Transkript
ECCO
«Das Spektrum wird breiter»
Interview mit Gerhard Rogler
INTERVIEW
Neue Substanzen für die Behandlung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen ermöglichen immer individuellere Therapiemöglichkeiten. Allerdings sind verlässliche Prädiktoren bis heute nicht in Sicht. Ein Gespräch am Rand des ECCO in Barcelona mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Gerhard Rogler vom Universitätsspital Zürich über stärkere Risiko-Benefit-Abwägungen, ein sehr nützliches postoperatives Monitoring und die weltweit massive Zunahme der CED-Inzidenzen:
Gerhard Rogler
(Foto: KD)
Herr Professor Rogler, was gibts Neues hinsichtlich der Behandlung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen? Es wurden in diesem Jahr eigentlich keine völlig neuen Daten vorgestellt. Aber wir sehen für viele neu zu erwartende Substanzen eine gute Bestätigung. Das gilt für den IL-12/23-Hemmer Ustekinumab mit den Daten für die Erhaltungstherapie, und das gilt für den Januskinaseinhibitor Tofacitinib, bei dem wir jetzt sehen, dass die Remissionserhaltung funktioniert. Ausserdem gibt es einen neuen Integrinhemmer, allerdings noch ohne Zulassung für die Schweiz. Er scheint ebenso gut zu sein wie der zugelassene Integrinantagonist Vedolizumab. Weitere Integrinhemmer werden folgen. Dadurch wird das Spektrum insgesamt breiter.
Was heisst das konkret? Wir werden auf der ersten Stufe weiterhin 5-ASA-Produkte und topische Steroide einsetzen. Auf der zweiten Stufe kommen neben den beiden klassischen Immunsuppressiva Azathioprin und Methotrexat die «small molecules» hinzu, mit den JAK-Inhibitoren und den S1P-Rezeptor-Hemmern. Letztere zeigen sehr gute Daten und ein besseres Nebenwirkungsprofil als die klassischen Immunsuppressiva. Die Behandlung wird sicher etwas
Anti-IL12- oder einen Integrin-Antagonisten-Behandlung. Allerdings ist das Nebenwirkungsprofil dieser Substanzen doch sehr unterschiedlich. Also werden wir mehr Risiko-Benefit-Abwägungen vornehmen.
Das wird ja heute schon gemacht . . . Bei den Biologika ist das sicher so, da entscheiden wir je nach der Situation des Patienten. Vor vier Wochen hatten wir eine Patientin auf Station, die mit einer Colitis ulcerosa ein schweres Pyoderma gangraenosum mit grossflächigen Ulzerationen der Haut entwickelt hat. Die Kolitis war gar nicht so schlimm. Wir hätten da gut Vedolizumab für die Kolitis geben können. Da dieses aber spezifisch im Darm wirkt, ergab es in diesem Fall keinen Sinn. Die Patientin profitierte also mehr von einem TNF-Hemmer, da sie eine systemische Wirkung gebraucht hat. Hätten wir jetzt eine ältere Person mit einer nicht kontrollierten mässigen Colitis ulcerosa, die schon einmal ein Melanom hatte, wäre die Entscheidung eine ganz andere. Dann würden wir eine darmselektive Substanz einsetzen, um das Melanomrisiko nicht weiter zu erhöhen. Ausserdem ist man im Alter infektanfälliger, da würde ich sicher einen Integrinhemmer vorziehen. Solche Überlegungen sollten durch Daten belegt und bei unseren Einschätzungen berücksichtigt werden.
«Wir werden die ECCO-Guidelines praxisrelevanter und patientenbezo ener machen.»
teurer sein, aber wenn unsere Patienten dadurch Nebenwirkungen vermeiden können, werden sie froh über eine solche Option sein. Ausserdem schätzen die Leute orale Therapien viel mehr als intravenöse oder subkutane Injektionen. Ich bin mir sicher, dass diese neuen Substanzen kommen werden. Schliesslich sind auf der dritten Stufe die Biologika mit Infliximab, Adalimumab, Certolizumab pegol, Golimumab, Ustekinumab und Vedolizumab wichtige Pfeiler. Leider gibt es immer noch keine guten Prädiktoren, mit denen wir sagen können: Für diesen Patienten ist eine Anti-TNF-Therapie am wirksamsten und für jenen eine
Wird sich das in den Empfehlungen niederschlagen? Ja. Wir werden die ECCO-Guidelines praxisrelvanter und patientenbezogener machen. Wir wollen aus dem immer breiter werdenden Medikamentenspektrum empfehlen, welches Medikament in welcher Situation das ideale ist. Viele Evidenzen aus kontrollierten Studien sind für den Einzelnen limitiert. Unsere Patienten sind immer häufiger über 65 Jahre. Sie haben oft mit 30 oder 35 Jahren ihren Crohn oder ihre Kolitis entwickelt. Aber wir haben keinerlei Daten zu den eingesetzten Medikamenten für diese Gruppe. «Höheres Alter» war in den Studien fast immer ein Ausschlusskriterium.
