Transkript
SGK
Orale Antikoagulation und duale Plättcheninhibition – ein Update
Real-Life-Daten konsistent mit Ergebnissen der Zulassungsstudien
Mit dem Antikörper Idarucizumab ist das erste spezifische Antidot gegen ein NOAK erhältlich. Bei der dualen Plättcheninhibition wurden vor allem die Behandlung vor der Stentimplantation und die Behandlungsdauer nach der Intervention am SGK-Kongress diskutiert.
Verglichen mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) führt die Behandlung mit den neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) bei Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern (VHF) zu einem Mortalitätsbenefit. Basierend auf diesen Studienergebnissen empfiehlt die European Society of Cardiology in ihren Leitlinien von 2012, NOAK als Standardtherapie zur Schlaganfallprophylaxe bei diesen Patienten einzusetzen (1). Nach den randomisierten, klinischen Studien, die zur Zulassung des direkten Thrombin-Inhibitors Dabigatran und der direkten Faktor-Xa-Inhibitoren Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban geführt haben, sind nun zunehmend auch Real-Life-Daten verfügbar. «Diese geben uns Hinweise, ob bei einer Behandlung unter Alltagsbedingungen Probleme auftreten, die wir in den Studien nicht gesehen haben», sagte PD Dr. Jan Steffel vom Universitären Herzzentrum in Zürich an der gemeinsamen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaften für Kardiologie, Herz- und thorakale Gefässchirurgie und Pneumologie in Lausanne.
Real-Life-Daten verschiedener NOAK
Die ersten Real-Life-Daten stammen aus einer Analyse der FDA von Medicare-Daten zur Behandlung mit Dabigatran (75 mg/150 mg) und zeigen eine konsistente Reduktion von ischämischen Schlaganfällen, intrakraniellen Blutungen sowie der Mortalität, jedoch eine höhere Rate an gastrointestinalen Blutungen im Vergleich zu VKA – ähnlich wie zuvor in der Zulassungsstudie (2). Eine konsistente Reduktion von thromboembolischen Ereignissen und/oder Blutungen wurde auch in der XANTUS-Studie, einer prospektiven Untersuchung mit Rivaroxaban, der REVISIT-US-Studie ebenfalls mit Rivaroxaban und den Market-Scan-Daten zu Apixaban gezeigt (3). «Anhand dieser Daten lässt sich sagen, dass es bis jetzt keine Anzeichen dafür gibt, dass die Beobachtungen aus den klinischen Studien unter Alltagsbedingungen nicht zutreffen», so fasste Steffel die Ergebnisse zusammen.
Erstes Antidot verfügbar
Zur Stratifizierung des Schlaganfall- und Blutungsrisikos empfehlen die ESC-Leitlinien den CHA2DS2-VASc- beziehungsweise den HAS-BLED-Score. Die Scoringsysteme haben jedoch auch ihre Tücken, unter anderem weil Patienten mit einem hohen Blutungsrisiko häufig auch ein erhöhtes Schlaganfallrisiko aufweisen. Die alleinige Ver-
wendung des HAS-BLED-Scores kann deshalb dazu führen, dass Patienten mit einem hohen Punktwert die Behandlung mit oralen Antikoagulanzien vorenthalten wird. Eine dänische Studie zeigt nun, dass die Vorteile (Net Clinical Benefit) der antikoagulatorischen Therapie mit NOAK oder VKA bei Patienten mit einem hohen HASBLED-Score (≥ 3) und einem hohen CHA2DS2-VASc-Score (2–9) die Risiken überwiegen (4). «Der HAS-BLED-Score ist vor allem auch dazu gedacht, uns aufzuzeigen, welche Risikofaktoren modifiziert werden können, um das Blutungsrisiko zu reduzieren», so Steffel. Als alleiniges Ausschlusskriterium für die Behandlung mit Antikoagulanzien sei er aber ungeeignet und sollte so nicht verwendet werden. Für den Fall einer lebensbedrohlichen oder nicht beherrschbaren Blutung sowie dringender Eingriffe steht seit Kurzem ein spezifisches Antidot gegen den direkten Prothrombin-Inhibitor Dabigatran zur Verfügung. Die Verabreichung des Antikörpers Idarucizumab führte in der REVERSE-AD-Studie innerhalb von Minuten zur Normalisierung der Gerinnung (5). Voraussichtlich bis Mitte oder Ende nächsten Jahres wird mit dem rekombinanten Protein Andexanet alfa zudem ein Antidot gegen die Faktor-Xa-Inhibitoren erhältlich sein.
