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Senioren mit Typ-2-Diabetes sind besonders gefährdet
Herausforderungen Hypoglykämie und Gebrechlichkeit
Ältere Diabetiker sind bei Hypoglykämien besonders gefährdet. So ändert sich im Alter zum Beispiel die körperliche Reaktion auf diese Ereignisse. Der Zustand wird zudem bei Senioren oft nicht erkannt oder fehlinterpretiert. Ausserdem können Unterzuckerungen zu kognitiven Einbussen führen, was wiederum das künftige Hypoglykämierisiko erhöht. Und: Das Abdriften älterer Zuckerkranker auf zu niedrige Glukosewerte ist weitverbreitet.
CAVE ! Dementen Menschen fällt es besonders schwer, Hypoglykämien zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.
«Unterzuckerungen bei alten Diabetespatienten sind ein wichtiges und unterschätztes Problem», betonte deshalb Prof. Brian M. Frier aus Edinburgh (GB). Tatsächlich sind die Ereignisse bei älteren Diabetikern nicht gerade selten. Dafür spricht eine englische Auswertung von Klinikdaten der Jahre 2005 bis 2014. Demnach nehmen unterzuckerungsbedingte Aufnahmen mit dem Alter massiv zu – in jeder Lebensdekade. Deutlich mehr als 3000 Fälle waren es allein unter den 80- bis 89-Jährigen im Jahr 2014.
Ursache Übertherapie?
Eine andere Analyse von mindestens 80 Jahre alten Typ2-Patienten (n = 591) ergab, dass 16,7 Prozent der Klinikeinweisungen aufgrund einer schweren Hypoglykämie erfolgten (Abbildung). Von diesen Senioren war jeder zweite dement. Ebenso viele litten an einer Niereninsuffizienz, die ja oft eine Dosisreduktion verschiedener Antidiabetika erfordert, um Unterzuckerungen vorzubeugen. Die Senioren wiesen im Mittel HbA1c-Werte von nur 5,9 Prozent auf, und unter den eingesetzten Sulfonyl-
harnstoffen war Glibenclamid am häufigsten. «Das spricht für eine Übertherapie», folgerte der Diabetologe. Zur Bedeutung von sulfonylharnstoffinduzierten Hypoglykämien liegen unter anderem Daten von Typ-2-Diabetikern einer deutschen Klinik über zehn Jahre vor. Hier traten 109 dieser Ereignisse bei Patienten zwischen 70 und 99 Jahren auf. Die häufigsten Risikofaktoren, die in den insgesamt 139 schweren sulfonylharnstoffbedingten Fällen vorlagen, waren ein Alter von mehr als 70 Jahren (bei ca. 80%), eine Polypharmazie mit mehr als vier Medikamenten und eine Niereninsuffizienz bei jeweils mehr als 70 Prozent sowie eine Herzinsuffizienz bei jedem Zweiten. Generell ist bei alten Patienten die Therapie oft nicht an ihre Situation angepasst, wie Frier erklärte. In der Studie VETERANS AFFAIRS etwa hatte jeder zweite Patient mit Diabetes plus Demenz eine strenge Stoffwechseleinstellung mit einem HbA1c unter 7 Prozent – oft mit Insulin, einem Sulfonylharnstoff oder mit beidem. Das kann riskant werden: Dementen Menschen fällt es besonders schwer, Hypoglykämien zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.
