schon mit den vorhandenen Diagnosen zufriedengeben und nicht systematisch nachdenken. Bei der Repräsentativheuristik lässt man sich durch Äusseres täuschen. Bei einem gut gekleideten Herrn mit luxuriösem Auto und forsch gewinnendem Auftreten denken wir vielleicht nicht an eine finanzielle Problematik, eine damit verbundene Depression und in der Folge Noncompliance mit den Medikamenten.
Wie lassen sich diese Denkfehler vermeiden? Wichtig ist, dass man nach einer ersten Phase des schnellen Denkens bei der Ursachensuche strukturiert in alle
Zur Person Prof. Dr. med. Edouard Battegay ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich. Er hat in Basel Medizin studiert und sich zum Internisten spezialisiert. In den USA forschte er auf dem Gebiet der Atherosklerose. Seine Interessengebiete sind Hypertonie, Multimorbidität und Differenzialdiagnostik.
Richtungen denkt. Man sollte sich auch immer fragen, was es noch sein könnte, was eine Aussage des Patienten für einen selbst bedeutet und welche vielleicht alternative Bedeutung sie für den Patienten haben könnte.
Sie haben kürzlich die 21., überarbeitete Auflage der «Differenzialdiagnose» herausgegeben, die die Tradition des «Siegenthalers» in neuer Form weiterführt. Was ist das Konzept dieses Buchs? Das zentrale Anliegen dieses Buchs ist es, eine logische Denkordnung für das wirklich komplexe Gebiet der Inneren Medizin zu schaffen. Ausgangslage ist das patientenzentrierte Symptom. Daraus entwickeln sich die Differenzialdiagnose und das differenzialdiagnostische Management. Zudem erfährt man etwas über die Diagnose. Das Buch enthält also nicht nur die Differenzialdiagnose, sondern auch symptombasiert eine ausgebaute systematische Nosologie. Das macht es zu einem All-in-one-Werk, das die Innere Medizin als Gesamtes in der ganzen Komplexität sauber abzudecken versucht.
Haben Bücher noch einen Stellenwert in der Medizin? Ein Buch erlaubt, Denkstrukturen zu entwickeln. In der sehr internetaffinen Gesellschaft ist das von innen heraus verfügbare, systematische Wissen im Rückzug begriffen, weil man glaubt, alles googeln zu können. Google spült aber bei der Eingabe von Dyspnoe lediglich das am häufigsten Abgerufene hoch. Die weniger häufigen und weniger vordergründigen Ursachen einer Dyspnoe wie Angst, Depression oder als sehr seltene Ursache eine amyotrophe Lateralsklerose kommen so nicht an die Oberfläche. Nichtwissen führt zu unstrukturiertem Vorgehen und letztlich zu Überforderung und Fehlern. Das ist nicht nur mit der Weltpolitik und Fake News so. Wir brauchen Denkstrukturen, um einfache oder komplexe Probleme angehen zu können. Das Differenzialdiagnosebuch gibt solche Denkstrukturen systematisch vor.
Merkt man der jungen Medizinergeneration an, dass sie überwiegend ab Bildschirm lernt? Ich merke das schon oder glaube es zu merken. Das Denken ist bei «Bücherlosen» fragmentiert und nicht mehr sauber strukturiert, die Leute haben kein Inhaltsverzeichnis oder eine Ordnungsstruktur im Kopf und sind in der scheinbar unstrukturierten Realität des medizinischen Alltags sehr schnell überfordert. Das Buch liefert hier wertvolle strukturelle Hilfestellung. Auch von der «Differenzialdiagnose» gibt es natürlich eine Webversion, die man beim Kauf des Buches automatisch miterwirbt.
Das Interview führte Valérie Herzog.
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