Welche Patienten profitieren von einem Vorhofohrverschluss?
Für Patienten mit nicht valvulärem VHF, bei denen Antikoagulanzien kontraindiziert sind, könnte der Vorhofohrverschluss (Left Atrial Appendage Occlusion, LAAO) eine Option sein. In der PROTECT-AF Studie mit zirka 700 Patienten und einem Follow-up von mehr als 4 Jahren führte der mechanische LAAO zu einem Mortalitätsbenefit gegenüber der oralen Antikoagulation mit Warfarin (6). Dieser war vor allem auf eine Abnahme hämorrhagischer Schlaganfälle zurückzuführen, während sich die Häufigkeit ischämischer Schlaganfälle kaum unterschied. Ein vergleichbarer Trend zeigte sich in der PREVAIL-Studie, die von der FDA für die Zulassung des mechanischen Devices «Watchman» verlangt wurde (7). «Diese Ergebnisse zeigen uns, dass das Vorhofohr eine wichtige Quelle für einen Schlaganfall im Rahmen von Vorhofflimmern darstellt, es aber darüber hinaus noch andere Ursachen gibt», sagte Steffel. Entsprechend müsse ein VHF als systemische Erkrankung betrachtet und behandelt werden.
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SGK
Duale Plättcheninhibition vor der Stentimplantation – oder nicht?
Eine duale Plättcheninhibition (DPI) mit ASS und P2Y12Inhibitoren wird zur Vorbereitung auf die Stentimplantation bei ST- und Nicht-ST-Hebungsinfarkt (STEMI, NSTEMI), zum Schutz vor einem Stentverschluss nach der Implantation und langfristig im Rahmen der sekundären Prävention diskutiert. Das Risiko einer Stentthrombose ist in den ersten Stunden nach der perkutanen Koronarintervention (PCI) am grössten. «Entsprechend attraktiv scheint die Idee, bereits vor der Intervention mit der DPI zu starten», sagte PD Dr. Giovanni Pedrazzini vom Cardiocentro Ticino, Lugano. Verschiedene Studien haben eine Vorbehandlung mit DPI bei NSTEMI untersucht. Wie in der ACCOAST-Studie gezeigt wurde, hatte die Vorbehandlung mit Prasugrel keinen Einfluss auf die ischämischen Ereignisse oder die Gesamtmortalität, verglichen mit der Behandlung zum Zeitpunkt der Intervention (8). Dagegen konnte bei den vorbehandelten Patienten eine Zunahme von Blutungen beobachtet werden. «Aufgrund dieser Ergebnisse kann eine Vorbehandlung mit DPI bei NSTEMI-Patienten nicht empfohlen werden», sagte Pedrazzini. P2Y12-Inhibitoren mit einem schnellen Wirkungseintritt wie Prasugrel oder Ticagrelor sollten erst dann verabreicht werden, wenn die Koronaranatomie bekannt sei und die PCI kurz bevorstehe. Als Referenzstudie für eine Vorbehandlung mit DPI bei Patienten mit STEMI gilt die ATLANTIC-Studie (9). Diese zeigte, dass die koronare Perfusion vor der Intervention (primärer Endpunkt) durch eine frühzeitige Behandlung mit Ticagrelor (auf dem Weg in das Spital), verglichen mit der Verabreichung im Katheterlabor, nicht verbessert werden konnte. Allerdings konnte die Häufigkeit primärer Stentthrombosen 30 Tage nach PCI durch die frühzeitige DPI reduziert werden. «Das bringt uns zu der Idee zurück, die Gefässe mittels DPI auf die Stentimplantation vorzubereiten», sagte Pedrazzini. Er empfahl die Vorbehandlung mit Prasugrel oder Ticagrelor unter der Voraussetzung, dass der STEMI bestätigt ist und sich der Patient auf direktem Weg zur PCI befindet – nicht aber als Routinetherapie.