KLINIKEINWEISUNGEN BEI ÄLTEREN TYP-2-DIABETIKERN 50
40 39%
Patienten (%)
30
20
16,7%
16,6%
10
0
dekompensierter Diabetes
schwere
chronische
Hypoglykämie Diabeteskomplikationen
Abbildung: Schwere Hypoglykämien waren in dieser Untersuchung der zweithäufigste Grund für Klinikeinweisungen von Typ-2-Diabetikern ≥ 80 Jahren in einer italienischen Klinik. (Quelle: Vortrag Frier)
Hypoglykämien im Alter: oft unerkannt
Die Reaktion des Körpers auf Unterzuckerungen ändert sich mit dem Alter. Das gilt auch für Nichtdiabetiker, wie ein Vergleich von Personen zeigt, die im Mittel 65 beziehungsweise 24 Jahre alt waren: Die gegenregulatorische Adrenalin- und Glucagonantwort auf eine durch Glukoseclamp herbeigeführte moderate Hypoglykämie (59,5 mg/dl) fiel in der Gruppe der Älteren etwas niedriger aus. Dementsprechend entwickelten männliche Typ-2-Patienten, deren Blutzuckerwerte 30 Minuten lang auf 50 mg/dl abgesenkt wurden, in der jüngeren Gruppe (mittleres Alter: 51 Jahre) deutliche Hypoglykämiesymptome, während die Reaktion in der älteren Gruppe (Mittel: 70 Jahre) minimal war. Das betraf autonome Symptome wie Schwitzen und Hunger ebenso wie neuroglykopenische Beschwerden (z.B. Sehstörungen, Konzentrationsprobleme, Kribbeln und Schwindel). Insgesamt dominieren bei alten Patienten oft Störungen von Koordination, Gleichgewicht und Visus. Nicht selten bringen dann Verwandte, Freunde und die Patienten selbst solche und ähnliche Symptome, etwa Verwirrtheit, nicht mit Diabetes
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und einer Hypoglykämie in Verbindung, sondern interpre- riger Insulintherapie eine ähnliche Jahresprävalenz wie tieren sie fälschlicherweise zum Beispiel als Demenz, als Typ-1-Patienten nach weniger als 5 Jahren. Besonders
transitorische ischämische Attacke oder als psychiatrische hoch ist die Gefahr bei sehr straffer Stoffwechseleinstel-
Erkrankung. Viele Unterzuckerungen älterer Patienten würden deshalb nicht erkannt, gab Frier zu bedenken.
Folgen
lung mit niedrig-normalem HbA1c sowie bei sehr schlechter glykämischer Kontrolle mit hohem HbA1c. Letzteres könnte eine Folge von Blutzuckerwerte-Chaos sein.
Dabei können die Tiefstwerte bei
«älteren Menschen verschiedene Sys-
teme beeinflussen und schwere Fol-
Wenn Sie ebrechlich sind, sinkt Ihre Überlebens-
gen bis hin zum Tod haben. Unterzu- pro nose dramatisch.»
(Alan Sinclair)
ckerungen sind bei Patienten über
65 Jahren beispielsweise mit Stür-
zen und Frakturen assoziiert. Kardiovaskulär drohen Ar-
rhythmien und Infarkt. Schwere Hypoglykämien können Fokus auf Gebrechlichkeit und Mobilität
unter anderem zu Krampf- und Schlaganfällen führen. Diabetessenioren tragen ohnehin ein erhöhtes Risiko für
Darüber hinaus ergaben Studien für Typ-2-Diabetes eine körperliche Beeinträchtigungen, die ihre Unabhängigkeit
zunehmende Assoziation der Zahl schwerer Ereignisse im Alltag gefährden. Prof. Alan Sinclair aus Aston (GB)
mit der Abnahme kognitiver Fähigkeiten.
Warum sind Hypoglykämien bei Senioren so verbreitet?
von der Foundation for Diabetes Research in older People legt seinen Fokus bei den älteren Patienten auf Gebrechlichkeit («Frailty»). Denn abgesehen von Geschlecht und Alter, so Sinclair, ist der wichtigste Grund, der bei Diabe-
Erschwerend kommt hinzu, dass Hypoglykämiesym- tikern ab etwa 70 Jahren das Outcome beeinflusst, weder
ptome im Alter offenbar später beziehungsweise verspä- Blutzuckerhöhe noch vaskuläre Komplikationen: «Es ist
tet auftreten können. Eine Untersuchung ermittelte bei die Frage, ob jemand gebrechlich ist oder nicht!» Aufgabe
22 bis 26 Jahre alten Nicht-Diabetikern einen Symptom- des Arztes ist es deshalb auch, Gebrechlichkeit zu verhin-
beginn bei rund 65 mg/dl; kognitive Einschränkungen dern. Dabei kann unter anderem Bewegungstraining hel-
traten aber erst bei etwa 47 mg/dl auf, sodass für Gegen- fen, das darüber hinaus auch die Insulinsensitivität vermassnahmen in der Regel ein relativ grosses Zeitfenster bessert.