Welche Rolle werden die Biosimilars spielen? Biosimilars werden ihren Weg machen. Sie haben bei Infliximab heute in Europa schon einen Marktanteil von 40 Prozent, beinahe die Hälfte der Verschreibungen ist
2 • CongressSelection Gastroenterologie • Juni 2017
ECCO
INTERVIEW
SCHWEIZ BEI ECCO STARK VERTRETEN
Obwohl die Schweiz im Vergleich zu Deutschland zehnmal weniger Gastroenterologen hat, ist sie in den ECCO-Gremien mit vier Vertretern stark repräsentiert. So ist Pascal Juillerat in der ECCO-Ausbildungs-Kommission «EduCom», Stephan Vavricka in der ECCOGuidelines-Kommission «GuiCom» und Michel Adamina in der Chirugie-Kommission «S-ECCO». Gerhard Rogler wurde in diesem Jahr in die ECCO-Leitung, das «Governing board», gewählt. KD
nicht mehr Remicade®. Bis heute profitieren in der Schweiz jedoch nur die Kassen vom Einsatz der Biosimilars. Wenn man den Patienten ihren Eigenanteil bei Verwendung von Biosimilars halbieren würde, wäre das sicher ein Anreiz, auf die preisgünstigere Alternative umzusteigen.
Bei gleicher Wirksamkeit? Wir haben jetzt wieder neue Daten für Inflectra® oder Remsima® gesehen, nach denen die Qualität des Antikörpers sehr gut ist. Hinsichtlich Wirksamkeit und Nebenwirkungen gibt es praktisch keine Unterschiede zu Remicade®. Allerdings wird es bald weitere Produkte geben, die sich vor allem in der Glykosylierung und Fucosylierung deutlicher vom Original unterscheiden. Da habe ich das Gefühl, dass man sich die Daten noch einmal genauer anschauen sollte. Es könnte durchaus sein, dass es da Wirkunterschiede gibt.
Zurück zur Prädiktion. Die Medikamentenspiegel geben ja durchaus Hinweise auf einen zukünftigen Therapieerfolg oder Misserfolg . . . Es bestätigt sich in verschiedenen Studien immer mehr, dass der Adalimumab-Talspiegel etwas über das Risiko eines Relapses nach einer Operation aussagt. Konkret:
«Die chronischen Darmentzündun en sind leider der Preis, den wir für unseren Lebensstil bezahlen.»
Wenn der Medikamentenspiegel niedrig ist, haben die Betroffenen postoperativ ein deutlich höheres Risiko für eine Wiederkehr der Erkrankung. Die belgischen Kollegen messen deshalb routinemässig den Spiegel ein- oder zweimal pro Jahr. Das haben wir in Zürich übernommen. Denn bei manchen Patienten können wir dadurch die Dosierung zurücknehmen. Bei anderen müssen wir etwas erhöhen, damit sich ein guter Spiegel einstellt.
Apropos Operation: Gemäss einem Vortrag am ECCO kann es durchaus Vorteile haben, wenn mit der OP nicht zu lange gewartet wird. Das sehe ich auch so. Wir versuchen bei unklaren Fällen herauszufinden, ob die Betroffenen beispielsweise an
einer Fibrose oder an einer Stenose leiden. Die neue Ultraschalltechnik hilft da sehr. Wenn man sicher ist, dass es sich um eine Fibrose handelt, sollte man operieren und nicht noch lange mit einem Biologikum experimentieren. Wenn meine Tochter einen limitierten Ileozökalbefall mit einer Fibrose hätte, würde ich vor einer Immunsuppression die OP erwägen. Es gibt Patienten, die nach einer Ileozökalresektion bei limitiertem Befall sehr lange keine Probleme mehr haben. Ein Leben lang Medikamente einzunehmen versus mindestens 10 bis 15 Jahre vielleicht auch länger keine Medikamente? Ich glaube, dass bei einem solchen Eingriff der Benefit grösser ist als das Risiko. Seit wir verbesserte postoperative Monitoringmöglichkeiten haben – mit Ultraschall, Calprotectinbestimmung und Endoskopie –, sind unsere Patienten in einer wesentlich besseren Position als früher. Wir führen dieses sehr wichtige Monitoring mit ihnen anfangs zweimonatig, dann vierteljährlich, dann halbjährlich und nach drei Jahren noch jährlich durch. So können wir diejenigen Patienten finden, die ein Frührezidiv entwickeln, und sie behandeln. Bei denjenigen, die keine Entzündung mehr aufweisen, müssen wir auch nicht behandeln. Durch dieses Anschlussmonitoring erscheint die Möglichkeit der OP in einem viel günstigeren Licht.
Müssen wir eigentlich mit einer weiteren Zunahme von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen rechnen? Ja, die Zahlen steigen immer noch an. Das gilt für die Schweiz wie auch für andere Länder. Dass nun ein Plateau erreicht sei, sehe ich nicht. Auch ausserhalb der westlichen Industrienationen ist diese Tendenz zu beobachten. Aus Südafrika wurde beispielsweise berichtet, dass dort derzeit die CED-Inzidenz massiv zunimmt. Während sich in der weissen Bevölkerung die Zahl der Erkrankten ähnlich stark erhöht wie bei uns, existieren in der schwarzen Bevölkerung fast keine CED-Erkrankungen. Was jedoch so bemerkenswert wie unverständlich ist: In der «colored population», also der Mischlingsbevölkerung, steigt die CED-Inzidenz fünfmal so stark an wie in der weissen Bevölkerung. Auch in Südostasien kannte man bis vor zehn Jahren dieses Thema nicht; und heute ist dort die CED ein echtes medizinisches Problem. Weltweit ist der Inzidenzanstieg dramatisch. Die Ursachen werden im «Western lifestyle» vermutet. So hat man neuerdings Emulgatoren identifiziert, die mit dem Essen aufgenommen werden und Morbus Crohn auslösen können. Das ist aber nur ein einzelner Umweltfaktor unter sehr vielen. Ich bezweifle, dass wir jemals den zentralen Faktor identifizieren, mit dessen Elimination die CED besiegt ist. Die chronischen Darmentzündungen sind leider der Preis, den wir für unseren Lebensstil bezahlen.
Das Interview führte Klaus Duffner
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