Bei der Langzeitbehandlung mit DPI ist Vorsicht geboten
Was die Länge der DPI nach Stentimplantation betrifft, so existieren zwischen den amerikanischen und europäischen Behandlungsempfehlungen erhebliche Unterschiede (Tabelle) (10, 11). Studien, die die DPI über verschiedene Zeiträume untersucht haben, kommen zu dem Ergebnis, dass der «Net Clinical Benefit» einer 6-monatigen DPI grösser ist, als der einer 12-monatigen Behandlung. «Der ideale Behandlungszeitraum für die DPI beträgt zwischen 6 und 12 Monaten», so Pedrazzini. «Bei stabiler KHK sind 6 Monate in der Regel ausreichend, während die Behandlung bei einem akuten Koronarsyndrom zirka 9 bis 12 Monate betragen sollte.» Viel diskutiert wird auch die Frage, wer von einer mehr als 12-monatigen DPI profitiert. «Die Ergebnisse der DAPT-Studie haben uns gezeigt, dass wir mit der Langzeitbehandlung vorsichtig sein müssen», so der Kardiologe. Diese zeigten eine deutliche Reduktion grosser kardiovaskulärer (CV) Ereignisse und Stentthrombosen, aber auch eine Zunahme von moderaten oder schweren Blutungen unter der 30-monatigen Behandlung mit DPI (12). Mit den Ergebnissen der PEGASUS-Studie habe sich nun ein Fenster für die Langzeitbehandlung von Hochri-
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ACC/AHA- UND ESC-LEITLINIEN IM VERGLEICH
akutes Koronarsyndrom stabile KHK unbeschichtete Stents Sekundärprävention
ASS
USA mindestens 12 Monate
12 Monate 1 bis 12 Monate kann in Betracht gezogen
werden langfristig
EU bis zu 12 Monate
6 Monate 1 Monat für ausgewählte Patienten mit hohem Risiko langfristig
Die Dauer einer dualen Plättcheninhibition variiert je nach Indikation und Leitlinien.
sikopatienten mit geringer Blutungsneigung geöffnet. Sie hatte gezeigt, dass die Langzeitbehandlung mit Ticagrelor (60 mg oder 90 mg je 2-mal täglich) die Häufigkeit von CV-bedingten Todesfällen, Myokardinfarkt und Schlaganfall (primärer Endpunkt) im Vergleich zu Plazebo signifikant reduzierte (HR = 0,85; p = 0,008 resp. HR = 0,84; p = 0,004) (13). Auch die Häufigkeit grosser Blutungen war gemäss den Kriterien TIMI (Thrombolysis in Myocardial Infarction) unter beiden Dosierungen deutlich erhöht. Die Anzahl intrakranieller und fataler Blutungen, die unter der niedrigeren Dosis Ticagrelor und Plazebo beobachtet wurden, unterschied sich dagegen nur geringfügig voneinander.
Umgang mit DPI vor der koronaren Bypassoperation
Schätzungsweise 10 Prozent der Patienten, bei denen neu ein NSTEMI diagnostiziert wird und die eine DPI erhalten, benötigen eine koronare Bypassoperation (Coronary Artery Bypass Grafting, CABG). Eine 2014 publizierte Expertenposition zum Management der DPI vor CBAG ergänzt die Empfehlungen der aktuellen ESC-Leitlinien von 2015 zum Management von NSTEMI-Patienten (14, 15). Das Expertengremium empfiehlt, die Behandlung mit ASS (75–160 mg) bei Patienten mit niedrigem Blutungsrisiko fortzusetzen. Ist das Blutungsrisiko erhöht oder lehnen die Patienten einen Blutersatz ab, sollte die Behandlung 3 bis 5 Tage vor der Operation sistiert werden. Die beiden P2Y12-Inhibitoren Clopidogrel und Ticagrelor sollten 5 Tage, Prasugrel 7 Tage vor der Operation gestoppt werden. Bei Hochrisikopatienten weist das Positionspapier auf die Möglichkeit des Bridgings mit Cangrelor oder GPIIb/IIIa hin und schlägt ein entsprechendes Therapieschema vor. Dr. Serban Puricel vom Universitätsspital in Fribourg wies darauf hin, dass die Empfehlung zum Bridging auf Studien mit wenigen Patienten basiert. «Die Methode sollte daher mit Vorsicht eingesetzt werden.»