besteht. 60- bis 70-Jährige dagegen entwickelten erst ab Dem Erhalt des funktionellen Status komme die gleiche etwa 54 mg/dl Symptome, während aber gleichzeitig die Bedeutung zu wie der Glukosekontrolle, betonte er. Denn
Schwelle für kognitive Probleme viel näher an ihren der Patient will unabhängig und mobil bleiben. Hierfür
Symptomstartwert heranrückte. Zum Reagieren bleibt muss der Arzt Funktion, Gebrechlichkeit und Behinde-
ihnen kaum Zeit: Ein Effekt des Alters, so Frier.
rungen seines Patienten rasch einschätzen. So liegt ein
Beim Typ-2-Diabetes spielt die Therapie eine Rolle. Mit Frailty-Syndrom vor, wenn von den Faktoren Gewichts-
Diät und oralen Antidiabetika gut eingestellte Patienten verlust, geringe Griffstärke, Erschöpfung, wenig Bewe-
wiesen gemäss Daten für autonome Symptome und die gung und niedriges Gehtempo mindestens drei Punkte meisten gegenregulatorischen Hormone sogar etwas zutreffen. Das ist ungünstig, denn Gebrechlichkeit bedeu-
höhere Glukoseschwellen auf als Nichtdiabetiker und tet für den Betroffenen ein signifikant erhöhtes Risiko für Typ-1-Patienten, sagte der Experte. Das könnte ein frü- Stürze, abnehmende Mobilität und Tod. Die Mobilität ist
heres Erkennen erlauben und einen gewissen Schutz vor ein Schlüsselfaktor für die Einschätzung des Patienten:
schweren Hypoglykämien bieten.
Sie markiert bei Senioren den Gesundheits- und funktio-
Mit dem Wechsel zur Insulintherapie aber sank diese nellen Status und damit wichtige Aspekte der Langzeit-
Schwelle auf 54 mg/dl. Passend dazu ermittelte eine Stu- prognose.
die für insulinisierte Typ-2-Patienten eine stark abge- Insgesamt zähle Frailty zu den Faktoren, die beim Fest-
schwächte gegenregulatorische Adrenalin- und Gluca- legen der Therapieziele berücksichtigt werden sollten, gonantwort: Im Vergleich zu Patienten mit oraler erklärte Sinclair. Nicht zuletzt sollten Ärzte aber auch
Therapie und zu Nicht-Diabetikern erreichte sie nur etwa verstehen, was ihr Patient selbst unter Lebensqualität die halbe Höhe. Das ist ein ähnlicher Rückgang wie bei versteht, und prüfen, ob ihre Therapie dazu beiträgt.
Typ-1-Patienten, die ebenfalls Insulin erhalten. Dazu passt, dass das Risiko für schwere Unterzuckerun-
Helga Brettschneider
gen unter Insulin laut der «UK-Hypoglycaemia»-Studie Quelle: Symposium «Diabetes management in ageing individuals» im
mit der Therapiedauer zunimmt. Das gilt für Typ-1- und Rahmen der 52. Jahrestagung der European Association for the Study
Typ-2-Patienten. Letztere erreichten nach mehr als 5-jäh- of Diabetes (EASD), 15. September 2016 in München.
Frailty-Syndrom … … liegt vor, wenn mindestens 3 der folgenden Punkte zutreffen: • Gewichtsverlust • geringe Griffstärke • Erschöpfung • wenig Bewegung • niedriges Gehtempo
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