Regina Scharf
Referenzen: 1. Camm AJ et al.: 2012 focused update of the ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation: an update of the 2010 ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation. Developed with the special contribution of the European Heart Rhythm Association. Eur Heart J. 2012; 33(21): 2719–2747. 2. www.fda.gov/drugs/drugsafety/ucm396470.htm, publiziert am 13.05.2014. 3. Camm AJ et al.: XANTUS: a real-world, prospective, observational study of patients treated with rivaroxaban for stroke prevention in atrial fibrillation. Eur Heart J. 2016; 37(14):1145–1153. 4. Banerjee A et al.: Net clinical benefit of new oral anticoagulants (dabigatran, rivaroxaban, apixaban) versus no treatment in a «real world» atrial fibrillation population: a modelling analysis based on a nationwide cohort study. Thromb Haemost. 2012; 107(3): 584–589. 5. Pollack CV Jr et al.: Idarucizumab for Dabigatran Reversal. N Engl J Med. 2015; 373(6): 511–520. 6. Reddy VY et al.: Percutaneous left atrial appendage closure vs warfarin for atrial fibrillation: a randomized clinical trial. JAMA 2014; 312(19): 1988–1998. 7. Waksman R, Pendyala LK. Overview of the Food and Drug Administration circulatory system devices panel meetings on WATCHMAN left atrial appendage closure therapy. Am J Cardiol. 2015; 115(3): 378–384. 8. Montalescot G et al.: Effect of prasugrel pre-treatment strategy in patients undergoing percutaneous coronary intervention for NSTEMI: the ACCOAST-PCI study. J Am Coll Cardiol. 2014; 64(24): 2563–2571. 9. Montalescot G et al.: Prehospital ticagrelor in ST-segment elevation myocardial infarction. N Engl J Med. 2014; 371(11): 1016–1027. 10. Kolh P, Windecker S. ESC/EACTS myocardial revascularization guidelines 2014. Eur Heart J. 2012; 33 (21): 2719–2747. 11. Levine GN et al.: 2016 ACC/AHA Guideline Focused Update on Duration of Dual Antiplatelet Therapy in Patients With Coronary Artery Disease: A Report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. J Am Coll Cardiol. 2016. doi: 10.1016/j.jacc.2016.03.513 12. Mauri L et al.: Twelve or 30 months of dual antiplatelet therapy after drug-eluting stents. N Engl J Med. 2014; 371(23): 2155–2166. 13. Bonaca MP et al.: Long-term use of ticagrelor in patients with prior myocardial infarction. N Engl J Med. 2015; 372(19): 1791–1800. 14. Sousa-Uva M et al.: Expert position paper on the management of antiplatelet therapy in patients undergoing coronary artery bypass graft surgery. Eur Heart J. 2014; 35(23): 1510–1514. 15. Roffi M et al.: 2015 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation: Task Force for the Management of Acute Coronary Syndromes in Patients Presenting without Persistent ST-Segment Elevation of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J. 2016; 37(3): 267–315.
Quelle: «NOACs and antiplatelet therapy – Update 2016», Vortrag an der gemeinsamen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaften für Kardiologie (SGK), Herz- und thorakale Gefässchirurgie (SGHC) und Pneumologie (SGP) 2016, 17. Juni 2016 in Lausanne.
Take Home Messa es
® NOAK sind die Standardtherapie zur Schlaganfallprophylaxe bei nicht valvulärem
Vorhofflimmern.
® Eine Vorbehandlung mit dualer Plättcheninhibition bei STEMI ist nur unter be-
stimmten Bedingungen empfohlen.
® Bei NSTEMI kann keine Vorbehandlung mit dualer Plättcheninhibition empfohlen
werden.
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